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Neuester Stand des "Sozialismus mit menschlichem Antlitz"

Wer damals welche Strippen zog, war lange Zeit mehr Legende als Wissen. Erst nach der Wende konnten Historiker das Blutvergießen aufarbeiten - zuletzt auch mit Akten aus dem ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Das Volumen des nun vorliegenden Doppelbandes zeigt, wie wenig wir im Detail wussten: 2900 Seiten umfasst ein facettenreiches Werk zum Prager Frühling, 80 Historiker und Zeitzeugen haben sich daran abgearbeitet.

Rezensiert von Dietrich Möller | 18.08.2008
    Bis auf den heutigen Tag sind noch zwei Fragen zu dem vor 40 Jahren begonnenen und gescheiterten politischen "Prager Frühling" offen, eine durchaus relevante und eine hypothetische. Die erste lautet: Welches Gewicht hatte der Umstand, dass die Sowjetunion bis zum 21. August 1968 keine Truppen in der Tschechoslowakei stationiert hatte, für die militärische Okkupation? Und die andere: Was wäre geschehen, wenn der Prozess der Demokratisierung nicht durch den Einmarsch abgebrochen worden wäre? Sind also die Phasen und Facetten der innertschechoslowakischen Entwicklung schon vorzüglich bearbeitet, so werden sie nicht minder akribisch ergänzt durch die jeweiligen Reaktionen der Führung in Moskau und der in den sogenannten Bruderländern, wo die Prager Reformen schon bald als Bedrohung des überkommenen Systems empfunden wurden. Das war außerhalb des kommunistischen Lagers nicht anders, und so war es nur naheliegend, auch Echo und Verhalten der nichtkommunistischen Staaten Europas zu untersuchen, bis hin zu den beiden anderen Atommächten USA und China. Mehr noch, ausführlich werden die Aktivitäten der Geheimdienste dargestellt, die Aufnahme des politischen Frühlings in den damaligen Sowjetrepubliken Weißrussland, Ukraine, Estland, Lettland und Litauen sowie im Kaukasus. Was man vor 40 Jahren eher annahm als wusste, findet heute auf der Grundlage von Dokumenten handfeste Bestätigung: Der sich während sieben Monaten beschleunigende Umbruch in der Tschechoslowakei war nicht nur so etwas wie eine von den kommunistischen Führungen in der Nachbarschaft gefühlte Gefahr für ihre Existenz, er war es auch tatsächlich. Und dennoch:

    "...die Positionen der einzelnen Akteure im Kreml waren keinesfalls immer so eindeutig [ ... ] Zählte beispielsweise Kossygin zunächst zu den Scharfmachern, nahm er nach seiner Reise in die CSSR eine 'moderatere' Rolle ein. KGB-Chef Andropow wiederum sah die Ereignisse [ ... ] durch die Brille der selbst miterlebten Situation in Ungarn 1956 und trug das Seine dazu bei, die Lage zu überspitzen und die Politbüro-Mitglieder teilweise falsch zu informieren, um Argumente für eine drastische 'Lösung' zu liefern. Es kann als gesichert gelten, dass Breschnew eine 'politische Lösung' bevorzugte, keinesfalls jedoch eine militärische Invasion ablehnte oder gar zu dieser überredet werden musste."

    Bleiben wir angesichts der 70 Beiträge bei einigen wenigen Aspekten. Der Einfluss der Führungen anderer regierender Kommunistischer Parteien auf den Entscheidungsprozess war bislang oft als peripher bezeichnet und damit unterschätzt worden. Die in dem vorliegenden Werk veröffentlichten und analysierten Dokumente, vor allem Stenogramme gemeinsamer Konferenzen, besagen das Gegenteil. Während der ungarische Parteichef Kadar stets eine vermittelnde Position einnahm und andeutete, erst eine militärische Intervention würde die von den anderen immer wieder zitierte "Konterrevolution" provozieren, suchten der Pole Gomulka, der Bulgare Schiwkow und vor allem SED-Chef Ulbricht die Entscheidung für ein massives Eingreifen zu forcieren.

    "Ulbricht sprach als Erster von einer 'Konterrevolution' in Prag, unterstützt wurde er hierbei wesentlich von Schiwkow und Gomulka. Diese sahen auch innerhalb der KPC-Führung ein 'zweites Zentrum', später sogar ein drittes, jüdisches, ganz in der Sprache der Altstalinisten."

