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Neuer Blick aufs Leben

Der Schweizer Autor Christian Haller, Jahrgang 1943, studierter Zoologe und längere Zeit als Dramaturg tätig, hat zuletzt drei Romane veröffentlicht, in denen er Familiengeschichte mit Zeitgeschichte verwoben hat. Mit seinem neuen Roman knüpft der Autor an sein Frühwerk an und erzählt eine intime Geschichte, die mit wenig Personal in einem knappen Zeitraum spielt. "Im Park" ist die Geschichte einer persönlichen Katastrophe und ihrer Bewältigung.

Von Eva Pfister | 22.10.2008
    Eingeschlossen im Schiefergestein sind die Fossilien, mit denen der Paläontologe Emile sich beschäftigt, und so gefangen fühlt er sich selbst an diesem Wendepunkt seines Lebens. Der gut Vierzigjährige hatte sich eben in die achtzehnjährige Schülerin Klara verliebt, da erleidet seine Lebensgefährtin Lia einen Schlaganfall. Emile - sein Name wird mit einem französischen Schluss-E geschrieben - kippt aus der Routine seines Lebens heraus, aber nicht so, wie er es sich erträumt hat. Mühselig rekonstruiert er für sich, was geschehen ist, starr vor Angst, dass Lia nicht mehr zu Bewusstsein kommen wird.

    Und Emile, nachdem er Stunden am Bett von Lia verbracht hatte, lief durch den Park, als wäre er darin eingesperrt. In seinen Kleidern hockte der Spitalgeruch, diese von Chemikalien und Ausdünstungen imprägnierte Wärme, noch immer waren um ihn die Stimmen der Besucher an den anderen Betten, diese überfreundlichen Töne, zu hoch angesetzt, zu weich und lieblich herunterplätschernd, ein angestrengtes Lieb- und Angenehmsein, als wären die Wörter selbst Pillen, unablässig verabreicht, gegen das Verstummen, gegen eine drohende Stille.

    "Im Park" heißt Christian Hallers neues Buch, denn in den Gängen durch diesen Park, den Emile als "Vorhof des Todes" empfindet, manifestiert sich sein Zustand zwischen den Welten, in dem er zunehmend den Boden unter den Füßen verliert. Der Roman ist die beeindruckende Studie einer schweren Lebenskrise. Der Wissenschaftler Emile und die engagierte Filmemacherin Lia waren ein gut funktionierendes Paar - bis alles aus den Fugen geriet. Jeden Tag geht Emile durch den Park in die Klinik, wo Lia nach fünf Tagen aus dem Koma erwacht, aber halbseitig gelähmt bleibt. Zugleich klammert er sich an die junge Klara, fährt am Abend zu ihr oder schreibt ihr glühende Liebesbriefe:

    " ... und aus dem Erinnern an Garten und Lust wachsen mir Pflanzen zu, blühen auf, tragen Früchte, übergroß, von fleischiger Süße, und ich finde mich in einer gläserner Kapsel über Teich und Wasser, geschmiegt an Deinen Körper in dieser Beeren-Einsamkeit."

    Dass diese Briefe schwülstig sind, bemerkt auch Emile selbst, und dass er die Metaphorik aus Hieronymus Boschs Gemälde "Der Garten der Lüste" entlehnt hat, lässt der Autor nicht unerwähnt. Aber diese Passagen bleiben in ihrer Künstlichkeit und ihrem Pathos ein Fremdkörper, auch die Figur der Klara ist blass, wie eine Projektionsfigur, die sie ja auch ist. Diese Liebe steht in erster Linie für die Sehnsucht nach der verlorenen Zukunft. Wie Emile abends unter Klaras Mitschülern im angesagten Schuppen sitzt, auf ihren Rat hin neu eingekleidet in jugendliche Klamotten, macht ihn beinahe zur lächerlichen Figur. Schockierend ist dann aber doch, wie Männer in Emiles Alter ihm raten, sich an die "Junge" ranzuhalten, da Lia ja "ausfalle", und die Behinderte rasch in ein Heim zu bringen.

