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Nicht ungebremst den Berg hinab

Risikosportler suchen immer wieder den Kick. Ziel des Sportpsychiaters Johannes Disch ist es, mithilfe von medizinischer Hypnose die Angriffslust dieser Athleten zu hemmen, um Unfälle zu vermeiden - auch bei Skirennläufern.

Von Birgit Reichardt | 30.10.2010
    Mit 140 Stundenkilometern die Piste hinunter, das gehört zum alpinen Skiweltcup. Und feststeht: Auch in dieser Saison werden wir spektakuläre Unfälle erleben. Die Stürze verlaufen manchmal glimpflich, manchmal enden aber mit schweren Verletzungen oder mit dem Tod. Angst dürfe man nicht haben, dann werde man unsicher, heißt es häufig. In der Regel haben Skirennläufer aber eh ein ganz anderes Problem: Ein bekannter Schweizer Slalomspezialist suchte deshalb Hilfe bei dem Sportpsychiater Dr. Johannes Disch.

    "Sein Offensivdrang, seine Angriffslust, die wurde eigentlich zu groß. Er hat nicht mehr gespürt, wo es eigentlich zu viel ist. Dann ist es ihm passiert, dass er immer wieder stürzte."

    Rennläufer gehen regelmäßig an ihre körperlichen und geistigen Grenzen. Und darüber hinaus. Ein typisches Merkmal für Risiko- oder Extremsportler, erklärt der Mediziner. Und diese wiesen eine neurobiologische Besonderheit auf. Eine Unterversorgung mit einem Botenstoff, dem Neurotransmitter Dopamin, der auf die Motivation einwirkt.

    "Wenn wir das spüren im Blut, dann gibt uns das auch so ein lebendiges, gutes, waches Gefühl. Und das einen das interessiert, dass man noch ein wenig mehr davon möchte. Und dann gibt es eine Theorie, dass das Leute sein können, die genetisch dazu verdammt sind, diese Gefahr einzugehen, weil man quasi Dopamin-defizient ist."

    15 Prozent der Menschen gehörten zu den sogenannten "sensation-seekern", denjenigen die immer wieder die Sensation, den Kick suchten. Ziel seiner Arbeit sagt Disch, sei es, Gehirnbereiche zu aktivieren, die die Risikofreude hemmen. Dabei setzt er die Aktiv-Wach-Hypnose ein. Der Athlet ist während einer Trance in Bewegung und begibt sich emotional zum Beispiel auf die Abfahrtspiste in Lake Louis.
    Bei einem Workshop in Heidelberg übernimmt eine Teilnehmerin die Rolle des Sportlers. Mit geschlossenen Augen schwitzt sie auf dem Rad, der durchtrainierte, mittelblond-gelockte Schweizer geht körperlich mit, fast tänzelnd, während er spricht. Der 60-Jährige führt die Frau,

    "vielleicht ist es interessant in diese Grenze hineinzugehen, oder zurück", sagt Disch.

    Aber auch der Routinier stößt an Grenzen. Es sei immer eine therapeutische Gratwanderung.

    "Gehemmt werden soll eigentlich die überschießende Aktivität, die muss in einen vernünftigen Bereich hinein kanalisiert werden. Wenn diese Angriffslust zu stark gebremst ist, dann kann man nichts abholen. Wenn sie zu stark gebremst ist, dann passiert vielleicht ein Unfall."

    Grenzen erreichen, vielleicht überschreiten, aber dabei zu überleben, ist das Ziel des Sportpsychiaters Disch, wenn er mit Risikosportlern arbeitet. Was aber, wenn Athleten einen schweren Unfall überleben und mit den seelischen Folgen nicht zurechtkommen. Wie der deutsche Meister im Langstrecken-Drachenfliegen, Clemens Christ, aus Kirchheim:

    "Ich habe in sehr turbulenter Luft einen Schlag verspürt, habe gemerkt, ich habe mit dem Körper praktisch Kontakt zu der Unterseite des Drachens. Und dann sind mir praktische die Lichter ausgegangen. Wie ich dann wieder klar geworden bin, dass ich in der Luft bin, konnte ich nur noch die Steuerbügel greifen und weiterfliegen."

    Was der damals 44-Jährige noch nicht wusste, ist der Horror für jeden Drachenflieger: Er hatte sich mit seinem Sportgerät überschlagen. Dies kann Absturz und Tod bedeuten, aber er reagierte wie viele Sportler:

    "Der erste Impuls war, wenn ich jetzt nicht weiterfliege, dann hör ich auf."

    Und deshalb stieg Clemens Fritz bei weniger Turbulenzen wieder auf. Zunächst lief alles wie immer.

    "Wie es dann aber turbulent geworden ist, dann hat es mich wieder gehabt. Mit Herzklopfen, Schweißausbruch, das Gefühl nicht mehr klar denken zu können, nicht mehr meine Linie auf die Reihe zu bringen, in einer klaren Reihenfolge."

    Eine Panikattacke in 2.000 Metern Höhe. Nach 20 Jahren Flugerfahrung fühlte sich der Drachenflieger in der Luft nicht mehr sicher. Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung, erklärt sein Bruder, der Psychotherapeut Georg Christ. Kein Einzelfall im Sport.

    "Ohne jetzt Zahlen nennen zu können, vermute ich, dass es gerade in dem Bereich eine sehr hohe Dunkelziffer insofern gibt, dass zwar Leute unter Symptomen leiden, aber keine adäquate Behandlung finden, weil sie niemand drüber informiert. Und weil sie sich auch schämen. Da gibt es kein großes Verständnis im Bereich Sport, dass man solche gravierenden Aussetzer haben kann."

    Gerade bei Sportlern sei ein solches Monotrauma, also ein einzigartiges Erlebnis bei einer sonst stabilen Person, aber gut behandelbar. Zum Beispiel mit EMDR.

    "Die Basis ist, bei einem traumatisch abgespeicherten Erlebnis arbeiten die linke und rechte Gehirnhälfte nicht mehr gut zusammen. Das heißt: Rational weiß ich, dass ich das Ereignis schon lange hinter mir habe, nur emotional fühlt es sich immer noch nicht so an. EMDR unterstützt durch seltsam anmutende Augenbewegungen, dass die Gehirnhälften stimuliert werden, besser zusammenzuarbeiten und dadurch die Belastung absinkt. Oftmals erstaunlich schnell, sodass man am Ende sagen kann, jetzt fühlt es sich auch so an, als sei es lange vorbei."

    50 Prozent Besserung spürte Clemens Christ nach der ersten Sitzung.

    "Nach der zweiten Sitzung würde ich sagen, dass ich noch einen kleinen Rest übrig behalten habe. Das ist lächerlich, damit kann ich leben."

    Die Verarbeitung von Unfallfolgen verlaufe individuell, so der Psychotherapeut Georg. Die Annahme man müsse sofort wieder fliegen, auf ein Pferd steigen oder die Piste hinunter fahren, um keinen dauerhaften Schaden nach einem Unfall zu erleiden, kann richtig sein, muss es aber keineswegs. Und Clemens Christ ist froh, dass er über seine Symptome sprechen konnte, denn sonst wäre er kein Drachenflieger mehr.

    "Nein, wär ich nicht. Ich bin froh, dass ich deutscher Meister bin."