Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Nicht alles, was merkwürdig ist, muss gleich Fantasy sein

Jonathan Swifts "Gullivers Reisen" ist vielleicht ein Prototyp für einen Roman, der durch fantastische, irreale Welten führt und doch ganz nah an der tatsächlichen Erfahrung der Leser bleibt - selbst 400 Jahre nach seinem ersten Erscheinen. Seltsame Welten spielen auch heute in Kinderbücher eine Rolle, ohne sich gleich in überbordende Fantasy-Universen zu verwandeln.

Von Florian Felix Weyh | 09.07.2005
    Streng genommen ist er ganz normal. Jedenfalls fühlt er sich so, der Wundarzt Lemuel Gulliver. Doch als es ihn nach einem Schiffbruch auf eine rettende Insel verschlägt, ahnt er nicht, dass sein Begriff von Normalität einen raschen Wandel erfahren wird. "Menschberg" nennen ihn die Bewohner der Insel Lilliput, nicht ohne triftigen Grund. In ihrem Reich gelten nämlich bescheidenere Größenverhältnisse als in Gullivers Heimat England, mithin auch besondere Regeln für denjenigen, der diese Maßstäbe in dramatischer Weise sprengt:

    "Gullivers Reisen", ein Klassiker der Weltliteratur. Mal verniedlicht für die Kleinen, mal breit kommentiert für erwachsene Leser, um die satirischen Anspielungen auf die englische Politik des frühen 18. Jahrhunderts zu erschließen. Dass dieses Werk bis heute Bestand hat und eben in einer neuen Hörbuch-Auswahl mit Rufus Beck erschienen ist, verdankt es neben seinem Witz der Tatsache, anders als die großen philosophischen Utopien eines Thomas Morus oder Tommaso Campanella als realistischer Abenteuerroman konzipiert worden zu sein. Die seltsamen Welten des Jonathan Swift haben sich auch nach vierhundert Jahren nie so weit vom Leben der jeweiligen Leser und Zuhörern entfernt, dass sie nicht von jeder Generation neu verstanden werden könnten. Damit erweist sich Swift als würdiger Patron der heutigen Sendung, in der es um literarische Regionen geht, die einen Schritt weit von der Realität abrücken, ohne sich gleich in überbordende Fantasy-Universen zu verwandeln. Seltsame Wesen wie die "Gapper von Frip" kommen darin genauso vor wie ungewöhnliche Erfahrungen mit Raum und Zeit.

    " Fischbrötchen auf Fahrrad. Die Kinderwelt als Prinzip Unordnung."

    Alles beginnt, wo wir als kleiner Mensch die überaus große Welt betreten. Darin - wir haben es nur vergessen! - kommt einem ziemlich alles wunderlich vor; im Umkehrschluss ist das Wunderliche für kleine Kinder nicht besonders ungewöhnlich. Eine Schildkröte namens Fischbrötchen erstaunt nur kurz. Sieht sie nicht exakt so aus, eine Fischboulette zwischen zwei Brötchenhälften? Genau! Und Fahrradfahren kann sie auch:

    " Fischbrötchen fuhr auf dem Fahrrad zur Weltmeisterschaft. "Halt", sagte ein Polizist, "Sie fahren auf der falschen Straßenseite!"
    "Arme Straßenseite", sagte Fischbrötchen zur Straßenseite, "hast du gehört? Du bist falsch!"
    "Sie heißen?"
    "Fischbrötchen", sagte Fischbrötchen.
    "Ich will nicht wissen, was Sie am liebsten essen, ich will Ihren Namen wissen!"
    "Aber Fischbrötchen ist mein Name", sagte Fischbrötchen, "und am liebsten esse ich Currywurst mit Marmelade."
    "Ausweis!", sagte der Polizist streng.
    "Aus Weiß ist Kreide, ich bin aus Schild und aus Kröte", sagte Fischbrötchen.
    "Unerhört, eine Schildkröte auf dem Fahrrad", sagte der Polizist.
    "Wie kommt denn so was?"
    "Weil meine Rollschuhe beim Rollschuster sind."
    "Und wo wollen Sie denn so schnell hin?"
    "Zur Weltmeisterschaft im Langsamlaufen, zur Endausscheidung."
    "So ein Quatsch, wer macht denn da mit?", fragte der Polizist.
    "Die Schnecke, der Mistkäfer und ich natürlich", sagte Fischbrötchen.
    "Es gibt Sachen, die gibt es gar nicht", murmelte der Polizist und dann sprach er: "Und jetzt fahren Sie mal weiter. Aber schnell, und auf der richtigen Straßenseite!" "
    [Frederik Vahle "Fischbrötchen", S. 101 f.]

