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"Nicht wir haben die Chance verspielt!"

Dietmar Bartsch lehnt jegliche Verantwortung für den Ausgang der Wahl zum Bundespräsidenten ab. Selbst wenn Die Linke geschlossen Gauck gewählt hätte, wäre Christian Wulff im dritten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt worden.

Dietmar Bartsch im Gespräch mit Friedbert Meurer | 01.07.2010
    Friedbert Meurer: Neuneinhalb Stunden Bundesversammlung – mit so einer langen Sitzung hatte niemand gerechnet, auch Bundestagspräsident Norbert Lammert nicht. Er hatte nach 19 Uhr ein Einsehen mit den hungrig gewordenen Abgeordneten und das Buffet des Abends wurde dann kurzerhand vorgezogen, vor oder während des dritten Wahlgangs. Das Buffet war eröffnet, der Wahlgang auch, Christian Wulff dann der Sieger. Viel beachtet wurde gestern das Abstimmungsverhalten der Partei "Die Linke" Sie enthielt sich bekanntermaßen im dritten Wahlgang überwiegend der Stimme. In den ersten beiden Wahlgängen trat ja für die Partei Luc Jochimsen an und bekam auch zumindest im ersten Wahlgang ein paar Stimmen mehr, als Die Linke eigentlich an Delegierten in der Bundesversammlung hatte. Aber SPD und Grüne werfen der Partei jetzt vor, eine denkwürdige Chance verpasst zu haben. – In Berlin begrüße ich Dietmar Bartsch, er ist der stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Linken. Guten Tag, Herr Bartsch.

    Dietmar Bartsch: Ich grüße Sie!

    Meurer: Sie galten ja als jemand, der durchaus dafür plädiert hatte, zumindest darüber nachzudenken, dass man Joachim Gauck im dritten Wahlgang wählt. Warum hat sich Ihre Partei in der entscheidenden Fraktionssitzung gegen 18:30 Uhr, oder wann das war, ganz anders entschieden?

    Bartsch: Wir hatten nach jedem Wahlgang Diskussionen, das war auch vorher so gesagt und das war auch mein Plädoyer. Ich habe immer gesagt, lasst uns entscheiden nach einem ersten Wahlgang. Ich bin lange davon ausgegangen, bis gestern, bis zur Auszählung, dass Schwarz-Gelb noch so stabil ist, dass sie im ersten Wahlgang Christian Wulff wählen. Dass die Lage in der Koalition so desaströs ist, habe ich mir nicht vorstellen können. Ich war sehr froh, dass Luc Jochimsen mehr Stimmen hatte, wie Sie eben erwähnt haben, und für uns war ganz klar, dass man nicht zwischen dem zweiten und dem dritten Wahlgang, denn da haben SPD und Grüne ernsthaft mit uns geredet, da war das Kind aber im Brunnen. Die Chance, von der Rot und Grün jetzt sprechen, war in der Woche nach dem Rücktritt von Horst Köhler gegeben.

    Meurer: Aber dann hätte das Gespräch stattfinden müssen, bevor der Name Joachim Gauck genannt wird, oder hätte danach auch noch eine Chance bestanden?

    Bartsch: Sinnvollerweise hätte man gemeinsam über einen Kandidaten nachdenken sollen und gemeinsam nominieren. Wegen meiner – ich wäre ja sogar noch bereit zu sagen, Rot-Grün nominiert eine Kandidatin oder einen Kandidaten mit unserer Kenntnis. Aber Verfahren und dann auch Personen waren natürlich nicht angetan, zu sagen, ja, den wählen wir. Wir haben Joachim Gauck eingeladen, das war auch ein durchaus interessantes Gespräch in der Fraktion, aber letztlich war die Entscheidung – und da ging es natürlich auch darum, Die Linke zusammenzuhalten -, da war in unserer Fraktion die Enthaltung im dritten Wahlgang das politisch Mögliche.

    Meurer: War Die Linke beleidigt?

    Bartsch: Die Linke war nicht beleidigt. Es handelte sich um einen politischen Vorgang. Man ist da nicht beleidigt. Sie kennen meine Äußerung vor der Wahl, ich bin immer dafür gewesen, dass man redet, dass man miteinander im Gespräch ist. Ich wünsche mir, dass alle Parteien, SPD, Die Linke, auch die Grünen, nachdenken, dass wenn die Lage so ist, Schwarz-Gelb regiert katastrophal, verspielt die Zukunft Deutschlands, wenn es so ist, dann müssen wir auch annehmen, dass wir als Opposition, da wo es möglich ist, gemeinsam agieren. Das ist in Nordrhein-Westfalen leider nicht so gelungen, wie es möglich wäre.