    Hier ist eine Erläuterung angebracht.

    "Der Begriff 'Zentrum' hatte in der Parteisprache der Kommunisten eine blutige Bedeutung. Die Angeklagten der Moskauer Schauprozesse, die ab 1936 in Moskau stattgefunden hatten, wurden durch 'Zentren' unterschieden. Der erste Schauprozess gegen die alten Bolschewiki richtete sich gegen das 'trotzkistisch-sinowjewsche Zentrum', im Januar 1937 wurde das 'illegale so genannte sowjetfeindliche trotzkistische Parallelzentrum' abgeurteilt."

    Merkwürdigerweise gab es bisher keine eindeutige Erklärung dafür, dass zwei Divisionen der DDR-Streitkräfte zwar für den Einmarsch und ein fixiertes Operationsgebiet bereitgestellt waren, jedoch nicht eingesetzt wurden. So hält sich - zugunsten der damaligen politischen und militärischen Führung der DDR - die Version, diese Entscheidung sei auf deutschen Wunsch zustande gekommen. Das ist falsch. Und das Gegenteil ist richtig. Im Stenogramm der Gespräche, die die sowjetische Führung am 23. August `68 mit dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Svoboda und dessen Begleitung im Kreml begannen, lautet die Antwort Parteichef Breschnews auf eine entsprechende Frage:

    "Es ist ganz sicher, dass keine deutschen Soldaten auf dem Territorium der Tschechoslowakei waren. Wir haben sie zurückgehalten [ ... ] Unter uns gesagt, die deutschen Genossen waren beleidigt, dass man ihnen irgendwie Misstrauen entgegenbrachte."

    Und aus den Protokollen erfahren wir, dass es moskautreue Gegner Dubceks waren, nämlich Vasil Bilak und Alois Indra, die darum gebeten hatten, wie auch überhaupt um den Einmarsch. Auf Dauer freilich sollten die sowjetischen Truppen in der Tschechoslowakei bleiben, auch das geht aus den Protokollen hervor. Und das lässt uns zu der einen eingangs gestellten Frage zurückkommen, ob auch strategische Überlegungen der Militärs für die Okkupation relevant waren. Sie reichen in die Zeit vor Dubcek zurück, in die Amtszeit seines Vorgängers Novotny:

    "Eine wesentliche Rolle spielte [ ... ] der [ ... ] Widerstand Novotnys gegen die Stationierung sowjetischer Truppen [ ... ] Bereits 1965 forderte Breschnew von Novotny die Stationierung von drei sowjetischen Raketenabteilungen, ein Jahr später die Stationierung von zwei sowjetischen Divisionen. Novotny lehnte ab."

    Den Sowjets war es damals offenbar um die Schließung der Sicherheitslücke zwischen ihrer nördlichen Militärgruppe in Polen und der südlichen in Ungarn gegangen. Mit dem Einmarsch war sie geschlossen. Nun zu der anderen, der hypothetischen Frage: Und wenn der "Prager Frühling", der Reformkommunismus mit dem Ziel eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" nicht niedergewalzt worden wäre? Jan Pauer, der Autor des letzten Beitrags:

    "Der Reformkommunismus [ ... ] war ein Übergangsphänomen. Er war kein Beginn einer neuen, andersartigen sozialistischen Moderne, sondern ein Krisensymptom des alten Sowjetkommunismus [ ... ] Trotz der [ ... ] programmatischen und ideologischen Beschränkungen war der gesamtgesellschaftliche Prozess des Jahres 1968 eine Systemtransformation, die ohne Gewalt nicht mehr zu stoppen gewesen ist."

    Wenn Pauer hier als einziger namentlich zitiert wird, so ist das keine Abwertung all der anderen Autoren; sie alle haben ein höchst anspruchsvolles Unternehmen umfassend und mustergültig realisiert. Das gilt für beide Bände gleichermaßen, den ersten mit den Einzelbeiträgen und deren umfangreiche Quellennachweise wie den zweiten als reine Quellenedition, deren größter Teil aus bislang unter Verschluss gehaltenen Gesprächsprotokollen aus dem Archiv des ehemaligen ZK der sowjetischen Kommunisten besteht; alle Dokumente sind zweisprachig abgedruckt, deutsch und russisch.

    Stefan Karner u.a.: Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Böhlau Verlag, 2 Bde, 1296 und 1589 Seiten, jeweils 49,90 Euro.