    Der als Kinderliedermacher erfolgreiche Frederik Vahle gibt dem Affen Zucker. In "Fischbrötchen - Aus dem Leben einer naseweisen Schildkröte" regieren Kalauer, Wortspielereien und der Vorsatz, die Welt komischer finden zu wollen, als sie gemeinhin ist. Die kleine Schildkröte nämlich kann sich nicht so recht entscheiden, ob sie eher der Fraktion der Dadaisten oder jener der kindlichen Philosophen angehören will. Vielmehr: Naseweis an dem Buch ist nicht die Heldin, sondern der Autor. Einige seiner Geschichte spiegeln die Hinterfragungslust von Vier- bis Sechsjährigen, die Mehrheit allerdings dokumentiert auf eine für elterliche Vorleser eher peinigende Weise das verkrampfte Bemühen, die Ketten realistischen Erzählens durch permanente Überdehnung der Sinnzusammenhänge zu sprengen. Obwohl manchmal nur parabelhaft kurz, enthalten die Texte keine tieferen Anspielungen, sondern ziehen sich stattdessen auf sprachliche Selbstrefenzialität zurück. Etwa im viel zu abstrakten Wortwitz mit der "Gipfelkonferenz". Die volle Geschichte:

    " In der Schweiz war wieder einmal eine Gipfelkonferenz. Alle hohen Berge waren gekommen. Der Gotthard, die Zugspitze und sogar der Kilimandscharo. Nur der Vesuv war nicht dabei ... wegen des Rauchverbots. Aber diesmal ... wer kam da zur Tür herein? Fischbrötchen!
    "Das ist ja wohl die Höhe!", sagte die Zugspitze.
    "Nein, das ist der Gipfel", sagte der Gotthard.
    "Aber, Herr Kollege", sagte der Kilimandscharo, "wer wird sich denn über so was ärgern?"
    "Da könnte ja jeder Maulwurfshaufen kommen, schließlich sind wir hier auf einer Gipfelkonferenz", sagte der Gotthard.
    "Aber Maulwurfshaufen haben keine Beine, doch ich habe welche!", sagte Fischbrötchen.
    "Nix da", sagte der Gotthard, "du musst die Gipfelkonferenz verlassen!"
    Die hohen Herren wollten unter sich sein. Und noch aus der Ferne hörte Fischbrötchen, wie sie mit donnernden Stimmen das Gipfellied sangen: "Über allen Gipfeln ist Ruh ..." "
    [Frederik Vahle "Fischbrötchen", S. 115]

    Verlassen wir diese Hochgebirgszüge, wo die Luft zum Atmen (und Lachen) fehlt, und reisen in ein Paralleluniversum, das neben jedem Kinderzimmer existiert, sofern die Kinder schon lesen können. Hier beginnt ein beliebtes, wenngleich grundsätzlich schwieriges Unterfangen der Literatur: Das Erzählen einer Geschichte in der Geschichte, wobei die Grenzen zwischen Erleben, Erzählung und aktiver Fortschreibung des Textes ineinander übergehen. Zu kompliziert? Hören wir einmal hinein:

