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Neuer EU-Kurs
"Es geht wirklich um mehr als ein paar kleine Reförmchen"

Der geplante EU-Ausstieg Großbritanniens und das neue Rollenverständnis der USA führen nach Ansicht der französischen Politologin Ulrike Guérot zu einer neuen Dynamik in Europa. Sie sagte im Deutschlandfunk, "uns wird gerade klar, dass es den Westen, so wie wir ihn kennen, nicht mehr gibt". Guérot erwartet ein grundsätzlich neues Verständnis vor allem in der wirtschafts- und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit.

Ulrike Guérot im Gespräch mit Peter Kapern | 31.05.2017
    Ulrike Gúerot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung, zu Gast in einer Talksendung.
    Ulrike Gúerot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung (imago)
    Peter Kapern: Aus allen Teilen der Europäischen Union und aus allen Institutionen der EU erhält Bundeskanzlerin Angela Merkel Unterstützung für ihre Feststellung, dass Europa sein Schicksal nun in die eigenen Hände nehmen müsse, weil man sich auf die USA unter Donald Trump nicht mehr völlig verlassen könne. Stellt sich die Frage, was für ein Europa müsste das sein, das in der Lage ist, sein Schicksal ein Stück weit, um die Diktion der Kanzlerin aufzugreifen, ohne den mächtigen Bruder zu bestimmen. Was für ein Europa müsste das sein, das dabei auch die Unterstützung seiner Bürger hat? Braucht es lediglich ein paar Retuschen, einen EU-Finanzminister hier, gemeinsame Rüstungseinkäufe dort und alles ist schon auf dem richtigen Weg? – Am Telefon in Paris die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Guten Morgen!
    Ulrike Guérot: Guten Morgen.
    Kapern: Frau Guerot, als Angela Merkel am Sonntag im bayerischen Bierzelt diesen Satz gesagt hat, was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?
    Guérot: Ungewöhnlicher Satz für Frau Merkel, die eigentlich ja für eher bedächtige Äußerungen bekannt ist, und das war doch wirklich ein sehr starker Satz an einem starken Ort auch. Und dass sie damit eine Message wohl hatte, das dürfte jedem klar gewesen sein.
    Kapern: Und welche Message haben Sie gehört?
    Guérot: Wie viele andere, dass wir wahrscheinlich auf einen U-Turn in den Beziehungen mit Amerika umsteuern, Amerika nicht mehr als verlässlicher Partner, dass uns gerade klar wird, dass es den Westen, so wie wir ihn kennen, nicht mehr gibt. Das liegt ja nicht nur an Trump, das liegt natürlich auch an dem Brexit. Das ist, glaube ich, die zweite Komponente. Und dass deswegen mit Europa, glaube ich, etwas ganz anderes passieren muss, eine neue Dynamisierung oder ein neuer Aufbruch für Europa, und zwar besonders im Bereich der Sicherheitspolitik.
    "Ein Wiederentdecken des deutsch-französischen Motors"
    Kapern: Skizzieren Sie doch mal, was da auf die Europäer zukommt oder zukommen müsste, damit Europa sich in diesem neuen Westen neu verorten kann?
    Guérot: Wir haben ja im Moment wirklich ganz viel Nachdenken darüber. Es vergeht ja keine Minute eigentlich, dass man nicht im Deutschlandfunk zum Beispiel, aber auch woanders Äußerungen hört. Ich bin gerade in Paris, habe gerade Pierre Moscovici im französischen Radio gehört, der Ähnliches sagt, Europa braucht jetzt vor allen Dingen eine stärkere Eurozone, eine deutsch-französische Initiative zur Sicherheitspolitik. Man hört von verschiedenen Bereichen, auch von Herrn McAllister aus dem Europäischen Parlament, dass jetzt Europa die Zukunft ist. Das heißt, ich glaube, wir sehen jetzt gerade vor allen Dingen im deutsch-französischen Kontext auch ein Wiederentdecken erst mal des Motors, des deutsch-französischen Motors. Wir sehen zwei starke Bereiche, die in den Vordergrund rücken. Das eine ist der Bereich der ganzen Euro-Governance, der Währungspolitik. Da sind jetzt die Forderungen von Macron, dem neuen Präsidenten auf dem Tisch, wie kann diese parlamentarisch gestaltet werden, europäischer Finanzminister. Es geht da um die ökonomische Konsolidierung der Eurozone. Und das zweite wirklich wichtige Thema ist, dass im Zusammenhang mit Herrn Trump, der ja auch gesagt hat, die NATO ist obsolet und so weiter, jetzt die Sicherheitspolitik ganz stark in den Vordergrund rückt, und über eine deutsch-französische Initiative im Bereich der Sicherheitspolitik wird ja auch schon gesprochen. Dazu gehört dann eben auch gemeinsame Rüstungseinkäufe und so weiter und so fort.
