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Neuer Roman von Aravind Adiga
Ablesen des Gesundheitszustands Indiens

Der indische Schriftsteller Aravind Adiga ist bekannt für seine frische Respektlosigkeit und ironische Schärfe. Auch sein dritter Roman "Golden Boy" beschreibt indische Seelenzustände und erzählt dabei den gnadenlosen Wettbewerb zweier Brüder beim Cricket. Mit dem Thema Männerliebe greift er auch ein indisches Tabuthema auf.

Von Shirin Sojitrawalla | 07.11.2016
    Studenten spielen Cricket in Neu Delhi
    Studenten spielen Cricket in Neu Delhi (imago/Hindustan Times)
    Indien kenne eigentlich nur zwei Religionen, meint der indische Schriftsteller Aravind Adiga: Kino und Cricket. Da ist was dran. Ins Kino laufen Inder naturgemäß in Scharen und Cricketspieler verehren sie wie Bollywoodstars. Doch während einem spontan Dutzende Romane über den indischen Kinofimmel in den Sinn kommen, fallen einem zum Thema Cricket höchsten ein paar Krimis ein, etwas "Asche zu Asche" von Elizabeth George. Doch Cricket-Romane? Aravind Adiga, seit seinem völlig zu Recht umjubelten und preisgekrönten Debütroman "Der weiße Tiger" Fachmann für die Befindlichkeiten und Unmöglichkeiten der indischen Gesellschaft, legt jetzt einen solchen vor.
    "Golden Boy" verfolgt aus unterschiedlichen Perspektiven das Schicksal zweier Brüder, die in ärmsten Verhältnissen aufwachsen und mit ihrem ehrgeizigen Vater, einem Chutney-Verkäufer, im eigenen Land emigrieren, von Mangalore nach Mumbai, dem vormaligen Bombay, Finanzmetropole am Arabischen Meer, wo auch Aravind Adiga heute lebt.
    Die Geheimnisse des Cricketspiels
    Es ist sein dritter Roman nach "Letzter Mann im Turm", der auch schon in Mumbai spielte. Dabei erreichen beide Nachfolger nicht ganz die ironische Schärfe und originelle Finesse seines Erstlings. Seine respektlos frische Art hat er sich jedoch zum Glück erhalten. Das führt auch im neuen Buch dazu, Dinge beim Namen zu nennen, über die man nicht gern spricht, schon gar nicht in Indien. Etwa über die kriminell organisierte Manipulation von Cricketkämpfen, die in der Vergangenheit manch großen Skandal verursachte.
    "Es ist Betrug, und zwar von Grund auf. Nur zehn Länder spielen dieses Spiel. Und nur fünf davon spielen es gut. Wenn wir auch nur die geringste Selbstachtung hätten, würden wir endlich ein Volk werden und Fußball spielen. Aber nein: Statt uns echtem Wettbewerb auszusetzen, fühlen wir uns sicherer in einem World Cup gegen St. Kitts und Bangladesch. Wir sind von uns selbst besessen, ohne an uns zu glauben – das ist genau die Definition der indischen Mittelschicht, die diesen Betrugssport eben deshalb so sehr liebt."
    Adiga lässt seine Brüder Radha und Manju sowie ihren Vater innerhalb dieses korrupten Systems stranden wie Robbenbabys. Dabei unternimmt er erst gar nicht den Versuch, den Lesern die Feinheiten oder auch bloß die groben Regeln des Spiels zu erklären. Über wohl keinen anderen Sport sind solche gehässigen Bonmots im Umlauf wie über das angeblich langweiligste Spiel der Welt, das sich bekanntlich Tage lang hinziehen kann. Das führt im Falle dieses Romans dazu, dass sich das Nacherzählen von Spielverläufen für die Uneingeweihten zuweilen so öde ausnehmen kann wie ein in Echtzeit durchlebtes Cricket Match. Die dürftigen Angaben im angehängten Glossar helfen da auch nicht weiter. Wie viele Läufe welcher Schlagmann erzielt und was währenddessen die Feldspieler treiben, gehört zu den Mysterien dieses Romans.
    Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Dramaturgie als Erzählgerüst
    Doch das beunruhigt nur zu Beginn des Buches, das sich in seinem Verlauf zu einer Mischung aus Coming-of-Age und Coming-out-Geschichte auswächst, in der Cricket als Rahmen für ein besonders abgekartetes Spiel herhält.
    Auch zum Thema Männerliebe möchte einem spontan so gut wie kein anderer indischer Roman einfallen. Kein Wunder, gehört das Thema doch zu den großen Tabus der indischen Gesellschaft. Adiga nutzt das Thema, um die Freiheit des Einzelnen in der angeblich größten Demokratie der Welt abermals in den Blick zu nehmen. Dabei begleitet das Buch die beiden Jungen von ihren Teenagerjahren bis zum Alter von Ende 20.
    Wie schon in seinem Erstling nutzt Adiga eine Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Dramaturgie als Erzählgerüst. Auch diesmal ist das Groß-Rauskommen formuliertes Lebensziel der Protagonisten. Wie in allen seinen Büchern - außer den Romanen veröffentlichte er 2009 auch einen Erzählungsband - spürt Adiga dabei den Glücksversprechen der Großstadt ebenso hinterher wie den Unterschieden zwischen den Klassen und Religionen.
    Claudia Wenner hat das alles gewitzt ins Deutsche übertragen, ohne zu viel in seinen eigenen Slang einzugreifen. Diesmal erfährt man zudem viel über indische Väter und Kinder als Kapital. Dabei ist es wieder Adigas Fähigkeit zur Ironie, die seinen Erzählstil aufwertet.
    "Oh, ich lese schon manchmal indische Romane. Aber wissen Sie, wir Inder verlangen von der Literatur ja nichts Literarisches, zumindest nicht von der, die auf Englisch geschrieben ist, sondern Schmeicheleien. Wir wollen beseelt, sensibel, tiefgründig, heldenhaft, verwundet, tolerant und lustig dargestellt werden. Das ganze Jhumpa-Lahiri-Zeug. In Wirklichkeit sind wir jedoch nichts dergleichen."
    Alles nimmt er auf die Schippe, sich selbst wie die Cricket-Obsession seiner Landsleute, etwa, wenn er zwei Kellner beobachtet, wie sie ein Spiel auf dem Fernsehschirm verfolgen und in einem Nebensatz mutmaßt, es sei sicher live, oder vor zwei Jahren aufgezeichnet.
    Kurz: Adiga hat einen weiteren Roman geschrieben, an dem sich der Gesundheitszustand Indiens locker ablesen lässt.
    Aravind Adiga: "Golden Boy"
    Aus dem Englischen von Claudia Wenner, Verlag C.H.Beck, München 2016, 335 Seiten, Preis: 19,95 Euro