    " Vielleicht war hinter dem Ende aller Geschichten gar nichts mehr, nicht einmal ein Ende von etwas anderem oder ein neuer Anfang. (...) Daran dachte ich manchmal, wenn ich nicht schlafen konnte. Dann dachte ich zuerst an mein Bett und dann an mein Zimmer und dann an unser Haus und dann an unsere Straße und dann an unser Viertel und dann an unsere Stadt und dann an unser Land und dann an die Welt und dann an die Planeten und dann ans Weltall. Das Weltall war eigentlich zu groß zum daran Denken, aber es war trotzdem in meinem Kopf. Dann dachte ich, dass das Weltall hinter den Planeten nicht zu Ende war, dass es immer weiterging. Vielleicht war es ja gar kein Weitergehen, sondern eher so eine Art Immergleichbleiben. Vielleicht hatte dort die Zeit aufgehört oder noch nicht angefangen. Dann war es im Weltall auch einerlei, wo man war und wohin man ging. Denn wenn man vom einen Ort zum andern ging, kostete das Zeit. Wenn es aber keine Zeit gab, bewegte sich also nichts. Das dachte ich. Es war eine Art unendliches Alles. Aber etwas, das keine Zeit hatte und sich nicht bewegte, war auch eine Art Nichts. Im Weltall war also alles nichts. Und nichts war alles. "
    [Joke van Leeuwen: "Weiß nich", o.S.]

    Joke van Leeuwens "Weiß nich" ist zunächst einmal ein Jubelbuch. Von - erwachsenen! - Kritikern begeistert aufgenommen und als preisverdächtig gehandelt. Nicht ohne Grund, denn das Buch der niederländischen Künstlerin ist auf den ersten Blick verlockend schön. Auf den zweiten ist es Kunst, und genau das macht es problematisch. Dieses Buch, ausgewiesen für Leser ab acht Jahren, will viel: Schöpfungsmythos auf hundert Seiten sein, ein Gesamtkunstwerk aus Wort, Bild und Schriftbild. Der Inhalt ist rasch erzählt: Der namen- wie geschlechtslose Held - tendenziell ein Junge - wartet auf seine Gutenachtgeschichte, da klingelt das Telefon und raubt ihm die Mutter. Kaum ist sie weg, plumpst ein kleines, gelbnasiges Wesen aus einer anderen Geschichte in sein Bett. Es ist das "Weißnich", weil es über sein Woher und Wohin keine Auskunft geben kann. Beide machen sich nun mittels der literarisch-magischen Beschwörungsformel "Es war einmal" auf die Reise ins Nirgendwo und Überall, passieren unzählige Geschichtenabzweigungen, Sackgassen des Erzählens, bis sie endlich an den Ausgangpunkt des Sturzes vom "Weißnich" kommen, und die imaginäre Reise ihr Ende findet. Visuell ein Atem raubendes Abenteuer, das alles bietet, was sich zwischen zwei Buchdeckel pressen lässt: Collagen wie Comics, typographische Kapriolen wie strenge Federzeichnungen, Fotografien wie handschriftliche Passagen. Hier hat sich jemand auf ganzer Linie künstlerisch ausgetobt, und das geht nur zur Hälfte gut. Denn diese Schule des Sehens bezieht ihre Spannung ausschließlich aus den visuellen Reizen, der Text kann dem Bild kaum folgen und hechelt oft hinterher. Er neigt zu seriellen Redundanz, liebt es, dunkel und tief zu gründeln und liefert erkennbar oft nur einen Vorwand für die ausschweifenden Bilderphantasien der Autorin. Der Sturz des "Weißnich" leitet zwar eine rasante Reise ein, doch für jene Kinder, die geordnete Strukturen schätzen - nach Erfahrung des Rezensenten die Mehrheit der jungen Leser - bleibt das Buch ein schwerverdaulicher Brocken aus den Schatzkammern der Erwachsenenkultur. Ja, es dezentriert die Sinne, was moderne Kunst nun einmal an sich hat, doch möglicherweise leistet es damit einen Bärendienst an der vertretenen Sache. Ein Buch, das typographisch so nervt wie ein verstimmtes Klavier schlägt man schneller wieder zu, als man es neugierig aufgeklappt hat.

    " Liebenswürdige Kakerlaken und sprechende Albatrosse. Gibt es ein Leben neben dem unsrigen?"

