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Nicolas Dickner: "Die sechs Freiheitsgrade"
Verschwunden im Warenstrom

Lisa und Éric, der Nerd, träumen von einer Reise in einem Überseecontainer: Nicolas Dickners neuer Roman erzählt vom Verschwinden in den Waren- und Datenströmen unserer Zeit - mit abgründigem Witz und voller maliziöser Seitenhiebe auf die schöne neue, digitalisierte Konsumwelt.

Von Claudia Kramatschek | 20.11.2017
    Containers are seen at the Yangsan Deepwater Port of Shanghai International Shipping Center in Shanghai, China, 4 December 2010. |
    Ein Container wird zum Medium des Verschwindens - mit Hilfe des Masterprogramms He2 von Éric (dpa / Lao Mo)
    Man nehme eine Handvoll skurriler Figuren, deren Lebenswege scheinbar keinerlei Berührungspunkte aufweisen - und verknüpfe eben diese zu einem so fantastischen wie labyrinthischen Gebilde, das M.C. Escher alle Ehre machen würde: Schon ist man mittendrin in "Die sechs Freiheitsgrade", dem neuen Roman des kanadischen Autors Nicolas Dickner. Die sechs Freiheitsgrade gibt es tatsächlich: Sie bezeichnen die Möglichkeit eines fixen Körpers, sich in einem gegebenen physikalischen Raum zu bewegen. Der gegebene physikalische Raum, an dem in Dickners Roman alles beginnt, ist Kanada. Dort, genauer gesagt im Süden Québecs, lebt die 15-jährige Lisa, ein aufgewecktes Scheidungskind, gemeinsam mit ihrem Vater in einem alten Trailer-Park namens Domaine Bordeur, nahe der amerikanischen Grenze.
    "Neben einem Müllcontainer steht ein Schild mit der Aufschrift Willkommen auf Domaine Bordeur. Vor ein paar Jahren war das Schild zur Zielscheibe eines wortspielenden Vandalen geworden, der, wie heute noch zu lesen ist, in Neonorange Willkommen auf Domaine Boredom - Welthauptstadt der Langeweile daraus gemacht hat."
    Symbiotische Freundschaft: Éric, der Nerd und Lisa
    Man ahnt: Es ist kein idealer Ort für 15-jährige, die davon träumen, die Welt zu erobern. Das findet auch Éric, Lisas bester Freund seit Kindheitstagen. Beide führen, was man eine symbiotische Freundschaft nennt: Tag und Nacht hängen sie zusammen - nicht zuletzt, weil sie selbst sich wie Tag und Nacht unterscheiden.
    "Er sprach wenig, sie füllte die Stille. Er lebte in seinem Kopf, sie beobachtete ständig die Welt um sich herum. Sie tat die Fragen auf, und er fand die Antworten, wobei Lisas Fragen genauso klug und eigenartig waren wie Érics Antworten."
    Vor allem ist Éric der Inbegriff eines Nerd: Wenige Jahre zuvor begann er an Agoraphobie zu leiden. Seitdem lebt er im Internet und mit Ausnahme von Lisa und seinen geliebten Wellensittichen ist die Welt für ihn einzig das, was gehackt werden kann.
    "Alles, aber wirklich alles funktioniert mit Betriebssystemen und Anwendungsprogrammen: Verkehrsampeln, alle Arten von Apparaten, Mikrowellenherde, Telefone, Geldautomaten bis hin zu medizinischen Geräten. ... Plötzlich fühlte sich Éric, als hätte er eine Brille mit Röntgenblick."
    Jay durchwühlt riesige Datenbanken
    Über eine Art Röntgenblick verfügt auch Jay. Eigentlich ist sie wegen Kreditkartenbetrug zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Doch dann erhielt sie ein überraschendes Angebot.
    "Jay könnte das Gefängnis verlassen und ihre Strafe abbüßen, indem sie für die kanadische Bundespolizei arbeitete. Falls sie ablehnte, würde der Prozess seinen Lauf nehmen und aus ihren drei Jahren könnten möglicherweise zehn werden, ein schön rundes, ganzes Jahrzehnt, mit Option auf Strafmilderung nach zwei Dritteln der Urteilsverbüßung."
    Das Dokument, das diesen Deal besiegelte, besiegelte letztlich auch Jays Verschwinden: Alle ihre Daten wurden gelöscht, nicht einmal Jay ist ihr richtiger Name. Doch als lebender Alias ist Jay womöglich genau die Richtige für den Job, den sie als Datenanalystin für Wirtschaftsbetrug bei der Bundespolizei verrichtet.