    "Es geht nicht mehr nur um kleine Stellschrauben"
    Kapern: Nun bewegt sich das ja sozusagen im Rahmen üblicher Reformprozesse innerhalb der Europäischen Union, die ja schon immer dann, wenn sie krisenhaft berührt wurde, Sprünge nach vorne gemacht hat, wenn ich das mal so sagen darf. Glauben Sie, dass man europäische Bürger auch wieder neu begeistern kann für die Europäische Union, wenn man an den bekannten Reformschrauben dreht?
    Guérot: Nicht an den bekannten Reformschrauben. Ich glaube, es geht tatsächlich um etwas grundsätzlich anderes, und so hören sich alle Töne auch an, erst mal Frau Merkel im Bierzelt, darüber reden wir ja gerade, aber auch viele andere Einlassungen, auch hier in Paris, wo ich ja heute bin, wo man tatsächlich eine neue Dynamik spürt und ebem auch ein anderes Vokabular. Es geht nicht mehr nur um kleine Stellschrauben. Es geht ganz prinzipiell um die parlamentarische Legitimität, um die Prozesse, wie wir in Europa entscheiden. Es geht zweitens um eine ganz enge Verknüpfung von Strategie und Währung, Währung, das Geld, die Prosperitätsbasis der Eurozone und damit Europas, aber auch die eigene Verantwortung, der eigene Platz Europas zwischen Russland und zwischen den USA in diesem sich auflösenden Westen. Und ich glaube, wenn Sie jetzt noch andere Dinge dazu nehmen, zum Beispiel, dass Herr Hofer in Österreich nicht gewählt wurde, Geert Wilders nicht in den Niederlanden, dass wir den Pulse of Europe haben, dass wir eine ganz neue Debatte über Europa …
    Kapern: Diese Bürgerbewegung für Europa.
    Guérot: Ja genau, dass die deutschen Bürger jetzt wirklich Sonntagsnachmittags um 14 Uhr in Europa stehen. Der Pulse of Europe hat ja auch was ganz Interessantes gemacht, nämlich den Politikern aller Parteien Fragen vorgelegt, wie positioniert ihr euch zu Europa im Wahlkampf. Das heißt, von bürgerlicher Seite, von der Bevölkerung gibt es ein Drängen darauf, dass mit Europa was passiert, dass Europa sich konsolidiert und neu aufstellt. Insofern glaube ich, es geht wirklich um mehr als ein paar kleine Reförmchen, und das sieht man, glaube ich, auch schon in der Art und Weise, wie jetzt Deutschland auf den Bundestagswahlkampf zusteuert, wo Europa ja doch überraschenderweise zum Thema wird.
    Mehr Partizipation und Bürgerbeteiligung
    Kapern: Das muss man den Leuten in Europa, den Europäern vielleicht noch mal erklären, dass es da um mehr geht als um ein paar Reförmchen. Denn was bei denen jetzt ankommt, das ist ein Tauziehen um einen europäischen Finanzminister, um ein Euroland-Budget, um ein Europarlament. Das klingt so, als würde alles noch komplizierter, noch unübersichtlicher.
    Guérot: Nein. Es geht im Gegenteil darum, dass es einfacher wird und klarer und demokratischer und sozialer. Es geht darum, dass die Entscheidungsprozesse einfach auf eine nicht mehr technokratische Grundlage gestellt werden, dass man demnächst das Gefühl haben kann, man kann wählen, worum es in Europa geht, und man kann zum Beispiel auch abwählen, wenn einem Europa oder die europäische Politik nicht mehr passt. Es geht um mehr Partizipation und Bürgerbeteiligung. Dafür steht der Pulse of Europa. Und es geht allgemein darum, das ist das Allerwichtigste, dass offensichtlich ja vielen Leuten im Moment klar wird, die sich früher nicht so für Europa interessiert haben, dass Europa einfach jeden betrifft. Wenn jetzt Herr Trump – das ist ja wie gesagt der Anlass des Interviews –, wenn jetzt in Amerika eine Umsteuerung passiert, wenn wir alle zittern müssen über den nächsten Twitter-Post von Herrn Trump über Nordkorea oder über seine Aktivitäten im Nahen Osten oder in Syrien, wenn wir Herrn Macron Putin empfangen sehen in einer wirklich neuen, energischen, dynamischen Art und er Klartext redet mit Herrn Putin, dann sehen wir, dass wir uns da jetzt auch abgrenzen in einem europäischen Kontext von dem, was gemeinhin der Westen und unsere gemeinsamen Werte waren, weil wir – und das war das Merkel-Zitat – uns nicht mehr darauf verlassen können, dass Herr Trump diese Werte so interpretiert, wie es eigentlich sich für Europa anschickt, und dass wir deswegen uns emanzipieren müssen vor allen Dingen auch im Sicherheitsbereich. Das heißt, wir konsolidieren jetzt Europa, einerseits wirtschaftlich, andererseits sicherheitspolitisch.
