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Neue Wacken-App
Festivalgenuss ohne Sonnenbrand

Wacken ist eine globale Marke. Oder will eine sein. Daher ist das berühmte Open Air nun auch als Livestream verfügbar, über eine App. Doch die läuft nicht ganz störungsfrei. Noch schlimmer: Für viele Waken-Fans ist sie ein weiterer Schritt in die zunehmende Kommerzialisierung des Festivals.

Von Peter Backof | 04.08.2018
    Auch Komiker Otto durfte 2018 nach Wacken - manchen Metal-Traditionalisten geht das zu weit
    Auch Komiker Otto durfte 2018 nach Wacken - manchen Metal-Traditionalisten geht das zu weit (dpa / Daniel Reinhardt)
    Es ist ja wirklich löblich, dass die Telekom das Festival Wacken Open Air 2018 gratis im Livestream verfügbar macht. So kann man sich von der Couch zu Hause aus überzeugen, dass Nightwish, die finnische Band um Frontfrau Floor Jansen handwerklich viel drauf haben.
    Keine Pommesgabel für diesen Stream
    Hier wackelt aber nicht etwa Gitarrist Emppu Vuorinen am Tonabnehmer-Umschalter seiner Gitarre, sondern "Magenta Musik 360" läuft nicht störungsfrei. Das trifft nun leider generell auf Livestreams zu: Sie versprechen mehr als sie halten können. Parallel wächst ein - kleiner - Frust-Thread auf der Facebookseite von "Magenta Musik 360": Dafür gibt es keine zustimmenden Pommesgabel- und Bierkrug-Emoticons von den Usern.
    "It#s geat to be here. Wacken, one of the best festivals in the entire fucking world!"
    Beim Auftritt der brasilianischen "Sepultura" läuft es dann besser. Positive Kommentare poppen im Sekundentakt auf, aus Lateinamerika, Russland, China. Wacken ist eine globale Marke. Oder will es sein. "Magenta Musik 360" kann man direkt bei der Telekom ansteuern oder etwa über den lizensierten Umweg Facebook: Dort werden immer zwischen 3.000 und 5.000 gleichzeitige Views angezeigt. Viel ist das ja nicht, auf den Globus gerechnet, eher schon: ein Flop.
    Netzweltsternchen trifft Alt-Metallerin
    Toyahgurl: "Wir sind ja heute hier dabei, Magenta Musik 360. Wir werden mit auf die Bühne gehen und nicht nur einen Livestream machen - das kann ja jeder - wir haben den 360-Grad view!"
    Moderatorin Toyahgurl, ein Netzweltsternchen, füllt die - langen - Pausen zwischen den Auftritten der Bands ab und an mit Promo-Interviews. So hat sie gerade Doro Pesch neben sich sitzen.
    Toyahgirl und Doro Pesch: "Das heißt, Leute, die Zuhause sind auf der Couch, weil sie aus irgendeinem Grund nicht hier sein können, die können trotzdem live bei dir dabei sein" "Das mit 360 Grad, das wusste ich nicht" "Du guckst dann so um dich herum und siehst den kompletten Auftritt" "Das ist, das ist ..."
    Das ist schon dreist, Naheinstellungen auf der Bühne als Innovation darzustellen. Die gibt es seit Erfindung der Filmkamera. Die App liefert konventionelle und stereotype Kamerafahrten. Am Bühnenrand gäbe es es eine echte Innovation: Songtexte werden in Gebärdensprache vorgetragen. Doch davon zeigt "Magenta Musik 360" nichts.
    Sehnsucht nach der Lemmy-Ära
    "Good evening. We're Motörhead and we play Rock'n'Roll!"
    Und er fehlt einigen, die von Wacken 2018 aus bloggen: der verstorbene Lemmy Kilmister. Er und mit ihm eine Ära. Ein Schwenk auf Wacken jenseits der App: das Festival ist ausverkauft und wird vor Ort augenscheinlich begeistert angenommen, aber es mischen sich auch kritische Meinungen in die Atmosphäre: In den Duschen auf dem überfüllten Gelände würde zum Teil Chartsmusik laufen, wird beklagt.
    Die Catching-Area, ein beliebter Hingucker auf dem mit Wühlen im Schlamm groß und berühmt gewordenen Festival, ist abgeschafft. Stattdessen gibt es jetzt ein E-Sport-Zelt. Und auf Instagram werden unter dem Hashtag Wacken inflationär Selfies mit Ortsschild gepostet. Alles sei etwas digitaler, klinischer. Ein Kommentator bringt es auf den Punkt: "Geht noch mehr Kommerz?"
    Musikjournalistische Kompetenz gleich Null
    Zurück zur App. Der Jingle von "Magenta Musik 360" wird zum x-ten Mal abgespielt und Moderatorin Toyahgurl inszeniert erneut Metal als Familie.
    Toyahgurl und Doro Pesch: "Hier neben mir, das ist keine Fata Morgana. Doro Pesch, Queen of Metal!" - "Oh mein Gott, alles gut, wenn es positiv ist, dann nehme ich alles."
    Doro Pesch trat zum ersten Mal 1993 in Wacken auf - das kleine, echte Metal-Festival, das Wacken damals war. In dieser Promo-Smalltalk-Situation guckt sie etwas peinlich berührt drein. Der musikjournalistische Wert des Gesprächs geht gegen Null. Toyah Diebel aus Berlin ist von der Telekom auch nicht als Journalistin gecastet worden, sondern weil sie zum Beispiel 37.600 Follower auf Instagram hat und ihr nichts peinlich ist.
    Globale Marke mit Rinder-Totenschädel
    Toyahgurl mit Dildos, Toyahgurl - reichlich paradox - mit "Small Tits Club"-T-Shirt. Sie ist die ideale Influencerin und verkörpert eine digitale Erfolgsmechanik, so ganz anders wie die der Bands, die in Wacken auf den Nebenbühnen spielen, mit ihren liebevoll selbstgestalteten Logos und Covers.
    Abgesang auf die Metal-Kultur? Das wäre nun übertrieben, aber anhand von "Magenta Musik 360" ist erkennbar, wie die smarte Revolution allmählich die traditionsbewusste Metal-Welt verändert. Wenn man die Augen etwas zukneift, dann sieht der fahle Rinderschädel, das Wacken-Logo, doch genau so aus wie das "T" der Telekom und könnte durch dieses ersetzt werden. Das wären dann Verhältnisse wie im Fußball. Aber eine globale Marke muss wohl Mainstream-kompatibel sein.
    Toyahgurl im Interview mit Behemoth: "Let´s talk about Wacken, Waggen, Wakön." "Waken!" "Depends on where you come from!" "Yes!"