Dienstag, 23. April 2024

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Neue politische Diskussionkultur statt rhetorische Kraftmeierei

Christine Heuer: Verbale Angriffe gehören zum politischen Geschäft. Allerdings gibt es Grenzen. Wenn etwa der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber dem Kanzler wegen seiner Arbeitsmarktpolitik unterstellt, mit Schuld zu sein am Erstarken der NPD in Sachsen, oder wenn Markus Söder, ebenfalls von der CSU, nach einem Sexualmord an einem Kind in Bayern die Regierung wegen angeblicher Unterlassungen zum Kartell der Schuldigen rechnet, oder wenn Jürgen Rüttgers, CDU-Spitzenkandidat in Nordrhein-Westfalen, die rot-grüne Visapraxis eine massenhafte Menschenrechtsverletzung nennt, die nach 1945 ohne Vergleich sei, dann hört für so manchen der Spaß auf. Rot-Grün wirft der Union vor, das politische Klima zu vergiften. Am Telefon ist Bernd Gäbler, bis vor kurzem Chef des Grimme-Instituts, von Hause aus ist er Soziologe und Journalist. Herr Gäbler, ich habe jetzt ein paar Beispiele genannt. Finden Sie, dass die Union sich im Ton vergreift?

Moderation: Christine Heuer | 02.03.2005
    Bernd Gäbler: Ja, es scheint mir so zu sein, dass im Moment die rhetorische Kraftmeierei etwas die reale politische Kraft ersetzt. Man muss sagen, dass drastische Ausdrücke in der Regel auf die eigenen Reihen fielen. Also man will die eigenen Reihen mobilisieren, zusammenschließen. Das ist im Grunde genommen noch eine vorpolitische Maßnahme. In der Regel ist es so, dass es zwar wichtig ist, Begriffe zu besetzen, angriffslustig zu erscheinen, der Superlativ aber meistens ein Weg in die Sackgasse ist. Also wenn man sagt, das ist so schlimm wie noch nie, provoziert man geradezu den Widerspruch, weil jeder dann auf die Idee kommt und sagt, nee, das war doch auch ganz schlimm, oder das war doch auch ekelhaft. Also ich glaube, dass das etwas von der gegenwärtigen Situation zeigt. Die Situation ist so, dass die großen politischen Lager sich in einer Art Pattsituation befinden und man nicht so recht weiß, wie ein Durchbruch zu organisieren sei. Darum auch die Unsicherheit, einerseits große Drastik in den Begriffen, andererseits Briefe zum Angebot von Zusammenarbeit. Das passt alles noch nicht so richtig zusammen.

    Heuer: Aber ist diese rhetorische Kraftmeierei, wie Sie das nennen, nicht allzu verständlich in Wahlkampfzeiten? In Kürze wird in Nordrhein-Westfalen gewählt, nächstes Jahr im Bund.

    Gäbler: Ja, verständlich ist das, was Gloss einst die Arbeit der Zuspitzung nannte. Das müssen auch Parteien tun. Nur wenn es nicht mehr trifft, dann zielt das eben doch ins Leere, und ich glaube, dass Herr Rüttgers zum Beispiel besser beraten gewesen wäre, eine oder drei Maßnahmen, die man tun müsste, vorzuschlagen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen als einen dann doch über das Maß hinaus schiebenden Vergleich zu machen. Ich sehe darin aber, wie gesagt, eine Zähigkeit des politischen Geschäfts. Man ahnt in der Union, dass man in der Visaaffäre nicht so richtig nach vorne kommt, dass es ein zähes Geschäft ist, dass man sich auf präzise Daten, Fakten usw. einlassen muss und es nicht weitergeht, und es gibt eine große Unsicherheit in der Politik insgesamt, so empfinde ich es, was man in Fragen der Arbeitslosigkeit überhaupt machen kann. Sie hatten ja heute morgen Herrn Stiegler im Interview, der eigentlich auch nur Begriffe gesagt hat wie Quatsch, Unsinn und sonst was zu den Vorschlägen der anderen Seite. Dieses Land braucht einen produktiven Wettbewerb von Ideen, wie man denn nun wirtschaftspolitisch und arbeitsmarktpolitisch weitermachen will. Ich bin sicher, es wird auch von Seiten der Regierung noch vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen zumindest ein Angebot von Maßnahmen geben. Allein zu sagen, wir sind ein Bollwerk in Abwehrhaltung, wir versprechen unserer Stammwählerschaft, es kommt nicht zu weiteren Zumutungen, wird auch für Rot-Grün keine Siegesperspektive eröffnen. Insofern stehen wir sozusagen in einer Art geraden Stellungskrieg, und keiner weiß so richtig, wie er die andere Front ins Wanken bringt.

