Donnerstag, 25. April 2024

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Neue Musik
Hans Werner Henze - "heliogabalus imperator"

Irisierende Holzbläser, Streicherklänge, ein sanfter Schwall von Harfen - diatonische Wellenbewegungen betören die Sinne. Und das irritiert. Aber Hans Werner Henze komponierte auch anders, wie eine neue CD mit dem BBC Symphony Orchestra unter Oliver Knussen eindrücklich darstellt.

Am Mikrofon: Stefan Amzoll | 04.08.2019
    Hans Werner Henze sitzt am Klavier und richtet seinen Blick nach vorne
    Hans Werner Henze dachte durchaus vom Klavier aus (japan_art_association)
    Musik: Hans Werner Henze - "Los Capricios" (Ausschnitt) - BBC Symphony Orchestra. Leitung: Oliver Knussen
    Wo bin ich? Wo befinden wir uns? In der Gegenwart oder nahe an Richard Strauss oder Claude Debussy? Diese Musik aus den "Los Caprichios" stammt von Hans Werner Henze. Sie ist alt nach den Maßstäben der Jugend. Henze komponierte sie 1963, der Komponist war 37 Jahre alt, eine hohe Begabung - sie stand noch nicht im Zenit. Henzes radikale revolutionäre Werke wie "Versuch über Schweine", "El Cimarron" oder die 7. Sinfonie standen noch in der Ferne; Werke, die den Schmutz aufwirbelten und in Klang übersetzten, was die Menschen nicht zu sich selber kommen ließ und woraus sie sich lösen sollten. Anders die Aufnahmen des Labels Wergo mit Orchesterwerken, die ich Ihnen heute vorstellen will.
    Musik: Hans Werner Henze - "Tango" (Ausschnitt) aus "Englische Liebeslieder" - Anssi Karttunen, Violoncello. BBC SO. Ltg.: Oliver Knussen
    Die neu erschienene Platte versammelt vier Orchesterstücke, eines davon ist solistisch konzipiert. Sie entstanden zwischen 1963 bis 2012. Das Erstaunliche: So sehr unterscheiden sich die Stücke kompositionstechnisch, stilistisch usw. nicht voneinander, obwohl sie doch zeitlich so weit auseinanderliegen. Eingespielt hat die Aufnahmen der Komponist und Dirigent Oliver Knussen mit dem BBC Symphony Orchestra in 2012, dem Sterbejahr des Komponisten. Bei dem dritten Stück, den Englischen Liebesliedern, einer Konzertmusik, ist der Solocellist Anssi Karttunen mit von der Partie.
    Dokument einer Künstlerfreundschaft
    Vorweg ein Lob auf das Label Wergo. Seit Jahrzehnten auf zeitgenössische Musik spezialisiert, hat es kontinuierlich auch bei der Verbreitung von Henze-Werken mitgewirkt. Über längere Fristen sind an die 20 Platten in hochwertigen Einspielungen auf den Markt gekommen. Fast schon eine Chronik, denn die kompletten Sinfonien liegen unterdes vor, sodann Ensemblemusiken, die "Hommages". Auch die "Drei sinfonischen Etüden", "Nachtstücke und Arien" und vielerlei Kammermusik können abgerufen werden. Die jüngste Wergo-Produktion trägt den Titel "Heliogabalus Imperator", benannt nach dem mittleren Stück der Platte.
    Musik: Hans Werner Henze - "Heliogabalus Imperator" (Ausschnitt) - BBC SO. Ltg.: Oliver Knussen
    Die Protagnisten der Platte Hans Werner Henze und Oliver Knussen waren befreundet gewesen und arbeiteten zeitweilig eng zusammen. Nicht von ungefähr widmete Henze dem Künstler mehrere Passagen in seiner Selbstbiografie "Reiselieder mit Böhmischen Quinten" - autobiografische Mitteilungen von 1926 bis 1995. Er nannte den Musiker den "großen Knussen". Zu recht, denn die Einspielungen unter dem schottischen Künstler kann man nur als meisterlich bezeichnen. Das ist ja das Schöne an solchen Partnerschaften: Der eine lernt vom anderen, und es stimmen plötzlich die dualen Beziehungen von Komposition und Umsetzung bis ins Detail hinein. Oliver Knussen stammt aus Schottland und starb 2018 im Alter von nur 66 Jahren.
