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Nicht ganz Nordirland ist in Aufruhr

Seit mehr als 40 Tagen halten die Straßenkämpfe und Ausschreitungen in Belfast an. Der Streit um das Hissen der britischen Flagge gerät zum Stellvertreterkrieg zwischen den probritischen Protestanten und katholischen Iren. Und doch kann von einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs keine Rede sein.

Von Jochen Spengler | 16.01.2013
    Leute wie Robert sind es, die seit sechs Wochen für Negativschlagzeilen aus Belfast sorgen. Mit Sprüchen wie diesem:

    "Es geht nicht nur um unsere Fahne; das war nur der letzte Sargnagel. Wir werden behandelt als Bürger zweiter Klasse. Sinn Fein und IRA bekommen in ihren Gemeinden neue Freizeitzentren, Schulen und Häuser - alles wird für die Katholiken gemacht. Vom Karfreitagsabkommen hat keine einzige protestantische Gemeinde profitiert, deswegen wollen wir es verschrotten."

    Robert ist Elektriker, 24, ein probritischer Protestant aus Ost-Belfast, der mitmischt, wenn einige Hundert Randalierer abends Polizei und Katholiken mit Steinen, Brandbomben und Flaschen attackieren. Leuten wie Robert droht Nordirlands Polizeichef Matt Bagott:

    "Macht es nicht noch schlimmer, denn es wird irgendwann an eurer Tür klopfen. Es gibt viele Leute auf unseren Videoaufzeichnungen, die wir identifizieren und sehr bald vor Gericht bringen werden."

    Bislang gab es weit über hundert Festnahmen; fast ebenso viel Polizisten wurden verletzt - einige schwer. Moderate Politiker erhielten Morddrohungen, ihre Wahlkreisbüros wurden demoliert. Deutlich weniger berichtet wird über jene Tausende Nordiren, die nun auch schon mehrfach gegen die Gewalt auf die Straße gegangen sind:

    "Wir wollen der Welt zeigen, dass Nordirland nicht aus zwei getrennten Gruppen besteht, sondern eine Gemeinschaft ist, und dass die Leute, die den Ärger machen, am Rand stehen."

    "Ich arbeite für ein lokales Unternehmen in der Stadtmitte und das, was seit Dezember hier passiert, schadet unserer Wirtschaft und dem Tourismus. Wir unterstützen eine friedliche Lösung."

    Tatsächlich ist die Macht der Fernsehbilder gewaltig und sie suggerieren, dass Nordirland wieder kurz vor dem Bürgerkrieg steht. Eamonn Mallie, ein katholischer Publizist widerspricht:

    "Das ist nicht so ernst, wie es von außen wahrgenommen wird. Keine Pistolen wurden gezogen, keine Schüsse abgefeuert. Dreißig Jahre lang wurden hier Menschen niedergeschossen und ausgelöscht. Ermordet, jede Nacht. Das hier ist nichts und wenn es vorbei ist wird man sich fragen, worum es eigentlich ging. Es ist nicht nett, unangenehm, hässlich, aber nichts im Vergleich zu früher. Und es ist sehr auf Ost-Belfast beschränkt."

    Tatsächlich bleibt der größte Teil Nordirlands und Belfasts von den Krawallen unberührt. Auch der Protestant Pete Shirlow, Professor an der Queen's Universität und Autor mehrerer Nordirland-Studien, glaubt nicht, dass ein neuer Bürgerkrieg droht.

    Ein Kerze brennt am hellsten, kurz bevor sie erlischt. Dies sei nicht der Beginn eines neuen Konflikts, sondern die letzten Zuckungen des alten. Ausgelöst von einer kleinen Minderheit, die auch nicht gegen Armut, Ausgrenzung oder Benachteiligung demonstriere.

    "Es geht um Leute, die gegen den Friedensprozess des Karfreitagsabkommens sind. Sie haben sich eingeredet, dass sie verloren und die Katholiken die Macht übernommen haben."

    Unsinn sei dies, denn tatsächlich funktioniere in Nordirland die Machtteilung und die Gleichberechtigung der Volksgruppen. Und die riesige Mehrheit der 1,8 Millionen Nordiren wolle, dass dies so bleibe:

    "Menschen und Gesellschaften werden kriegsmüde. Sie sind viel glücklicher mit dem Frieden, sie kritisieren manches, aber sie sind glücklich damit."

    Eine Eskalation der Krawalle sei dennoch nicht auszuschließen, dann etwa, wenn es zu Toten komme und - so sagt der Katholik Eamonn Mallie - die Untergrundkämpfer der katholischen Rest-IRA die Situation ausnutzen sollten:

    "Die wirkliche Gefahr geht immer noch vom Element der republikanischen Abweichler aus. Wenn IRA-Dissidenten etwa Polizisten, Gefängniswärter und Sicherheitsbeamte angreifen sollten. Die bleiben entschlossen, zu morden und zu töten."

    Diese Terroristen könnten das Land zurückwerfen, auch wenn sie Demokratie und Friedensprozess nicht stoppen.