    Meurer: Und warum haben Sie jetzt die Chance verspielt?

    Bartsch: Nicht wir haben die Chance verspielt! Ich will keine Schuld zuweisen; ich sage, alle sollen darüber nachdenken. Die Chance – ich will darauf vorsichtig verweisen: Selbst wenn Die Linke geschlossen Gauck gewählt hätte, Christian Wulff hatte die absolute Mehrheit im dritten Wahlgang. Da waren die Schwarz-Gelben dann doch so weit, dass sie sagen, wir wollen nicht, dass Die Linke den Bundespräsidenten wählt.

    Meurer: Das wussten Sie aber nicht vor dem dritten Wahlgang.

    Bartsch: Das wussten wir nicht. Ich wiederhole das: Im zweiten Wahlgang war das im Übrigen auch schon so, dass unsere Stimmen nicht gereicht hätten. Wir haben da eine politische Entscheidung getroffen, es gab keine Grundlage. Es gab – ich will das ausdrücklich sagen – leider keine Grundlage. Ich hätte mir gewünscht eine gemeinsame Kandidatin, ich hätte mir gewünscht, dass wir mit der Bundespräsidentenwahl auch Schwarz-Gelb mehr als einen Denkzettel verpassen. Es ist notwendig, angesichts der Politik, die die machen. Und gestern, das war nur ein Ausdruck der inneren Zerrissenheit, des Unentschiedenen dieser Regierungskoalition, die nicht in der Lage ist, das Land in der Krise voranzubringen.

    Meurer: Aber es geht natürlich um die Zusammenarbeit, um das Aufeinanderzugehen von Rot-Rot-Grün. War der gestrige Tag der Tag, an dem Rot-Grün und Die Linke auseinandergedriftet sind?

    Bartsch: Es war nicht ein solcher Tag. Wir hatten nach der Bundestagswahl und angesichts der – ich wiederhole mich – Politik, die Schwarz-Gelb macht, eine Situation, dass viele das schon als naturgegeben angesehen haben, dass es eine Mehrheit auf der Bundesebene gibt, die sich nur noch finden muss. Wir hatten dann die Regierungsbildung in Brandenburg, Rot-Rot, was sicherlich ein wichtiges Ereignis war. Jetzt sind wir auf den Boden der Realität zurückgeholt worden. Es geht darum, dass wir substanziell Grundlagen für eine alternative Politik schaffen. Ein solches Bündnis ist keine Additionsaufgabe, sondern ein solches Bündnis wächst aus der Gesellschaft, oder es wird es nicht geben. Wir müssen die Dinge benennen, die wir grundsätzlich anders machen wollen: hin wieder zum Öffentlichen, eine ganz andere Energiepolitik und vieles andere mehr.

    Meurer: Und das ist Ihnen alles wichtiger, als der Regierung eine entscheidende Niederlage beizubringen? Das hätten Sie gestern vielleicht schaffen können.

    Bartsch: Schauen Sie, ich habe mehrfach vor dieser Wahl dafür plädiert, auch diesen Aspekt mit in unsere Überlegungen einzubeziehen. Das haben wir auch getan. Aber wir sind zu dem Ergebnis gekommen – ich wiederhole da -, auch unsere Stimmen hätten leider Christian Wulff nicht verhindert. Und mit der Geschichte, so wie es gewesen ist, war die Enthaltung in dieser Situation für die Delegation der Linke die einzig mögliche und richtige politische Variante.

    Meurer: Auch Sie haben sich enthalten? Darf ich das fragen?

    Bartsch: Sie dürfen das selbstverständlich fragen und ich antworte Ihnen, wie Sie ahnen: Es handelt sich um eine geheime Wahl. Aber gehen Sie davon aus, wenn es 120 Enthaltungen gegeben hat, dass alle relevanten Personen aus der Linksfraktion das Werben für die Enthaltung dann auch gemeinsam betrieben haben.

    Meurer: Dietmar Bartsch, der stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Linken, bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk, nach der Bundesversammlung gestern. Herr Bartsch, danke schön und auf Wiederhören.

    Bartsch: Alles Gute nach Köln!