    Nicht nur beim "Weißnich", schon beim Klassiker "Alice im Wunderland" beginnt die merkwürdige Reise mit einem Sturz; seither haben sich Stürze als bevorzugte Zutrittsart zu literarischen Parallelwelten eingebürgert. Der elfjährige Gregor macht da keine Ausnahme:

    " In der Wand war ein Metallgitter, hinter dem ein alter Luftschacht lag. Jetzt stand das Gitter, das oben mit zwei rostigen Scharnieren befestigt war, sperrangelweit offen. Boots schielte in die etwa sechzig mal sechzig Zentimeter große Öffnung. Von dort, wo Gregor stand, war nur ein schwarzes Loch zu sehen. Dann ein Wölkchen ... was war das? Dampf? Rauch? Weder noch, wie es schien. Ein eigenartiger Dunst kam aus dem Loch und kringelte sich um Boots. Neugierig streckte sie die Arme aus und beugte sich vor. "Nein!", rief Gregor und versuchte sie zu packen, aber Boots' winziger Körper wurde förmlich in den Luftschacht gesogen. Ohne nachzudenken zwängte Gregor sich mit Kopf und Schultern durch das Loch. Das Metallgitter schlug ihm in den Rücken. Und dann fiel er tiefer, tiefer und immer tiefer in eine dunkle Leere hinein. "
    [Suzanne Collins "Gregor und die graue Prophezeiung", S. 20]

    Ausgerechnet von der Waschküche seines New Yorker Elternhauses aus plumpst der Elfjährige in eine Welt unterhalb der Metropole. Eigentlich will er nur seine zweijährige Schwester Margaret, genannt Boots, vom Klimaanlagenschacht fern halten, aber da ist es schon zu spät. Er fällt, fällt und fällt - eine direkte Anspielung auf "Alice im Wunderland" -, nur was dann kommt, ist viel weniger possierlich als bei Lewis Carroll. Die Unterwelt von New York hat ihre eigenen Gesetze, die sich nach den Bedürfnissen ihrer Bewohner richten, respektive nach ihrem Appetit:

    "Na, da bist du ja endlich", sagte die Ratte träge. "Deinem Gestank nach hatten wir schon vor einer Ewigkeit mit dir gerechnet. Guck mal, Fangor, er hat das Junge mitgebracht."
    Eine lange Nase schob sich über die Schulter der ersten Ratte. Sie waren zu zweit.
    "Das ist ja ein Leckerbissen", sagte Fangor mit sanfter, voller Stimme. "Wenn ich das zarte Junge für mich allein haben kann, überlasse ich dir den Knaben ganz, Shed."
    "Das klingt verlockend, aber an ihm sind mehr Knochen dran als Fleisch, und sie ist so ein appetitliches Häppchen", sagte Shed. "Da fällt die Wahl wahrlich schwer. Steh auf, Junge, damit wir deine Füllung sehen können."
    Die Kakerlaken waren merkwürdig gewesen, die Fledermäuse unheimlich, aber diese Ratten waren der absolute Horror. Wie sie da auf ihren Hinterbeinen saßen, waren sie bestimmt einen Meter achtzig groß, und ihre Beine, Arme oder wie man sie auch nennen wollte, waren unter dem grauen Fell muskelgeschwellt. Das Schlimmste jedoch waren ihre Zähne, fünfzehn Zentimeter lange Schneidezähne, die ihnen aus dem Maul ragten. "
    [Suzanne Collins "Gregor und die graue Prophezeiung", S. 84-85]

    Nein, gemütlich geht es in dieser Welt der amerikanischen Autorin Suzanne Collins wahrlich nicht zu - dafür aber ungeheuer spannend. "Gregor und die graue Prophezeiung" bedient alle Muster des konventionellen Abenteuerromans und schafft es, auch lesefaule Jungen über 300 Seiten hinweg bei der Stange zu halten. Der Held und seine kleine Schwester stoßen natürlich nicht nur auf eine bizarre Tierwelt mit ungünstigen Größenverhältnissen - Kakerlaken sind so groß, dass sie als Lasttiere taugen, Fledermäuse werden als Luftkavallerie benutzt -, in die riesige Kavernenlandschaft hat sich auch eine menschliche Zivilisation eingenistet, gegründet von einem religiösen Visionär:

    " Sandwich war mit einigen Anhängern nach New York gesegelt, wo er sich hervorragend mit den Ureinwohnern verstand. Den Indianern war das Unterland wohl bekannt; für rituelle Zwecke unternahmen sie schon seit Jahrhunderten regelmäßig Ausflüge unter die Erde. Sie hatten kein Interesse daran, dort zu leben, und es kümmerte sie nicht, wenn Sandwich so verrückt war, das zu tun. "Natürlich war er ganz und gar nicht verrückt", sagte Vikus. "Er wusste, dass die Welt eines Tages wüst und leer sein würde bis auf das, was unter der Erde erhalten wäre."
    Gregor kam es taktlos vor zu erwähnen, dass dort oben inzwischen Milliarden von Menschen lebten. Stattdessen sagte er: "Dann haben also alle ihre Siebensachen gepackt und sind hier runtergezogen?"
    "Himmel, nein! Es dauerte fünfzig Jahre, bis die ersten achthundert hier unten angekommen und die Tore zum Oberland verriegelt waren. Es musste gesichert sein, dass wir uns ernähren konnten, und wir brauchten Mauern zu unserem Schutz. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden." Vikus lachte. "So hat es Fred Clark der Überländer ausgedrückt."
    [Suzanne Collins "Gregor und die graue Prophezeiung", S. 74]

    Es gibt Überländer und Unterländer, doch wer einmal von oben nach unten durchgerauscht ist, kommt kaum je wieder hinauf. Genau dies scheint das Schicksal von Gregors Vater zu sein, der etliche Jahre zuvor spurlos verschwand, sich nun aber als Gefangener der Ratten erweist. Die sind unmittelbarer Nahrungskonkurrent der Menschen, mithin ihr größter Feind. Doch schlau sind sie auch, deswegen haben sie den Ingenieur von oben gekapert, der ihnen Waffen bauen soll. Obwohl man nun genau weiß, wie die Geschichte ausgehen wird - mit der glücklichen Befreiung des Vaters und dem Sieg der Menschen über die Ratten -, kommt keine Minute Langeweile auf. Diese Spannung kostet freilich ihren Preis, denn Suzanne Collins' als Startband einer neuen Reihe konzipierter Kinderroman schrammt haarscharf an der Grenze zum trivialen Fantasyroman entlang. Er enthält, in vorsichtiger Dosierung, alle Ingredienzien dieses Genres. Unter Tage herrscht eine kindliche Kaiserin, der Staatengründer hat in einer nebulösen Prophezeiung die Ankunft Gregors vorausgesehen (und vermutlich auch den Inhalt der kommenden vier Bände), und der Kampf des Guten mit dem Bösen ist zwar differenzierter dargestellt als anderswo, lädt aber keineswegs zum Nachdenken über richtiges und falsches Handeln ein. Affektliteratur mit hohem Identifikationspotential für nicht ganz mutige, dennoch keinen Kampf ausschlagende Kerle ab zehn Jahren. Mädchen sind vermutlich eher vom nächsten Buch zu überzeugen, das ebenfalls eine Tierwelt abbildet, dabei jedoch auf den Ekelfaktor Kakerlaken und kannibalistischen Spinnen verzichtet:

    " Ganz dicht aneinandergedrängt, Flügel an Flügel und Schnabel an Schwanz, standen die Vögel um den Lichtkreis, den der eine Strahl auf dem Boden des Schuppens bildete. Während Annie zusah, kam Bewegung in die Masse der Vögel, ein Spalier bildete sich, ein einzelner Vogel bahnte sich seinen Weg zum Licht. Dort stand er mit gesenktem Kopf, größer als die meisten anderen Vögel und mit mächtigem Federkleid. Alle Schnäbel waren ihm zugewandt, und die der vordersten Vögel schimmerten wie Messerklingen, wenn sie vom Mondlicht getroffen wurden. Der Vogel im Lichtkreis hob seinen Kopf. "Aarchen ... Ab ... Aster ..." Voll Verwunderung riss Annie die Augen auf, als diese Töne durch die Dunkelheit drangen. Sie starrte auf den Schnabel, der sich bewegte, strengte sich an, alles zu hören, aber im Getöse des Sturms drangen nur Bruchstücke an ihr Ohr. "Berian bo ... Crewan ... Dessel ..." Das Mädchen kroch näher an die Versammlung der Vögel heran und versteckte sich hinter einem Fass voll Teer. Wieder war da die Stimme, diese seltsamen, bedeutungslosen Ausrufe. Jeder wurde einzeln in die Menge geschleudert und nach jedem folgte ein kurzer Augenblick der Stille. "Faban ... Farn ... Heyer ... Jed ... Kat ...". "
    [Katherine Scholes "Die Nacht der Vögel", S. 52ff.]

    Ein schrecklicher Sturm tobt über dem Meer, irgendwo vor der Küste Australiens, und schleudert zu Hunderten erschöpfte Muttonbirds - tasmanische Hammelfleischvögel - aufs Gelände von Annie und ihrem Großvater Joe. In einer Sturmpause bergen die beiden überlebende Tiere und bringen sie in einen schützenden Schuppen. Nachts schleicht sich das Mädchen zu den Vögeln und kann sie plötzlich verstehen. Wo Biologen von der "kollektiven Schwarmintelligenz" reden, entdeckt die australische Autorin Katherine Scholes eine poetische Allegorie der Weisheit. Denn die Vögel sehen viel, geben ihr Wissen von Generation zu Generation weiter, und sind - im Besitz der Vogelperspektive - den Irrtümern der Welt weit weniger ausgeliefert als die kurzsichtigen Menschen, die selbst einem Giganten der Lüfte, einem Albatros, Unrecht anzutun imstande sind, obwohl Albatrosse seit jeher als Lebensretter der Seefahrer gelten. "Die Nacht der Vögel" ist eine schmale, bezwingende Novelle, von Quint Buchholz kongenial illustriert, der in dunklen Radierungen die bedrohliche Stimmung einer Sturmnacht festgehalten hat. Hier tragen Sprache und Erzählkunst die Geschichte, auf Cliffhanger und anderen Spannungstricks kann die Autorin verzichten, weil sie nicht auf Lesermassen schielt, sondern für Liebhaber atmosphärisch dichter Seestücke schreibt, gleich welchen Alters. Auch das letzte Buch der heutigen Sendung überschreitet mühelos die Generationengrenzen beim Publikum.

    " Komische Kugeln. Oder: Was britisch aussieht, kann auch aus Amerika kommen."

    George Saunders stammt aus Chicago und lebt in New York. Aber er schreibt wie der skurrilste Brite, als hätte er all die Vorbilder von Jonathan Swift, über Lewis Carroll bis Alan Alexander Milne mit der Muttermilch eingesogen. Sein Universum ist ziemlich klein und wird von Ziegen, Menschen und Gappern bewohnt. Wobei alle drei in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Gapper? Na ja, diese komischen Dinger eben:

