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Neue Volksbühnen-Inszenierung
Iphigenie-Casting in Tempelhof

Die Premiere der ersten Schauspiel-Inszenierung fand auf dem Tempelhofer Feld statt, in direkter Nachbarschaft zu einer der größten Flüchtlingsunterkünfte Berlins: Die syrischen Künstler Mohammad Al Attar und Omar Abusaadahaben hatten dafür neun syrische Frauen zu Iphigenie befragt - in einer Art Castingshow.

Von Barbara Behrendt | 01.10.2017
    Ein der Darstellerinnen der "Iphigenie" der Volksbühne, aufgeführt im Flughafen TempelhofIn dem Stück wird eine Casting-Situation dargestellt, bei der sich die Darstellerinnen um die Rolle der Iphigenie bewerben.
    Ein der Darstellerinnen der "Iphigenie" der Volksbühne, aufgeführt im Flughafen Tempelhof (Jörg Carstensen / dpa)
    Unter guten Vorzeichen scheint der Neustart der Volksbühne wahrlich nicht zu stehen: Kaum ist die Besetzung des Theaters am Rosa-Luxemburg-Platz beendet, da muss die erste Schauspiel-Premiere in der Spielstätte auf dem Tempelhofer Feld wegen technischer Schwierigkeiten unterbrochen werden. Spielort ist die gigantische, zugige Flughafen-Halle – aus finanziellen Gründen konnte sie nicht wie vorgesehen zum großen "Satellitentheater" verwandelt werden.
    Das Volksbühnen-Team hatte aber freundlich vorgesorgt und jeden Platz auf der Amphitheater-Tribüne von Francis Kéré mit Sitzkissen und Decke versehen. Und als dann die Übertitel in arabischer Sprache nicht mehr funktionierten, war das nach einer kleinen Pause schnell behoben. Dramatisch war das allerdings schon deshalb nicht, weil die Inszenierung von Omar Abusaada keine Spannungsbögen besitzt – und so ohne große Verluste nach der Unterbrechung weiterplätschern konnte.
    "Wie in einer Castingshow"
    Neun syrische Frauen, die in Deutschland leben, sitzen den ganzen Abend auf Stühlen am hinteren Rand eines Laufstegs. Wie in einer Castingshow kommt eine nach der anderen nach vorn und stellt sich den Fragen einer Regieassistentin, die das Gespräch filmt und auf die große Leinwand über ihren Köpfen projiziert. "Iphigenie" ist die Arbeit betitelt – und so werden die Laien-Darstellerinnen im inszenierten Casting dazu befragt, was sie dazu befähigt, diese Rolle in diesem Projekt zu spielen. Oder auch, warum sie überhaupt Theater spielen möchten. Die 23jährige Layla tanzt als Antwort mit fließenden Bewegungen über die Bühne und sagt, dass sie das Glück suche und eine große Liebe.
    (Auf Arabisch)
    "Ok, Layla. Eine Frage, antworte bitte direkt. Nach deinen ganzen aufregenden Lebensstationen, von denen du mir erzähltest, bist du jetzt hier mit deinem kleinen Sohn. Warum willst du Theater spielen?"
    "Ich will, dass mich nichts mehr daran hindert, die Dinge zu tun, die ich liebe! Ich will das Glück suchen, bis ich es finde."
    "Wie denkst du, wirst du andauerndes Glück finden?"
    "Indem ihr mir die Rolle gebt!"
    "Ästhetischer Reiz so schlicht wie erwartbar"
    Bei jeder Frau wird ein ähnlicher Fragenkatalog abgehakt. Und weil nach drei Vorstellungsgesprächen klar ist, dass noch sechs Bewerberinnen auf genau dieselbe Weise auf diesem Stuhl sitzen und sprechen werden, ist der ästhetische Reiz der Inszenierung so schlicht wie erwartbar. Gewinnen könnte der Abend allein durch die persönlichen Geschichten seiner Protagonistinnen.
    Junge, schöne, smarte und selbstbewusste Frauen sind das. Hier soll nicht das Klischee der armen syrischen Geflüchteten abgebildet werden. Die Fragen streifen kurz Herkunft, Biografie, das Leben in Deutschland, ausführlicher geht es ums Theaterspielen und um Iphigenie. Der antiken Tragödie Euripides’ nach soll sie vom Vater geopfert werden, weil die Götter zürnen - doch Iphigenie geht letztlich freiwillig zum Wohle des Landes in den Tod. Die Parallelen zu den Darstellerinnen bleiben vage. Werden sie als "Flüchtlinge" ebenso zum unfreiwilligen Opfer gemacht? Eine Spielerin meint, Iphigenie hätte Widerstand leisten müssen; eine andere stilisiert sie zur Märtyrerin; manche finden sich in der komplizierten Vater-Tochter-Beziehung wieder.
    "Wenn er übers Privatistische hinausgehen könnte, bricht er ab"
    So gefühlvoll die Frauen in die stimmenverstärkenden Mikroports sprechen, so groß die Leinwand dabei jedes Blinzeln, jede Träne im Augenwinkel abbildet – der Text, den Mohammad Al Attar gemeinsam mit ihnen entwickelt hat, bleibt seltsam oberflächlich und ohne Aussagekraft. Immer dann, wenn er in die Tiefe gehen, man den Frauen näher kommen könnte, wechselt er das Thema. Immer dann, wenn er übers Privatistische hinausgehen könnte, bricht er ab. Etwa, wenn die junge Bayan, die Schauspielerin werden möchte, aus Tschechows "Möwe rezitiert", statt wie die anderen Frauen einen Iphigenie-Monolog vorzutragen:
    "Ich habe mich unwiderruflich entschlossen. Die Würfel sind gefallen. Ich gehe zur Bühne. Morgen bin ich nicht mehr hier. Ich verlasse meinen Vater und werfe alles hinter mich. Beginne ein neues Leben. Ich reise nach Moskau. Um eine Schauspielerin zu sein."
    Warum die "Möwe"? Weil dieser Text ihr aus dem Herzen spricht. Punkt. Keine Nachfrage, keine Erklärung, keine Verbindung zum Rest des Abends. Und so bleibt diese erste Schauspiel-Premiere unter Chris Dercon bei aller Sympathie für die Darstellerinnen und aller im Programmheft behaupteten Brisanz ein ästhetisch blasser wie inhaltlich unbefriedigender Auftakt.