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New York
In die Kneipe zum Gebet

Die USA - das Land der unbegrenzten Möglichkeiten - auch was Gottesdienste angeht. So wird zur Predigt von Reverend Vince Anderson in New York auch schon mal ein Glas Whiskey gereicht. Denn seine Kirche ist eigentlich eine Bar und heißt Barstool Tabernacle.

Von Martin Becker | 15.01.2015
    Blick auf den East River mit Manhattan im Hintergrund, aufgenommen vom Ufer in Williamsburg, Brooklyn, New York am 22.06.2014
    In Brooklyn befindet sich das Barstool Tabernacle (picture alliance / dpa / Alexandra Schuler)
    Ein rund 40-jähriger Mann sitzt an einer Bar in Brooklyn und plaudert und lacht. Irgendwas fehlt in seinem Cocktail. Der Barmann gibt ein bisschen mehr Sirup in den Drink, jetzt ist alles gut. Und das kurz vor der Predigt. Denn der Typ auf dem Barhocker heißt Reverend Vince Anderson und hat eine eigene Kirche. Barstool Tabernacle. Übersetzt heißt das so viel wie: "Barhocker Tabernakel". Die Gemeinde besteht aus Menschen, die gern in die Kneipe gehen, denen dieser Ort wortwörtlich heilig ist – und an dem man sich eben auch zum Gottesdienst trifft.
    "Bei uns in Amerika geht man in die Kirche, in der man sich wohlfühlt. Die Menschen hier gründen genau jene Kirchen, die ihrer Persönlichkeit entsprechen – also, warum sollten wir das nicht auch tun?"
    Den "Barhocker Tabernakel" gibt es seit einigen Jahren – hervorgegangen ist die Gemeinde aus der mittlerweile in Minnesota ansässigen "Revolution Church", die von sich selbst behauptet, seit nunmehr 20 Jahren Religion zu zerstören – zumindest das Klischee davon. So ist das Motto des "Barstool Tabernacle" nur folgerichtig – man soll ruhig irritiert sein:
    "Wir ringen mit den biblischen Texten und mit den vorgefertigten Auffassungen von dem, was Christentum oder Religion ist."
    Fast jeden Sonntag ist Wade Bowen beim Kneipengottesdienst dabei. Ein junger und freundlicher Typ, für den das "Barstool Tabernacle" einen praktischen Vorzug hat: Man trifft sich nicht in aller Herrgottsfrühe, sondern erst um vier Uhr nachmittags.
    "Ich komme schon lange her. Ich bin bei der 'Revolution Church' eingestiegen, das ist vielleicht sieben Jahre her. Soweit ich weiß, bin ich derjenige, der am längsten dabei ist."
    Entspannte Gespräche statt Dogmatismus
    Wade Bowen genießt die Freiheit, die man beim "Barstool Tabernacle" hat: entspannte Gespräche, kein dogmatisches "Du musst" und "Du darfst nicht" und "Du sollst". Ein ziemlicher Unterschied zu den Kirchen, mit denen er aufgewachsen ist: Er kommt aus dem Süden der USA, der vom konservativ-evangelikalen Protestantismus dominiert wird.
    "Ich bin im Südosten aufgewachsen, im Bible Belt, dem sogenannten Bibel-Gürtel. Ich fühle mich einfach viel wohler, in eine Bar zu kommen. Ich habe zwar in den traditionellen Kirchen keine Schäden davon getragen – viele andere aber schon."
    Nach dem ersten Drink wechselt die Gemeinde ins Hinterzimmer der Kneipe. Reverend Vince Anderson sitzt jetzt auf einem Barhocker vor dem Mikrofon und predigt. Er beginnt mit einer Meditation. Ein Gedicht des amerikanischen Schriftstellers und Umweltaktivisten Wendell Berry, das mit den Worten endet: "All you need is here"– Alles, was du brauchst, ist hier.
    Knapp eine halbe Stunde redet der Reverend. Er kommt von seinen übertriebenen Erwartungen an seine eigene Freundin zu unseren zu hohen Erwartungen an uns selbst und dann zur Idee des Unvollkommenen und Unperfekten an sich. Und daraus könne Gnade erwachsen, predigt Vince Anderson.
    Ob der Reverend Bibelstellen zitiert, von seinen eigenen Erfahrungen berichtet oder zwischendurch auch mal flucht – das alles ist mitreißend und hat einen eigentümlichen Rhythmus. Was kein Wunder ist, schließlich ist der Prediger auch Musiker. Jeden Montag steht er auf einer Brooklyner Bühne und spielt, nennen wir es mal, schmutzigen Post-Gospel-Blues mit seiner Band.
    Beim "Barstool Tabernacle" allerdings gibt es ganz bewusst keine Musik – gut für diejenigen, sagt Vince Anderson, die womöglich von Kirchenmusik traumatisiert worden sind.
    "Besonders in afroamerikanischen Gemeinden, der sogenannten Black Church, hat es eine lange Tradition, dass der Prediger auch Musiker ist. Auch, wenn er nicht singt, es gibt da diesen musikalischen Duktus. Ich sehe mich in dieser Tradition. Der Unterschied ist nur, dass ich in einer Bar stehe – was sich gut anfühlt und zugleich verwirrend."
    Nach der Predigt beginnt ein Poetry Slam
    Nach der Predigt beginnt im Hinterzimmer ein Poetry Slam. Die Gemeinde setzt sich mit ihrem Reverend an einen Tisch in der Nähe der Bar. Man redet über den Gottesdienst, über das eigene Leben – oder aber auch darüber, in welcher Suppenküche in Brooklyn in nächster Zeit noch Helfer gebraucht werden. Es ist vielleicht nicht die größte Kirchengemeinde, der "Barhocker Tabernakel" – aber ganz sicher eine der entspanntesten, offensten – und, machen wir uns nichts vor, wohl auch trinkfreudigsten Kirchen der USA.
    "Es ist eine wirklich gute Gemeinschaft. Man kommt hierhin, wenn man Zeit hat, niemand erwartet, dass man jede Woche da ist – und niemand guckt einen schräg an, wenn man mal fehlt. Das ist das Schöne."