    Christian Haller schildert die Katastrophe aus der Sicht Emiles, er beschreibt in eindringlichen Momentaufnahmen seine Schuldgefühle, seine Fluchttendenzen wie auch sein verantwortungsvolles Verhalten. Emile ist eine vielschichtige spannende Figur, aber beinahe noch packender ist es, durch seine Augen die Konfrontation mit den Folgen einer Hirnblutung mitzuerleben. Auf die Freude, dass seine Gefährtin wieder erwacht ist, ja sogar noch sprechen kann, folgt die Ernüchterung: Lia presst die Worte nur mühselig heraus und sie empfindet die Bewegungstherapie als gewalttätige Schikane. Nur langsam macht sie Fortschritte.

    Der Griff, mit dem Lia die gelähmte Hand packte, diese hochhob, vor ihrem Gesicht in einer Kreisbewegung herumführte und mit unmissverständlicher Autorität in den Schoß legte, war bereits zu einer charakteristischen Geste geworden: Als wäre ihre gelähmte Hand ein Kätzchen, das man zurechtsetzen, dann aber auch beruhigend streicheln müsste. ... Emile, der sich neben Lia aufs Bett gesetzt hatte, um die Rückkehr nach der Rehabilitation zu besprechen, ein Wechsel, vor dem sie sich fürchtete, spürte plötzlich diesen raschen Griff am Handgelenk. Seine Hand wurde hochgehoben, vor ihr in den Schoß gelegt, und Emile ließ es geschehen.

    Ohne es zu bemerken, hat Lia statt ihrer eigenen die Hand ihres Freundes bewegt. Emile bleibt an ihrer Seite, auch in der Trauer über ihre Behinderung. Nach Trotz und Wut gleitet sie in eine depressive Erschöpfung, dann beschäftigt sie sich intensiv mit ihrer Kindheit. Mit der Zeit wird sie gelassener, und Emile versteht, dass Lia auf dem Weg zu einer neuen Wahrnehmung ist.

    Ohne zwei Hände ließ sich noch nicht einmal ein Schuh binden, konnte kein Stück Brot abgeschnitten werden, und Lia entdeckte, dass sie durch ihre Behinderung aus dem ganz gewöhnlichen Begreifen gestoßen worden war, dafür aber eine neue Sicht gewonnen hatte. Nachdem sie anfänglich ihr verletztes Ich noch versteckt hatte, begann sie nun mit leicht schiefer Kopfhaltung, dem im linken Auge um ein Viertel eingeschränkten Blickfeld, seltsam asymmetrisch in diese Welt hineinzuschauen, und es war, als sähe sie wie bei einer Bühne, die in der normalen Ansicht der Zuschauer ein einheitlich geschlossenes Bild ergibt, aus einem schrägen Winkel in die seitlichen Blenden, und durch die Lücken der Soffitten, blickte so hinter die Bühne, wo die simplen Vorrichtungen der Illusionen stehen.

    Der Roman "Im Park" geht auf eine authentische Erfahrung des Autors zurück, dessen Lebensgefährtin vor über 20 Jahren eine Hirnblutung erlitten hat. Das Buch kann auch als eine Liebeserklärung gelesen werden, denn was Emile von Lias vergangenen Aktivitäten als Dokumentarfilmerin berichtet, nimmt uns Leser ebenso gefangen wie seine feinfühlige Schilderung ihres Kampfes um ein neues Leben. Und noch bevor Emile es selbst ausspricht, begreifen wir, dass es gerade Lia ist, die ihm helfen kann, aus seinen Versteinerungen auszubrechen.

    Christian Haller:"Im Park"
    Roman, Luchterhand Verlag München 2008, 186 S., 17.95 Euro