Freitag, 19. April 2024

Archiv

Neuer Roman von Hermann Kinder
Traurigkeit, Skepsis und Komik im Dreiklang

Er ist jung, hat hohe Ideale und scheitert am Ende daran: In seinem neuen Roman "Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit" nimmt der Konstanzer Autor die Leser mit auf eine Reise durch das kurze Leben eines talentierten Mannes. Und er durchquert mit ihnen acht Jahrzehnte. Ein Buch, das die Gegenwart mit der Vergangenheit konfrontiert und umgekehrt.

Von Sabine Peters | 12.09.2016
    Der Name des jungen Mannes, dessen Porträt Hermann Kinder in seinem neuen Buch zeichnet, ist abgekürzt auf den einzigen Buchstaben E. Ein Kürzel benutzt man, um eine Person zu schützen, um sie nicht öffentlich bloßzustellen. E kam 1941, mitten im Krieg, zur Welt. Sein früher Tod im Jahr 1963 war ein Selbstmord.
    Hermann Kinder, Jahrgang 1944, setzt den Roman aus drei unterschiedlichen Perspektiven zusammen, die im Buch auch optisch voneinander abgehoben werden. Von E selbst gibt es einige Tagebucheinträge, die schon durch ihre gewählte, manchmal pathetische Sprache erkennbar auf die 1950er, 1960er Jahre verweisen. Dann gibt es einen zurückgenommenen Erzähler; er spricht über E, seine Brüder und die Vergangenheit. Schließlich finden sich die aktuellen Notizen eines "Ich", dem jüngeren Bruder von E. Eine Figur mit Zügen von Kinder selbst.
    Dieses Verfahren schafft Distanz. Es geht nicht darum, das so früh endende Leben von E in eine mitreißende Geschichte zu verwandeln. Und doch eröffnen sich hier Dimensionen; einerseits ein Blick auf Zustände damals und heute, die zum Haareraufen sind, aber doch als ganz "normal" galten beziehungsweise gelten. Andererseits hat man es bei der Lektüre des Romans mit einer weiten Sprach-Landschaft zu tun, in der man Entdeckungen macht. Und natürlich kommt man E näher. Man versteht etwas von einem individuellen, doch in einigen Punkten verallgemeinerbaren Leben, das für viele heutige Leser auch einmal annähernd das eigene war.
    Früher war auch nicht alles besser
    E kaufte sich niemals Wasser in PET-Flaschen. Keiner wäre in den Nachkriegsjahren auf die Idee gekommen, Toilettenpapier, als es das wieder zu kaufen gab, sichtbar durch die Straßen zu tragen. E sah und aß keine Avocados, Auberginen, keine Zucchini. Pornoseiten im Internet waren ihm unbekannt. In der Öffentlichkeit sprach man nicht von "Mama und Papa", sondern von "Vater und Mutter"; das Private und das Öffentliche waren noch getrennte Sphären.
    Aber von wegen, "früher war alles besser": Der Ich-Erzähler ist ein Freund des technischen Fortschritts - etwa wenn es um eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt geht. Trotzdem kann und will er oft nicht Schritt halten bei all dem, was sich schleichend verändert. Einiges ärgert ihn herzhaft. Sind Exhibitionismus und Voyeurismus erst mit der Ausbreitung der digitalen Welt entstanden, die zunehmend auch die analoge Welt beeinflusst? Schon in Zeiten vor Facebook und Twitter gab es das, was soziologisch mit dem Ausdruck "Intimitätsbruch" bezeichnet wird: Lautstarke Selbstinszenierung in der Öffentlichkeit, die aufdringlich und peinlich werden kann.