    "Den lieben langen Tag macht sie Abfragen in babylonischen Datenbanken, darin Hunderttausende Transaktionen über geklonte Kreditkarten, einem riesigen Magma aus rechtmäßigen Käufen, das da und dort mit Vorauszahlungen an Fonds in Bukarest, Lagos oder Minsk gespickt ist. Jays Aufgabe besteht darin, Motive, Wiederholungsfrequenzen und Zufälligkeiten zu erkennen."
    Eine Reise im weißen Überseecontainer
    Eine Zufälligkeit bringt sie letztlich auch auf die Spur von Lisa und Éric: Er lebt inzwischen mit seiner Mutter und deren neuem Freund in Kopenhagen, Lisa ist nach Montréal gezogen - beide zusammen träumen jedoch von einer viel größeren Reise und dabei, mehr sei nicht verraten, spielt ein weißer Überseecontainer die entscheidende Rolle. Dieser Container ist plötzlich wie vom Erdboden verschwunden und versetzt die Bundespolizei in helle Aufregung. Immerhin spielt der Roman im Sommer 2007, kurz zuvor erst wurde London von einer Serie Bombenattentate heimgesucht und so fürchtet man rasch ein kanadisches Terrornetz. Eine hektische Suche bricht aus: nach dem Verbleib des Containers, aber auch nach den Hintermännern. Nicolas Dickner schildert diese Suche dabei als wunderbare Charade. Spät erst begreift man, dass die gegnerischen Parteien - hier Lisa und Éric, dort Jay und ihre Kollegen - zeitversetzt agieren, sprich: Dickner verschachtelt die zeitlichen Ebenen beider Handlungsstränge geschickt ineinander. Und noch etwas begreift man erst spät: Jay recherchiert auf eigene Faust - und mit eigenen Methoden, zu denen nicht zuletzt das Durchwühlen von Abfall gehört.
    "Jay hat den Eindruck, dem Monolog eines Menschen zu lauschen, der nicht über Morsezeichen oder das Winkeralphabet kommuniziert, sondern mittels eines Müllsacks - eine hochmoderne Technik."
    Der Traum vom Verschwinden
    Es ist nur einer von vielen maliziösen Seitenhieben, in denen Dickner der schönen neuen Welt, in der wir leben, mit abgründigem Witz den Spiegel vorhält: Verrät doch nichts den Konsumenten mehr als das, was er kauft. Denn auch, wenn "Die sechs Freiheitsgrade" ein irrer Lesespaß ist, der einen mit sprachlicher Raffinesse - brillant übersetzt von Andreas Jandl - und veritablen Spannungsbögen glänzend unterhält: Dickner zielt - 2007 war immerhin auch das Jahr einer globalen Finanzkrise - auf den allumfassenden Ausverkauf einer Welt, die durch digitale Erfassung immer gläserner wird und dabei zugleich von immer mehr Grenzen durchzogen ist. Im Hintergrund des Romans wabern Firmenschließungen, Jobabwanderung in Billigländer und Flüchtlinge als blinde Passagiere. Der Container, bis zum Ende des Romans dessen rätselhaftes Gravitationszentrum, darf insofern getrost als Allegorie gelesen werden: für den transnationalen Strom von Daten, Waren und Menschen, der Freiheit und Entgrenzung verspricht, aber das Gegenteil praktiziert. Es ist insofern sicher kein Zufall, dass alle Figuren - noch Lisas Vater, der dement wird - auf ihre Weise verschwinden oder vom Verschwinden träumen. Eben deshalb rüstet Dickner den Container in einer trickreichen Gegenbewegung um zu einem Medium des Verschwindens, das die Gesetze von Geografie, Gebiet und Grenze wortwörtlich und symbolisch unterläuft: Niemand Geringeres als Éric erfindet ein Masterprogramm namens He2, das es allen und jedem erlaubt, mit einem vollautomatisierten Container unerkannt und ungehindert auf Reise zu gehen.
    "He2 war keine banale Instrumentensammlung, es war ein Manifest, eine Herausforderung für die Menschheit, die Einladung, einen neuen Kontinent zu erobern."
    Auch Nicolas Dickners Roman "Die sechs Freiheitsgrade" kann insofern als Manifest gelesen werden. Der Einladung, mit ihm einen neuen Kontinent zu erobern, sollte man unbedingt folgen.
    Nicolas Dickner: Die sechs Freiheitsgrade
    Roman. Aus dem kanadischen Französisch von Andreas Jandl
    Frankfurter Verlagsanstalt 2017. 318 Seiten. 24 Euro