    "Europa wurde nie auf der Straße diskutiert"
    Kapern: Aber Sie haben gerade ja noch ganz andere, viel größere Versprechungen an die Adresse der Bürger in den Mund genommen, nämlich dass es viel demokratischer zugehen wird, dass man wird abwählen können. Glauben Sie, dass solche Ideen Unterstützung finden, nicht nur bei den Menschen, die im Rahmen der Bewegung Pulse of Europe demonstrieren, sondern auch im Ratsgebäude in Brüssel, da wo sich immer die Regierungen treffen?
    Guérot: Ich würde einfach mal vermuten ... Jedenfalls wird über Europa nicht diskutiert im Sinne, ich sage mal, dieser fünf Szenarien, die Herr Juncker gerade vorgelegt hat zur Zukunft der Europäischen Union. Wir diskutieren jetzt nicht in der Breite über, ich sage mal, vertiefte Integration im Bereich der Elektromobilität. Diese fünf Szenarien, die Herr Juncker vorgestellt hat, die sind natürlich an Beliebigkeit de facto nicht mehr zu überbieten. Was ich aber andererseits sehe ist, dass es in der Öffentlichkeit, in der breiteren Öffentlichkeit, in den Zeitungen, bei den Leuten durch den Pulse of Europe tatsächlich eine ziemlich erregte Diskussion gibt, auch bei jungen Leuten über ganz andere Dinge, zum Beispiel über Wahlrechtsgleichheit, über transnationale Listen, über wie wir die Strukturen, die institutionellen Strukturen der EU aufbrechen. Ich gebe Ihnen Recht oder ich gebe zu, dass diese Diskussion die ganz breite Öffentlichkeit noch nicht erreicht hat. Das war es nie, Europa wurde nie auf der Straße diskutiert. Aber in einer informierten Öffentlichkeit findet inzwischen eine doch ganz andere, viel intensivere Diskussion statt als vorher.
    "Da wird ein anderer Druck aufgebaut mit Blick auf Europa"
    Kapern: Aber, Frau Guérot, lassen Sie mich da kurz noch mal einhaken. Bei all den Beispielen, die Sie gerade genannt haben, was da im Rahmen von Pulse of Europe und anderen informierten Öffentlichkeiten diskutiert wird, da fällt mir ein, dass bei der letzten Europawahl die Parteien das erste Mal Spitzenkandidaten hatten. In der Folge war dann Jean-Claude Juncker gewählt worden und kurz darauf haben alle Parteivertreter wieder gesagt, das machen wir nicht noch mal. Ist da Ihr Optimismus nicht, sagen wir mal, etwas blauäugig, dass da jetzt noch mehr demokratische Momente ins Spiel kommen?
    Guérot: Ja. Natürlich haben Sie Recht, dass das EU-System im Besonderen immer eine Schwerkraft hat, sich sehr langsam bewegt, immer nur im Schneckentempo bewegt, und das ist natürlich leider so, weil es auch ein sehr komplizierter Prozess ist. Und trotzdem, ich muss es sagen: Das ist tatsächlich wohl noch nicht in der ganz großen Breite so sichtbar, aber es gibt auch verschiedene Öffentlichkeiten. Wenn Sie jetzt nur, ich sage mal, auf die Tagespresse gucken, dann ist das so noch nicht da. Wenn Sie aber gucken, was im Internet diskutiert wird, die ganzen auch europäischen NGOs, die sich aufmachen, wenn Sie allein hinschauen auf die ganze Bewegung in der europäischen Parteienlandschaft über das Nachdenken über neue europäische Parteien, die ja auch tatsächlich gerade gegründet werden, da würde ich schon den Punkt machen, dass zwischen heute und den europäischen Parlamentswahlen 2019, dass wir da Bewegung bekommen in einer Art, die wir so noch nicht gesehen haben, einfach weil ganz viele Leute aufwachen. Ich sage mal, das offizielle Berlin wacht jetzt auf wegen Trump oder das offizielle Europa wacht auf wegen Trump. Aber die Bürger gehen gerade auch durch so eine Schneise und wachen auch auf, weil sie verstanden haben, sie haben viel zu verlieren, und insofern wird da ein anderer Druck aufgebaut mit Blick auf Europa und wir können nur hoffen, dass der dann auch zu wirklich großen Veränderungen führt.
    Kapern: … sagt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot heute Morgen im Deutschlandfunk. Frau Guérot, danke für das Gespräch. Einen schönen Tag nach Paris.
    Guérot: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.