    Trotzdem, kein Grund, sich die guten alten Zeiten der Ruhe und Abgeschiedenheit zurück zu wünschen: Wie viel Zwänge, wie viel Prüderie, Verlogenheit, Verklemmtheit! Auf dem Dorf, in dem E und seine Angehörigen in den Nachkriegsjahren lebten, hatte jemand die Camelia-Leuchtreklame eingeschlagen; es hieß, der Pfarrer habe ihn angestiftet. Oder: Der siebzehnjährige E fragt sich im Tagebuch von 1958 beklommen, ob moderne Dichter wie Sartre dauernd davon schreiben müssen, dass Männer und Frauen miteinander schlafen. Viele solche Details geben Anlass, über "Scham", die Befreiung davon oder deren Verlust nachzudenken.
    Hohe Ideale, Sinnsuche und der Wunsch zu sterben
    Besonders E selbst war wohl zeitlebens von Scham, Zweifeln und Selbstvorwürfen durchdrungen. Ein schlechter Schüler, dabei ständig mit Lektüre beschäftigt. Er schrieb Texte, die er für flach hielt. Im Tagebuch heißt es, ihm fehle innere Ruhe und Festigkeit, er sei zu feige, aber man werde doch nur im Kampfe mit der Umwelt und sich selbst ein Mann und ein ganzer Kerl. Nach einem Suizidversuch wurde er in die Psychiatrie eingewiesen, verließ die Schule ohne Abitur. Er wollte Schauspieler werden. Und schaffte die Prüfung, lernte an verschiedenen Schauspielschulen. Er war begabt. Er hatte Freunde, schrieb Prosa, war unglücklich und dann wieder glücklich verliebt. Aber die Selbstmordgedanken tauchten immer wieder auf, und 1963 brachte er sich um.
    Ein so behutsames wie produktiv verstörendes Buch. Man denkt beim Lesen oft, wie generationstypisch, und dann wieder, wie alterstypisch doch E in vielen Facetten war. Die jugendlichen Auseinandersetzungen mit hohen Idealen, der ungeheure Anspruch an sich selbst, die Suche nach dem Sinn des Lebens, die Hoffnung auf den Sinn durch Kunst und das Verzweifeln an ihr - das sind klassische Fragen und Konflikte, mit denen "Jugend" zu tun hat. Selbst heute sind nicht alle Jugendlichen nur damit beschäftigt, mit "irgendwas Kreativem" Karriere zu machen, sondern stellen sich Fragen, die denen von E ähneln.
    Hätte man E helfen können?
    Nur eben, E gehörte einer ganz anderen Generation an. Der Faschismus war offiziell vorbei und durchzog die Gesellschaft weiterhin. Bei E kam hinzu: Er war sozusagen durchgeknetet von einem Protestantismus der strengeren Art. Es gibt in seinem Tagebuch Sätze, die man nicht mehr als Selbstkritik bezeichnen kann, sondern die eine Selbstzerfleischung ausdrücken, die einem ins Herz schneidet. Bei der Lektüre von Kinders Buch fragt man sich natürlich auch, so wie der Ich-Erzähler: Hätte E selbst oder die Leute in seinem Umfeld etwas Winziges drehen können, damit ihm sein Leben leichter geworden wäre, oder damit er es eben ausgehalten hätte? Hätte. Wäre. Konjunktive, Möglichkeiten, die nicht erprobt werden konnten.
    Hermann Kinder fragt auch in seinem neuen Buch unter der Hand nach den Möglichkeiten, zu verstehen: Ist das Schreiben und Lesen eine Möglichkeit des Verstehens? Wollen wir Geschichten glauben? Gab es das Tagebuch des älteren Bruders E? Und wenn schon - der Ich-Erzähler sagt, er hat es nie gelesen! Dabei wird Kinders Roman kein beliebig postmodernes Spiel. Das Buch kennt Haltungen. Man hat es hier mit einem Dreiklang aus Traurigkeit, Skepsis und Komik zu tun. Ein konzentrierter, virtuoser Roman.
    Hermann Kinder: "Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit"
    Weissbooks Verlag, 220 Seiten, 20 Euro