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Neues vom Tanzmeister

Es gibt nur wenige Choreografen denen es gelingt, Tanz zum eigenen Genre unabhängig von der Begleitung durch Musik wachsen zu lassen. Der Amerikaner William Forsythe ist einer von ihnen. Im Bockenheimer Depot in Frankfurt hat der Tänzer und Choreograf sein neues Stück präsentiert: "I don't believe in outer space".

Von Ruth Fühner | 21.11.2008
    Einer reißt mit großer Geste den Mund auf, aber was daraus opernhaft-wohltönend hervorquillt, sind bloß Scherben von Melodien. Eine tritt auf zu Discomusik, als wäre das Publikum eine Chorusline, der es eine Schrittfolge "anzudomptieren" gilt. Vorher hat dieselbe Frau, eingemummt in viele Lagen gemusterten Stoffs, mit Mundschutz und Kopftuch ganz weit hinten am Bühnenrand einen Einkaufswagen entlang geschoben. Ein anderer hat sich zwei große Bälle in die Hose gesteckt, hinten, und stakst über die Bühne wie ein Huhn. So viel Vielfalt war schon lang nicht mehr bei William Forsythe, und so viel Farben: hell und düster, grell und pastell, komisch und abgrundtief melancholisch.

    Und ja, es ist genial, wie Forsythe das macht: wie er unterschiedlichste Atmosphären und Diskurse in ihre Bestandteile zerlegt, winzige wieder erkennbare Partikel isoliert und mit seiner originären Tanzsprache kombiniert - es entsteht ein Kosmos, der immer unverkennbar Forsythe ist, der Horizonte aufreißt, in denen jeder allein ist mit seinen Assoziationen und die trotzdem ihren jeweils eigenen rätselhaften Duft haben.
    Diesmal liefert Forsythe sogar so etwas wie sein choreografisches Credo dazu an die Hand.

    Der Boden liegt voll mit etwas, das aussieht wie die Überreste eines Meteoritenschwarms, eine stille Widerlegung des Titels dieser Choreografie, die ja vorgibt, nicht an einen Raum "da draußen" zu glauben. In einer Art kollektivem naturwissenschaftlichen Vortrag doziert die Truppe - mit synchronen Lippenbewegungen, aber nur einer Stimme - über explodierende, chaotisch herumwirbelnde Teilchen, die es unmöglich machen, von einem einzigen Standpunkt aus alles zu verfolgen.

    Genau das ist der Kern von Forsythes Ästhetik, die Dezentrierung des Körpers und des Blicks - und die Konsequenz daraus ist, zumindest an diesem Abend, eine fast achtlose Großzügigkeit, mit der er seine Einfälle herschenkt, als schöpfte er aus einer unerschöpflichen Fülle. Und immer erhascht man als Zuschauer nur einen Bruchteil des gleichzeitig Geschehenden.

    Da verrutscht eine gutnachbarliche Teeparty ins Dämonische, eine lockere Straßenszene tut sich auf, ein Hauch von orientalischer Magie liegt in der Luft, wenn hinter einer Spielkarte - einem Joker - überraschend immer neue Akteure auftauchen. Zweimal wird ein elegischer Pas de deux konterkariert durch einen dritten, buffonesk-närrischen Tänzer, und man erkennt, wie klassisch Forsythes Stil inzwischen geworden ist - er hat bereits seine eigene Parodie hervorgebracht. Dann wieder erinnern die verrenkten Körper und grotesk verformten Gesichter der großartigen Tänzerinnen und Tänzer an die gewalttätigen Bilder von Francis Bacon.

    Die enge Umschlingung zweier Männer zum Beispiel, bei der man nicht weiß, ob sie ringen oder einander foltern, einander beschützen oder in einem seltsamen Liebesakt vereint sind. Und überhaupt: je länger der Abend dauert, umso unübersehbarer auch handelt er von Liebe und Tod und Endzeit. Und sein Höhepunkt ist sicher der Auftritt der großen Dana Caspersen mit Screamin' Jay Hawkins "I put a spell on ya" - der fast tonlose Verzweiflungsschrei, der gnomenhafte Fluch einer verlassenen, allein gelassenen Seele. Und auf einmal hat es dann doch seine Richtigkeit mit dem Titelsatz: In unserer Trostlosigkeit bleibt uns vorläufig nichts übrig als uns radikal im Diesseits einzurichten, "I don't believe in outer space".