Donnerstag, 25. April 2024

Lord Ralf Dahrendorf zum Kriegsende
"Es war eine wirkliche Stunde Null"

In seiner letzten Rundfunkansprache am 30. Januar 1945 beschwor Adolf Hitler noch einmal den Endsieg. Einen Tag zuvor war der damals 15-jährige Ralf Dahrendorf aus einem Gestapo-Lager in Schwetig (heute Swiecko) entlassen worden. Seine Erfahrungen in der Nazi-Zeit begründeten in ihm einen starken Freiheitswillen.

Von Käthe Jowanowitsch und Stephanie Rapp | 08.05.2005
Lord Ralf Dahrendorf erlebte das Kriegsende im Alter von 15 Jahren als Inhaftierter eines Gestapo-Lagers.
Lord Ralf Dahrendorf erlebte das Kriegsende im Alter von 15 Jahren als Inhaftierter eines Gestapo-Lagers. (picture alliance)
"Ich frage mich manchmal, ob man überhaupt von einer gemeinsamen deutschen Erfahrung des Jahres 1945 sprechen kann. Meine Antwort ist nein. Und damit verbindet sich dann die Frage, ob hier nicht der Anfang der großen Missverständnisse zwischen dem sowjetisch besetzten und dem nicht sowjetisch besetzten Teil Deutschlands liegt, der Missverständnisse, die ja nach der Vereinigung noch andauern."

"Dann kamen die dramatischen Tage im April, als man durch das Artilleriefeuer hörte, dass die Russen näher kamen. Das waren Tage der Angst, die dann damit endeten, dass in unserer Straße zumindest die erste Garnitur der Russen relativ friedlich hereinkam, so dass wir ein paar Stunden lang uns in der Illusion wiegen konnten, dass der Übergang friedlich vorangeht."
Als stünde die Zeit still ... Das Bild zeigt das zerstörte Nürnberg, Text: 8. Mai 1945,
Zunächst begeistert von den Kriegserfolgen der Wehrmacht
Ralf Dahrendorf wuchs in einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus auf. Der Vater Gustav war bis zur Machtergreifung Abgeordneter im Reichstag und musste nach dem Verbot der SPD als politisch Verfolgter untertauchen. Trotz der Distanz der Eltern zum Regime wurde Ralf Dahrendorf Mitglied des Jungvolks und war wie die meisten Kinder zunächst begeistert von den Kriegserfolgen der deutschen Wehrmacht.

"Das ging gut bis 1940/41. Da war ich 11 oder 12, und ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich nach Hause kam und triumphierend sagte: Wir haben jetzt Dänemark und Norwegen besetzt, und dann bei den Eltern sofort spürte, dass es eine ganz andere Reaktion gab. Und ich glaube, von dem Tag an war mir klar, dass es eine andere Perspektive gibt auf die Ereignisse, als die, die in der Schule gepredigt wurde."

Im Laufe der Jahre griff der Krieg immer stärker in das Leben der Familie ein. Der Vater überlebte nur knapp die alliierten Bombenangriffe auf Hamburg im Sommer 1943.

Auch die Reichshauptstadt wurde immer heftiger bombardiert. Die Dahrendorfs verließen Berlin und gingen nach Buckow in die Märkische Schweiz. In der Schule fand Ralf Dahrendorf einen Freund, der zum Freiheitsverband Höherer Schüler Deutschlands gehörte. Die Gruppe hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Bevölkerung in Flugblattaktionen über die Konzentrationslager und andere Verbrechen aufzuklären.

O-Ton BBC-Kennung: "Hier ist England, hier ist England. Zunächst die Nachrichten in Schlagzeilen…"

"Wir hatten die Informationen, die nicht sehr detailliert waren, aus BBC, also aus dem Rundfunk, aus dem Radio, und von anderen Veröffentlichungen. "
Im Visier der Gestapo
Wenige Tage nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde Gustav Dahrendorf als Mitwisser verhaftet und am 20. Oktober vom Volksgerichtshof zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch der Sohn geriet immer stärker ins Visier der Gestapo.

"Zwei Gestapo-Leute erschienen an der Schule und sagten, sie müssten mit mir reden und nahmen mich mit zum Polizeirevier in Buckow und wollten mich ausquetschen darüber, was andere machen. Dann hatten sie einen Rohrstock, merkwürdigerweise, mit dem sie mich - nicht sehr ausgiebig, aber immerhin - prügelten, und dann sagten sie: Wir geben dir eine Woche, nächste Woche sind wir wieder da, und dann erzählst du uns, was war, oder sonst wirst du dein Wunder erleben. "

Die Gestapo machte ihre Drohung wahr. Wenige Tage später wurde Ralf Dahrendorf in einem Lager bei Schwetig inhaftiert. Es gab keinen Prozess und kein Urteil. Wie lange er dort bleiben sollte, wusste er nicht.

"In der Tat ist es ja dann am Ende so gewesen, dass man das Artilleriefeuer hörte und wusste oder hörte, dass die sowjetischen Truppen sehr rasch voran marschieren. Und dann hat ein Mensch mit dem Titel Lagervollstreckungskommissar uns zu sich geholt und regelrecht ’rausgeschmissen."
"Nichts war Gesetz"
In Berlin-Zehlendorf war Ralf Dahrendorf Zeuge, wie die Rote Armee die Stadt übernahm.

"Es war eine wirkliche Stunde Null, da, wo ich war. Nichts war Gesetz. Ich bin selber ja mit vielen anderen zum U-Bahnhof Onkel Toms Hütte gezogen, um dort zu plündern, was es zu plündern gab. Als ich ankam, gab’s fast nichts mehr. Das einzige Geschäft, in dem man noch etwas fand, war der Buchladen, und ich habe noch heute die Bücher mit romantischen Gedichten im wesentlichen, die ich damals mitgenommen habe aus dem Buchgeschäft."

Wenige Tage nach der Kapitulation entschloss sich Ralf Dahrendorf, beim Wiederaufbau zu helfen. Bis heute ist er von der Verpflichtung jedes Einzelnen zum bürgerschaftlichen Engagement überzeugt. Ralf Dahrendorfs Erfahrungen in der Nazi-Zeit haben bei ihm einen starken Freiheitswillen begründet.

"Das elementare Motiv, das sie bei mir gestärkt, vielleicht auch geweckt haben, ist das Motiv, nicht eingesperrt zu sein, frei zu sein, Möglichkeiten zu haben, nach eigenen Absichten, Wünschen, Lebensplänen zu wirken. Das kommt schon vor aller Demokratie. Das heißt, das ist das wirklich Elementare."