Freitag, 29. März 2024

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Neues Opernfestival "Bayreuth Baroque"
Vibrar la voce!

Max-Emanuel Cencic trotzte der Pandemie: Zum Debüt seines neuen Festivals "Bayreuth Baroque" brachte der Countertenor und Regisseur gleich zwei Opern in voller Länge auf die Bühne. Darunter mit Niccolo Porporas "Carlo il Calvo" eine "vibrierende" Neuentdeckung in hochkarätiger Besetzung.

Am Mikrofon: Kirsten Liese | 11.10.2020
    Links steht ein Mann im schwarzen Anzug mit goldenen Knöpfen und streng nach hinten gekämmten Haaren. Er stützt die rechte Hand auf einen Spazierstock, die linke ruht auf der Schulter eines jungen Mannes mit Hornbrille, der verängstigt ein Buch umklammert hält.
    Max Emanuel Cencic (links) als Bösewicht Lottario neben seinem Sohn Adalgiso in Gestalt von Franco Fagioli. (Bayreuth Baroque/Falk von Traubenberg)
    Bayreuth hat ein neues Opernfestival: das Bayreuth Baroque Opera Festival. Die Hoffnung, dass es in diesem Spätsommer plangemäß würde stattfinden können, nachdem schon die alt eingesessenen Richard Wagner Festspiele wegen der Corona-Pandemie ausfielen, war nicht gerade groß. Aber Countertenor und Regisseur Max Emanuel Cencic, der das Festival gegründet hat, trotzte der Pandemie und setzte eine ungekürzte Aufführung durch: "Mir ging es darum, nichts von den Festspielen, was ich vorhatte, zu kürzen oder zu ändern. Ich finde es gibt nichts Deprimierenderes, wenn man in ein Opernhaus reinkommt und dann nur 200 Leute drinnen sitzen, und dann muss man sich noch eine gekürzte Oper mit Abstand und irgendwelchen Pseudoinszenierungen anschauen, die uns ständig an die Corona-Zeit erinnert. Ich wollte, dass das Publikum einmal für vier, fünf Stunden hier die Welt um sich vergisst."
    Musikalischer Hochleistungssport
    Im prächtigen Markgräflichen Opernhaus inszenierte er die knapp fünfstündige Oper "Carlo il Calvo" – zu Deutsch "Karl der Kahle" – von Nicolo Antonio Porpora. Die Oper wurde im Frühjahr 1738 im frisch renovierten Teatro Delle Dame uraufgeführt. Es ist eine typische Opera seria, die alle Erwartungen des Publikums damals erfüllte: Flotte Tempi, dramatische Arien, kraftvolle Rhythmen – alles in allem musikalischer Hochleistungssport, für die Sängerinnen und Sänger ebenso wie für Dirigent und Orchester.
    Die Handlung von Porporas Oper "Carlo il Calvo" geht ins Mittelalter zurück und rankt sich um die Nachfahren des Kaisers Ludwig der Fromme. Der hatte nacheinander zwei Frauen geheiratet, Irmgard und Giuditta. 817 nach Christus teilte er sein Reich und machte seinen Erstgeborenen Lottario zum Mitkaiser. Auf Betreiben seiner zweiten Frau revidierte er zwölf Jahre später sein Testament und setzte seinen und Giudittas sechsjährigen Sohn Karl, den Titelhelden von "Carlo il Calvo", zum Herrscher über Gebiete ein, die er Lottarios Erbe entzog.
    Aus dieser Konstellation entspinnt sich der Konflikt: ein erbitterter Erbschaftsstreit, angeführt von dem machthungrigen, fiesen Lottario. Er entführt den kleinen Karl und will ihn sogar ermorden. In Mitleidenschaft der Streitigkeiten geraten zudem zwei weitere junge Mitglieder der Familie: wie Romeo und Julia dürfen auch sie ihre Liebe zunächst nicht ausleben – bis schließlich dank glücklicher Wendungen alles gut ausgeht.
    Spezielle Gesangstechnik "vibrar la voce"
    Als bedeutender Gesanglehrer arbeitete Porpora mit seinen Schülern an der Vollendung seiner Arien. Es mag erstaunen, dass er kein Lehrbuch hinterlassen hat. Aber der Dramaturg Boris Kehrmann stellt die These auf, dass Porporas Opern selbst dieses Lehrbuch sein könnten. Zumal in den Arien die Technik des "vibrar la voce", also dem Beben der Stimme, viel Gewicht zukommt. Es war sehr stilbildend für Porpora, sagt Kehrmann: "Man kann das zurückführen auf die höfischen Sujets, die er vertont hat. Der Hof ist ein sehr reglementierter Ort, an dem man sich an Konventionen, an Regeln halten muss, und er ist ein Haifischbecken, wo man ständig beobachtet wird von Rivalen, die einen stürzen wollen, damit sie meinen Platz einnehmen können. Das heißt, die Menschen, die dort agieren, müssen ihre Gefühle verstecken und unterdrücken. Und diese unterdrückten Gefühle erzeugt bei Porpora dieses Vibrieren der Stimme, es ist Erregung, man sagt ja auch jemand bebt vor Zorn. Und bei Porpora kann es aber nicht nur Zorn, nicht nur negative Gefühle sein, die unterdrückt werden, sondern auch positive Gefühle, man kann auch vor Glück, vor Erregung vibrieren die Stimme."
    Konzertante Oper "Gismondo, Re di Polonia"
    Als zweite Oper in seinem Bayreuth Baroque Opera Festival setzte Max Emanuel Cencic das Musikdrama "Gismondo, Re di Polonia" aufs Programm. Komponiert wurde es von Leonardo Vinci - nicht zu verwechseln mit dem Maler Leonardo da Vinci. "Gismondo, Re di Polonia" wurde 1727 für Rom komponiert und handelt von zwei Königen: einem guten namens Gismondo und einem schlechten namens Primislao. Es sind fiktive Figuren, die aber auf historische Vorbilder anspielen: In Gismondo spiegelt sich der dänische König Frederick als ein großmütiger Sieger. Hinter dem aufbrausenden Primislao verbirgt sich Fredricks Gegenspieler Herzog Friedrich IV. von Holstein-Gottorf, also dem heutigen Schleswig-Holstein. Und wie in Porporas "Carlo il Calvo" lieben sich auch hier die Kinder der Antipoden, Otone, Gismondos Sohn, und Cunigonda, die Tochter Primislaos. Konflikte entstehen hier durch unbegründeten Verdacht. Cunigonda hält Otone für einen Verräter und will den angeblich Treulosen verstoßen, aber am Ende lösen sich ihre falschen Annahmen auf und dem Glück der Liebenden steht nichts mehr im Wege.