    Gut auch das Schlussstück der Platte: Die "Ouvertüre zu einem Theater" für Orchester von 2012 - eines der letzten Stücke, das der Komponist der Nachwelt überliefert hat. Nach Art des US-Amerikaners Charles Ives weiß die Ouvertüre kurzzeitig symphonische Spielweisen mit populären Sounds des Jahrmarkts zu verbinden. Aus dunklem Untergrund rückt eine Partie aus Pauken und Kontrabässen gleichsam auf Bühne und integriert sich dem tänzerischen Geschehen. - Für ein Spätwerk reißt das freilich nicht vom Stuhl.
    Musik: Hans Werner Henze - "Ouvertüre zu einem Theater" (Ausschnitt) - BBC SO. Ltg.: Oliver Knussen
    Die Platte ist viergeteilt. Vorn stehen die erwähnten, 1963 entstandenen "Los Caprichos" nach Radierungen von Francisco de Goya. Das Werk kam 1967 in Duisburg mit dem Kölner RSO unter Christoph von Dohnányi zur Uraufführung. Henze untertitelte das neunteilige Stück mit "Fantasia per Orchestra".
    Erfasst von Goya
    Die Stücke sind wie alle anderen auf der Platte textlos, sie besitzen aber einen starken bildlichen Hintergrund. Denn Goyas Radierungen sprechen Extremlagen des menschlichen Mit- und Gegeneinanders an. Sie sind bissige Satiren auf existentielle Schieflagen, werfen Schatten auf soziale und politische Missstände, auf Fehlleistungen von Adel, Justiz und Klerus. Die schraffierten Figuren sind häufig maskiert und agieren vor schwarzen Hintergrund.
    Goya sticht zugleich hinein in grausam ausgelebte Triebe der Menschen, ihre Laster und Schwächen. Zentral ist die Mann-Frau-Beziehung, gepaart mit Gewaltdarstellungen. Grell erscheint die Ehefrau, die Mätresse, die Prostituierte, die Putzfrau an männlicher Kandarre. Was könnte einen Komponisten vom Schlage Henzes mehr reizen, als derlei in Klang zu setzen? In dem ersten Stück "Keiner kennt sich selbst" geht es noch harmlos zu. Der Romantik entlehnte, subtil formulierte Klangbilder zeichnen die Szenerie.
    Musik: Hans Werner Henze - "Keiner kennt sich selbst" aus "Los Caprichos - BBC SO. Ltg.: Oliver Knussen
    Einen scharfen Kontrast, der das Formgebilde zerteilt, entbietet hingegen die Nr. 8 unter der Überschrift "Es gab keinen Ausweg".
    Musik: Hans Werner Henze - "Es gab keinen Ausweg" aus "Los Caprichos - BBC SO. Ltg.: Oliver Knussen
    Gelegenheiten, sich Goyas Produktion der Radierungen und Gemälden kompositorisch zu nähern, gibt es unzählige. Henze hat davon leider viel zu wenig Gebrauch gemacht. Inspirationsquelle mag allein das Fliegen bei Goya sein. Zahllose Bilder haben eine Schleuderwirkung, wie jeder versteht, eine eminent musikalische Eigenschaft. Ein Werk heißt "Fliegende Menschen" - an große Schwingen geheftet, segelt eine Gruppe in Formation durch die Atmosphäre. In unmöglichster Lage.
    Gegen den Schlaf der Vernunft
    "Die Gesellschaft auf morschem Ast", ein Werk, das frieren macht. Im "Flug der Hexen" - es sind eigentlich Männer mit Spitzhauben - wirbeln die Figuren in der Luft, während Schraffuren von Angst und Tod den unteren Bildrand prägen. "Der Hampelmann" - er turnt herum in allen Goya-Bildbänden - ist vielleicht das musikträchtigste Bild des Spaniers. Es zeigt die Macht der Frauen über die Männer. Vier Adelsfrauen spannen eine Decke zum Trampolin und schleudern zu ihrem Vergnügen einen bezopften, angsterfüllten Jüngling durch die Luft.
    Schwung ist in solchen Arbeiten, kompositorischer Schwung. Von den neun Radierungen, die Henze komponierte, ist eine von besonderer Relevanz: "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer". Das Stück dauert 90 Sekunden und ist das radikalste unter allen anderen. Mit burlesken, impressionistischen Ausmalungen hat es nichts zu tun.