    " So müsst ihr euch einen Gapper vorstellen, (...) ungefähr wie ein Tennisball, und leuchtend orange, mit ganz vielen Augen wie die Augen in einer Kartoffel. Gapper lieben Ziegen. Wenn ein Gapper in die Nähe einer Ziege kommt, stößt er einen endlos langen schrillen Freudenschrei aus, sodass die Ziege unmöglich schlafen kann, und dann wird sie ganz dünn und gibt keine Milch mehr. Aber in einer Stadt, die davon lebt, Ziegenmilch zu verkaufen, ist ohne Ziegenmilch auch kein Geld mehr da, und ohne Geld gibt es auch kein Essen, keine Kleider und kein Dach überm Kopf. Deshalb muss man in gapperverseuchten Städten, weil schließlich niemand gerne nackt im Freien verhungern will, um jeden Preis die Gapper von den Ziegen fern halten. So eine Stadt war Frip. Frip, das waren drei windschiefe Hütten am Meer. Frip, das waren drei winzige Ziegenkoppeln, und acht Mal am Tag trotteten die Kinder aus dem Haus auf die Koppel, mit Gapperbürsten und Gappersäcken aus Stoff, die man oben zubinden konnte. Wenn sie alle Gapper von den Ziegen abgebürstet hatten, liefen die Kinder zu einer Klippe am Stadtrand und leerten ihre Gappersäcke ins Meer. Die Gapper sanken auf den Grund und fingen sofort an, Zentimeter um Zentimeter über den Meeresboden zu krabbeln, und drei Stunden später waren sie wieder in Frip. Danach stolperten die Kinder ins Haus und fielen in ihre kleinen Betten, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu kriegen Wenn sie überhaupt träumten, dann von Gappern, die sie in Säcke stopften und ins Meer warfen. "
    [George Saunders "Die Gapper von Frip", S. 10ff.]

    Am schlimmsten trifft es die arme Serena, eine Halbwaise, die mit ihrem Vater eines der Häuser von Frip bewohnt. Dummerweise das falsche, wie sich rasch herausstellt:

    " Gapper sind nun nicht gerade schlau, aber sie sind auch nicht alle gleich dumm. Eines Tages, am Meeresboden, fing einer der weniger dummen Gapper, der auf einer Seite seines Schädels eine Beule hatte, nämlich sein ziemlich überdurchschnittliches Gehirn, das irgendwie herausguckte, an zu rechnen und stellte fest, dass von den drei Häusern in Frip das rötliche Serenas Haus ungefähr fünf Meter näher am Meer stand als das Nachbarhaus. Wenn du so groß bist wie ein Tennisball und keine Beine hast und dich fortbewegst, indem du deinen äußerst empfindlichen Bauch zusammen- und wieder auseinanderkrumpelst, ist das eine nützliche Information. "
    [George Saunders "Die Gapper von Frip", S. 19]

    Es kommt, wie es kommen muss: Alle Gapper, die sich bislang auf drei Gärten verteilten, konzentrieren sich nun bei Serena, und in der von der gemeinsamen Plage bislang geeinten Nachbarschaft zeigen die Menschen nun ihr wahres Gesicht. Als Serena, völlig erschöpft vom Ziegengapperpflücken, um Hilfe bittet, erhält sie ein ziemlich unwirsche Absage:

    " Liebe Serena, (...) wir haben Deinen Brief von neulich erhalten. (...) Leider müssen wir Dir sagen, obwohl wir Deine beträchtlichen Schwierigkeiten voller Mitgefühl beobachten, findest Du nicht auch, Du solltest besser die Verantwortung für Dein Leben selbst in die Hand nehmen? Wir haben ganz stark das Gefühl, dass Du, sobald Du einmal Deine Ziegen von den Gappern befreit hast, so wie wir es getan haben, vor Dir selbst viel besser dastehen wirst, und vor uns wirst Du auch viel besser dastehen. (...) Gapper sind nun mal etwas Schlechtes, und Du bist jetzt die Allereinzigste, die welche hat, da ist es doch wohl klar, dass Du vielleicht nicht ganz so gut bist wie wir. (...) Versuch doch einfach bloß, diese Gapper loszuwerden! Zeig, dass Du es schaffen kannst, genau wie wir es geschafft haben, und dann - und nur dann - kannst Du uns gerne besuchen. Das wird bestimmt lustig, wenn wir alle um den Kamin herumstehen und über die schlimme alte Zeit lachen, als wir alle noch Gapper hatten. Alles Liebe, Deine Nachbarn. "
    [George Saunders "Die Gapper von Frip", S. 44]

