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Nichts für Voyeure

Scheußliches Wetter. Crawled out after I to Stadtschänke. Sülze. Grässlich.

Sieglind Geisel | 22.12.2003
    Samuel Beckett war dreißig Jahre alt, als er im Oktober 1936 in Hamburg ankam. Niemand konnte ahnen, wie berühmt er werden würde. Beckett hatte sich selbst deutsch beigebracht und konnte Texte wie Faust zwei im Original lesen. Nun wollte er deutsch auch als gesprochene Sprache lernen, und er wollte deutsche Kunst sehen. Er notierte sich jeden Museumsbesuch.

    Philipp Otto Runge (1777-1810), a whole room of Quatsch, parents, wife, step-parents, children, self & the rosyfingers in two versions. Pfui.

    Mit ihrer eigentümlichen Mixtur von englisch und deutsch sind die Tagebücher ein Text wie kein anderer. Allerdings hat die Öffentlichkeit bisher noch kaum etwas von ihnen gesehen. Eine Kopie der Handschrift liegt für Forschungszwecke in der englischen Universität Reading. Kopien sind verboten, man darf sich nur Notizen machen. Jedes Zitat, das in einer Publikation vewendet wird, bedarf der Genehmigung durch den Flötisten Edward Beckett. Er ist der Neffe und Erbe von Samuel Beckett. Seiner Meinung nach haben die Tagebücher keinerlei literarischen Wert.

    Sie sind nicht von literarischem Interesse. Es handelt sich um private Reisetagebücher, in denen die Orte notiert sind, die er besucht hat und Dinge, die er gesehen hat, Galerien und Menschen, die er getroffen hat. Sie sind in dieser Hinsicht von Interesse: als Aufzeichnung seiner Reisen, nicht als literarisches Werk.

    Edward Beckett hat der Buchkünstlerin Roswitha Quadflieg zwar die Abdruckgenehmigung erteilt, jedoch nur für das Hamburger Kapitel. Und von einer eigentlichen Veröffentlichung kann man kaum sprechen: Die bibliophile Auflage beträgt ganze hundertfünfzig Exemplare, zum Stückpreis von tausend Euro. Druckfahnen gab es nach dem Willen Edward Becketts keine. Wer die sechzig Seiten vorab lesen wollte, musste dazu nach Hamburg in das Atelier von Roswitha Quadflieg fahren.

    Was steht in diesem Tagebuch, das nicht alle Menschen lesen sollen? Was hat Samuel Beckett in Hamburg überhaupt getan? Roswitha Quadflieg:

    Er ist morgens in der Kunsthalle und abends auf der Reeperbahn, oder er ist bei einer Kunstsammlerin und abends auf dem Dom. Er sieht sich alle Kirchen an, er läuft durch die Strassen, Altstadt, Neustadt, immer wieder... Ich hab das Gefühl, (14, 01:25) er hat sich die Stadt erwandert, erhört, durch alle Etagen.

    Beckett sammelt Wirklichkeit, und er sammelt Sprache. Er notiert sich deutsche Dialogfetzen, als handelte es sich um ein objet trouvé:

    "Du siehst so komisch aus." "Nicht halb so komisch, wie es mich innen quält.

    Dazu Quadflieg:

    Auch wenn man in Kneipen geht, hört man eine gewisse Form von Sprache. Er schreibt sich Sprüche an den Wänden ab, so Trinksprüche. Er geht auf Friedhöfe. Er geht zu Klopstocks Grab, da schreibt er sich ab, was auf dem Grabstein steht. Also, er sammelt alles ein, was es zu sehen gibt, und das in einer sehr verkürzten Form, natürlich gemischt mit Ausdrücken, die er dann deutsch reinschreibt, die immer auch so ein Anhaken an deutschen Ausdrücken sind, Stadtschänke, oder bestimmte Gerichte, Nierenragout, oder Ausdrücke, wo wir dann auch lachen, Devisenbewirtschaftungsstelle... also, so Sachen schreibt er sich da rein, und dadurch ist das zum Teil sehr komisch, diese Mischung... nicht nur weil er in den Sprachen wechselt, sondern weil er auch sozusagen deutsche Ausdrücke abschmeckt und man immer das Gefühl hat, um Gottes willen, was ist das jetzt wieder für ein Ausdruck. (Und ich glaube, das ist das, was die englischsprechende Welt nicht versteht... wenn man kein Deutsch kann, versteht man nicht, wie komisch das ist.) Und bei aller Tragik und Melancholie, die durch dieses Tagebuch durchgeht... es ist November, es ist kalt, er hat kein Geld, money knapper and knapper, Hundewetter again, also er fühlt sich nicht wohl, und trotzdem hat es immer wieder eine Seite, über die man sich wahnsinnig amüsieren kann.