    Heuer: Genau das wollte ich gerade ansprechen. Wie kommt denn dergleichen beim Wähler an, vielleicht nicht nur beim Stammwähler, sondern bei allen Wählern?

    Gäbler: Ich glaube, dass es wirklich im Moment hauptsächlich auf Stammwähler und eigene Reihen zielt. Ich habe die Sorge, dass ganz viele Menschen spüren, dass die Politik nicht immer richtig weiß, was sie eigentlich kann und was nicht. Was kann die Politik überhaupt bezüglich der Arbeitsplätze unternehmen? Sie will einerseits nicht völlig leere Versprechungen machen. Dann stünde sie da wie ein Regenmacher. Andererseits weiß sie nicht richtig, was greift, und ich habe den Eindruck, dass die Leute spüren, dass der Sektor dessen, womit sich die offizielle Politik beschäftigt, immer schmaler wird, gemessen an den realen Problemen. Ich nenne ein Beispiel: Die gesamte Bildungsdiskussion läuft zwischen den Parteien als eine Diskussion über Schulformen. Jeder, der ein Kind auf der Schule hat, weiß, dass das allenfalls ein kleines Spektrum der wirklichen Bildungsprobleme ist. Die gesamte Billiglohnrealität kommt nicht in den Griff. Die Situation in den Stadtteilen wird kaum betrachtet. Es gibt viele Fragen, von Vaterschaftstest bis zu Leihmutterschaften, die moralisch sind, die das menschliche Zusammenleben betreffen, wo Politik wenig zu sagen hat. Ich empfinde es so, dass viele Wähler sagen werden, es ist ein abgehobener Taktizismus, der mit den Problemen relativ wenig zu tun hat.

    Heuer: Wie optimistisch sind Sie, dass sich das ändern wird?

    Gäbler: Ich glaube, dass es so sein muss, dass noch vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen man nicht sagen kann, wir bleiben bei der Position von Regierungsseite und machen keine Panik, und wir schauen jetzt, dass die Maßnahmen greifen. Man ist dort sehr froh, dass die eigene Stammwählerschaft gewissermaßen die Zumutungen von Hartz I bis IV inzwischen verziehen hat, will diesen Status halten, traut sich nicht wirklich weiterzugehen. Aber es wird irgendein Angebot kommen müssen, weil einfach die Probleme zu dringlich sind. Wenn etwa Herr Clement sagt, er möchte 600.000 1-Euro-Jobs schaffen, dann muss man sich die einfach mal anschauen. Das sind subventionierte Beschäftigungstherapien. Das ist nicht ein Schritt zu höherer Produktivität in diesem Land, und über solche Fragen müsste man eigentlich detailliert diskutieren. Ich hoffe, dass wir, je näher dann das Wahldatum kommt, aus dem Klima der reinen Rhetorik hin zu wirklichen Maßnahmendiskussionen kommen, denn ich sehe es im Moment noch so, dass es weitgehend Ersatzhandlungen, Fingerübungen sind und noch nicht eine wirkliche Verschiebung, sagen wir mal, in dem kulturellen Dasein dieses Landes oder in der Tektonik dieses Landes. Das sieht man auch daran, wer es macht. Also Herr Stiegler ist noch nicht Herr Clement, und es werden Clement und Schröder sein, die im entscheidenden Moment zu Maßnahmen kommen müssen, und dann haben wir hoffentlich eine andere politische Diskussion und eine andere politische Diskussionskultur.

    Heuer: Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.