    Die Parabel vom guten Nachbarn erweist sich als bitterböse Satire auf Bigotterie und Hochmut. Doch wäre sie kein literarisches Kleinod, fände die geplagte Heldin keinen Ausweg aus dem Dilemma. Serena verkauft ihre Ziegen in die nächstgelegene Stadt Fritch, um vom Erlös eine Angel anzuschaffen; schließlich enthält das Meer nicht nur die kugeligen, störenden Gapper, sondern auch verwertbare Bewohner. Damit verlagert sich das Problem gerechterweise aufs nächste Haus in Frip und von dem aufs übernächste, bis zum Schluss alle Angeln gehen und keiner mehr Ziegen hält. Übrig bleiben die ratlosen Gapper, deren etwas weniger dumme Anführer auf einen Ausweg sinnt:

    " Da er sah, dass es in Frip keine Ziegen mehr gab, schlug er vor, dass sie aufhören sollten, Ziegen zu lieben. Die Ziegen hätten ihre Zuneigung schließlich nie erwidert. (...) Was für einen Sinn es denn habe, jemanden zu lieben, der bloß immer mit seinen scharfen gelben Zähnen nach einem schnappte, sobald man einen Freudenschrei ausstieß vor Glück, ihn zu sehen? (...) Ob es da nicht, schlug er vor, viel klüger von ihnen wäre, etwas zu lieben, das sie tatsächlich zurücklieben könne, etwas Solides und Verlässliches, und nicht zuletzt etwas, das es in Frip noch gebe? Woran er denn denke, fragten die anderen Gapper. (...) Zäune, erwiderte der schlauere Gapper. Und dann sang er das Loblied der attraktiven und ach so verlässlichen Zäune von Frip, die, soweit er wisse, noch nie mit den Zähnen nach etwas geschnappt hätten, da sie gar keine Zähne besaßen, (...) sondern nur voller Würde bei jedem Wetter dastünden und sehr gelassen aufs Meer hinausschauten, als warteten sie auf etwas Wunderbares, das dem Meer entsteigen und sie bis zum Wahnsinn lieben würde. (...) Und so wurde Frip zu dem, was es heute ist, ein Städtchen am Meer, bekannt für seine relativ glücklichen Fischer und seine leuchtend orangefarbenen, kreischenden Zäune. "
    [George Saunders "Die Gapper von Frip", S. 8 ff.]

    Und so geht diese Sendung mit dem Ratschlag zu Ende, nicht jedes Problem auf der Ebene lösen zu wollen, auf der es unlösbar erscheint. Denn eines haben ja Serena und der schlauere Gapper gemein: Dass sie ihr Leben umstellen, wo bisherige Strategien versagen. Mehr als eine solch praktikable Einsicht kann ein Buch nicht liefern - und wenn es dann noch so viel Vergnügen bereitet wie die "Gapper von Frip", sollte man es unbedingt in seinen Lesekanon aufnehmen. Merke: Nichts ist seltsam genug, um nicht seine Schlüsse daraus ziehen zu können.

    Bibliografische Angaben:

    Suzanne Collins: "Gregor und die graue Prophezeiung"
    Aus dem Amerikanischen von Sylke Hachmeister
    Oetinger Verlag 2005
    304 Seiten - 13,90 Euro

    Joke van Leeuwen: "Weiß nich"
    Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
    Gerstenberg Verlag 2005
    o.S. - 13,90 Euro

    George Saunders: "Die furchtbar hartnäckigen Gapper von Frip"
    Mit Illustrationen von Lane Smith
    Deutsch von Frank Heibert
    Bloomsbury 2004
    94 Seiten - 12,90 Euro

    Katherine Scholes: "Die Nacht der Vögel"
    Mit Bildern von Quint Buchholz
    Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther
    Ravensburger 2005
    126 Seiten - 9,95 Euro

    Jonathan Swift: "Gullivers Reisen" (Hörbuch)
    Gelesen von Rufus Beck
    Hörbuch Hamburg 2005
    3 CD

    Fredrik Vahle: "Fischbrötchen - Aus dem Leben einer nasweisen Schildkröte"
    Mit Bildern von Verena Ballhaus
    Beltz & Gelberg 2005
    124 Seiten - 14,90 Euro