    Becketts Komik ist nicht Ausdruck eines beschwingten Lebensgefühls. Die Komik entsteht vielmehr aus der Art und Weise, wie er die Welt wahrnimmt. Das Tagebuch wirft durchaus ein Licht auf sein literarisches Werk. Auch das Schweigen, um das Becketts Schreiben kreist, begegnet uns in diesen Notizen. Es hat ihn auch in der fremden Sprache beschäftigt.

    To be really wortkarg one most know every Wort.


    Zu den interessantesten Aspekten dieses Tagebuchs gehört Becketts Wahrnehmung der politischen Situation 1936. Er besucht die Maler der Hamburger Sezession, die bereits verboten sind. Er trifft Nazis, und er trifft jene, die Witze über den Führer machen. Von der Akademischen Auslandstelle ist ihm eine junge Frau als "Lotsin” mitgegeben worden. Claudia Asher begleitet ihn, gibt ihm Lesetipps und erklärt ihm das neue Deutschland:

    Speaks of the new Lebensanschauung as for her Erlösung. Solid work of Leben, Fühlen, Wollen. Denken verpönt. Urges me to abdicate Abstand & plunge into the Abgrund.

    Er solle dem Abstand abschwören und sich in den Abgrund stürzen - kürzer kann man das pathetische Lebensgefühl der Nazi-Bewegung kaum fassen. Instinktiv erkennt der Ausländer Beckett die Ideologie an ihren Worten. Wenige Jahre später sollte er sich in Frankreich der résistance anschließen.

    Ein solcher Tagebuchtext enthält naturgemäß vieles, was erklärungsbedürftig ist, beispielsweise die Gäste, mit denen Beckett in der Pension zu Abend ass, ein junger Mann namens Albrecht etwa.

    Not at all a Hitler Jüngling, but spontaneously full of expressings like "positiv”, "menschlich”, "ehrlich” etc.


    Roswitha Quadflieg hat versucht, diese Personen zu finden - siebzig Jahre später kein einfaches Unterfangen:

    Die Forschung weiß, dass Beckett 1936 in Hamburg war, aber niemand in Hamburg weiß, dass Beckett 1936 in Hamburg war. Viele, die mit ihm zusammen waren, wussten gar nicht, dass es Beckett war, weil er war ja niemand. Die haben sich den Namen auch gar nicht gemerkt.

    Die Ergebnisse der Recherchen sind im Text als Marginalien vermerkt. Die Dokumente, die Roswitha Quadflieg im Zug ihrer Forschungen gesammelt hat, werden ab dem 24. November in einer Ausstellung in Hamburg zu sehen sein. Neben Büchern, Fotos und Gemälden finden sich darunter auch zwei unbekannte Briefe.

    Was soll mit den German Diaries von Samuel Beckett geschehen? Seit zwei Jahren liegt ihr Schicksal in den Händen von Edward Beckett. Sein Vorgänger, der Verleger Jérome Lindon, hatte die Tagebücher bis zu seinem Tod gesperrt.

    Er betrachtete sie als sehr private Dokumente, die nicht zu Samuel Becketts literarischer Produktion gehören. Und er war besorgt, wie ich es auch bin, dass man diese Tagebücher mit Samuel Becketts Werk verwechseln wird.

    Samuel Beckett wollte nur durch sein Werk präsent sein. Gerade im Fall von Beckett jedoch interessieren sich die Leser auch für den Menschen hinter diesem Werk. Diese Neugier geht Edward Beckett schnell einmal zu weit.

    Viele Beckettfans haben voyeuristische Instinkte. Sie wollen alles lesen, sogar Wäschlisten.

    Werden wir Becketts German Diaries je in der vollständigen Fassung lesen dürfen?

    Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass ich je die Genehmigung erteilen werde, den Text in seiner vollen Gänze zu publizieren. Zitate verwenden, ja, Material daraus verwenden, ja. Aber nicht, es als Buch zu veröffentlichen.

    Samuel Beckett hatte die Tagebücher nicht für die Öffentlichkeit geschrieben, aber er hat sie auch nicht vernichtet. Was wären wir ohne die Briefe Mozarts, die Tagebücher Kafkas? Aus Becketts Reisenotizen steigt uns nicht nur der Geruch vom Hamburg der Dreissigerjahren in die Nase. Wir können dem Autor von "Warten auf Godot” beim Sehen, Hören und Denken zuschauen. Mit Voyeurismus hat dies nichts zu tun.