    Musik: Hans Werner Henze - "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer" (Asschnitt) aus "Los Caprichos - BBC SO. Ltg.: Oliver Knussen
    Es gibt mehrere Versionen oder Vorformen der Arbeit, eine aufschlussreicher als die andere. Der Titel ist nicht ganz klar. Für "Schlaf" wird oft "Traum" geschrieben. Aber "Schlaf" ist genauer: Die Vernunft schläft, sie ist ihrer vollen Sinne, ihrer vollen Rationalität beraubt. Was den Ungeheuern hinter dem Rücken des am Tisch schlafenden Künstlers Entfaltung schafft. Eine heulende Fratze, grausige Fledermäuse, ein deformierter Hund und dergleichen türmen sich hinter ihm.
    Henze transformiert die Form und den sozialen Bildinhalt in die härteste Art moderner Klangsprache, die ihm damals, 1963, zu formulieren möglich schien. Eine an Schönbergs freie Atonalität angelehnte glänzende Arbeit.
    Musik: Hans Werner Henze - "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer" aus "Los Caprichos - BBC SO. Ltg.: Oliver Knussen
    Das zweite Stück auf der CD ist eine ausgewachsene, abwechslungsreiche Orchestermusik von 30 Minuten Dauer. Titel, wie schon genannt, "Heliogabalus Imperator". Sie ist das zentrale Stück auf der Platte und hochanspruchsvoll umgesetzt vom BBC-Symphony Orchestra unter Oliver Knussen.
    Dokument einer Emigration
    Wirklich Neue Musik ist freilich diese Musik nicht. Sie arbeitet eher die Schründe und Klüfte der Alpengebirge Norditaliens klanglich auf und sonnt sich gelegentlich an den Hängen. Daran ändert auch die Programmatik des Werkes nichts: Es erinnert an den römischen Kaiser Marcus Aurelius Antonius, der durch Grausamkeit und ungezügelten Hedonismus von sich reden machte. Zwischen diesen Polen wechselt auch die Klanglichkeit des Orchesterstücks. Italien war bis zu seinem Tod im Oktober 2012 Henzes selbstgewähltes Heimatland. Dort fühlte er sich sicherer vor Angriffen auf seine Person. Henze war schwul und musste als solcher in der Bundesrepublik allerhand aushalten.
    In Bedrängung geriet er auch als politisch linker Komponist. 1968 hatte der NDR die Uraufführung seines Oratoriums "Das Floß der Medusa" skandalöser Weise zu Fall gebracht. Derlei bestätigte seine Übersiedelung und hat vielleicht auch die Neigung des geplagten Künstlers begründet, kompositorisch nach Art des Kaisers in samten schillernde Posen wie seiden expressive Gewänder zu schlüpfen.
    Musik: Hans Werner Henze - "heliogabalus imperator" (Ausschnitt) - BBC SO. Ltg.: Oliver Knussen
    Hans Werner Henze sah selber bei seiner vielstimmigen Arbeit die Gefahr des Überladens, der stofflichen Überlastung, eines Zuviels an gleichzeitiger Information. "Meine Harmonik", schreibt er in seiner Selbstbiografie, "war ja ein einziges espressivo, ein expressionistisch wissender und systematischer Umgang mit der Chromatik, der darauf zielte, die Psyche meiner Hörer an der richtigen Stelle zu erreichen und zu erregen." Daraus sprechen Selbstzweifel. Die Erregung mochte wohl nicht immer gelungen gewesen sein.
    "Heliogabalus Imperator" vollendete Henze 1972. Im gleichen Jahr kam es in Chicago zur UA. Am Pult des Chicago Symphonie Orchestra stand kein geringerer als Sir Georg Solti. - Hier nun dirigiert der "große" Oliver Knussen das BBC-SO.
    Musik: Hans Werner Henze - "Heliogabalus Imperator" (Ausschnitt) - BBC SO. Ltg.: Oliver Knussen
    Zum Abschluss ein Ausschnitt aus den "Englischen Liebesliedern". Sie verkörpern ein Cellokonzert in sechs Sätzen auf weder gesungene noch gesprochene Texte von Shakespeare, James Joyce und anderen. Auch hier das Wagnis, Texte rein musikalisch in die Partitur zu transformieren, obwohl kein Wort zu hören ist. Solist ist der finnische Cellist Anssi Karttunen. Hören Sie das letzte Stück. Es bezieht sich auf ein Sonett von Shakespeare.
    Musik: Hans Werner Henze - "Englische Liebeslieder" (Ausschnitt)- Anssi Karttunen, Violoncello. BBC SO. Ltg.: Oliver Knussen
    Hans Werner Henze - "Heliogabalus Imperator"
    Orhesterwerke
    Anssi Karttunen, Violoncello, BBC Symphonie Orchestra, Ltg. Oliver Knussen
    Wergo CD 7374 2. LC 00846