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Niederländische EU-Parlamentarierin
"Regierungschefs schauen bei Rechtsstaatlichkeit weg"

Der politische Wille zum Schutz des Rechtsstaats fehle den EU-Regierungschefs, kritisiert die niederländische EU-Abgeordnete Sophie in ´t Veld im Dlf. Das zeige sich auch beim Corona-Hilfspaket, da die Zuschüsse nicht an Rechtsstaats-Prinzipien geknüpft seien. Mit Blick auf Polen und Ungarn sei das problematisch.

Sophie in `t Veld im Gespräch mit Sandra Schulz | 22.07.2020
Sophie in ‚t Veld, Mitglied im Ausschuss des EU-Parlaments für bürgerliche Freiheiten, schaut in die Kamera
In den Bereichen Klima und Forschung hofft die EU-Parlamentarierin beim Corona-Aufbaufonds auf mehr Gelder (dpa / picture alliance / Christoph Soeder)
Einen Corona-Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro hatte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgeschlagen und nach zähem tagelangen Ringen, gab es gestern dann den Durchbruch. Für die niederländische Europaabgeordnete Sophie in `t Veld ist die Einigung nicht überzeugend. Der Parlamentarierin, der als linksliberal geltende Democraten 66, fehlt mehr Fokussierung auf bestimmte Bereiche wie Forschung, auch Klimaschutz. "Es gibt Sachen, wo wir eigentlich höhere Erwartungen hatten."
Die EU-Staats- und Regierungschefinnen und Chefs meldeten mit 1,8 Billionen Euro das größte Finanzpaket in der Geschichte der Europäischen Union. Das Paket umfasst zum einen den EU-Haushaltsrahmen von 2021 bis 2027 und zum anderen tatsächlich einen Corona-Wiederaufbau-Fonds von 750 Milliarden Euro. Zum ersten Mal machen die EU-Mitglieder gemeinsame Schulden. Für Veld haben die harten Verhandlungen ein schlechtes Licht auf den Zustand der EU geworfen. "27 Regierungschefs, die sich streiten, das sieht schlecht aus, und ich glaube, das hat auch eine sehr schlechte Auswirkung." Insgesamt fehle ihr mehr Rechtsstaatsschutz im EU-Aufbaufonds. "Es gab einen Vorschlag, dass Mitgliedsstaaten nur Zuschüsse bekommen, wenn sie auch den Rechtsstaat respektieren", so Veld. Den hätten die Regierungsschefs dann fallen lassen.
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Das Interview in voller Länge
Sandra Schulz: Was überwiegt jetzt bei Ihnen? Die Erleichterung darüber, dass es einen Kompromiss gegeben hat, oder die Enttäuschung über den Inhalt?
Sophie in `t Veld: Erleichterung, Enttäuschung über den Inhalt auch, und ich muss sagen, obwohl ich mich gefreut habe, dass die Regierungschefs sich überhaupt geeinigt haben, dass das Ganze mir keine große Freude bereitet hat. Das war nicht schön zu sehen, wie sie sich über vier Tage wirklich gestritten haben, gekämpft haben. Die Stimmung war nicht gut.
Schulz: Worüber waren Sie denn inhaltlich am enttäuschtesten?
Veld: Es gibt bestimmte Bereiche wie Forschung, auch Klimaschutz. Es gibt Sachen, wo wir eigentlich höhere Erwartungen hatten. Und es ist auch gut, dass das Europäische Parlament noch zustimmen muss. Wir sind noch nicht fertig. Der Fonds muss noch verabschiedet werden und die werden auch bestimmt vorschlagen, dass zum Beispiel für Forschung mehr Gelder vorgesehen werden. Aber was auch wichtig ist, ist, dass wir eigentlich gehofft hatten, dass die Regierungschefs sich mehr um Rechtsstaat gekümmert hätten. Es gab einen Vorschlag, dass Mitgliedsstaaten nur Zuschüsse bekommen, wenn sie auch den Rechtsstaat respektieren. Und wir wissen, dass das zum Beispiel in Ungarn und Polen sehr problematisch ist, dass Rechtsstaat, Demokratie, Grundrechte sehr unter Druck stehen. Das haben die Regierungschefs dann irgendwie fallen lassen, weil es gab andere Sachen. Zum Beispiel der Regierungschef meines Landes, Herr Rutte, fand es dann anscheinend wichtiger, dass Holland weniger einzahlt in den Haushalt der EU als Rechtsstaatsschutz. Das fand ich sehr enttäuschend.
"Die Regierungschefs hätten das entscheiden können"
Schulz: Die Themen müssen wir jetzt nach und nach hintereinander durchgehen. Beim Thema Rechtsstaatsschutz, da sagt Kommissionspräsidentin von der Leyen, ja, okay, wir haben jetzt noch keine feste Verabredung, aber wir haben in diesem Paket zumindest die Kompetenz für die Kommission, jetzt ein Verfahren aufs Gleis zu setzen, für das dann keine Einstimmigkeit mehr gebraucht würde, was ja wirklich qualitativ ein Fortschritt ist. Aber Ihnen reicht das nicht?
Veld: Na ja, ich muss mal sehen. Es ist sehr klar, dass der politische Wille da gefehlt hat. Und wenn der politische Wille schon jetzt nicht da war – das war jetzt der Moment, wo die Regierungschefs das hätten entscheiden können. Die haben es aber nicht gemacht und das heißt, der politische Wille ist nicht wirklich da, und das ist schon seit zehn Jahren das Problem. Das Europäische Parlament, die Europäische Kommission kümmern sich um den Rechtsstaat, aber die Regierungschefs, die schauen einfach weg, weil die finden das peinlich. Ja, das ist wirklich eine große Enttäuschung.
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Schulz: Aber jetzt hätten sie ja Einstimmigkeit gebraucht und die ist künftig dann nicht mehr nötig.
Veld: Mal sehen! Mal sehen, ob das wirklich passiert, weil das muss auch noch von den Regierungschefs verabschiedet werden, eine Entscheidung dazu, dass die nicht mehr mit Einstimmigkeit entscheiden. Die haben andere Prioritäten gesetzt und die haben eingelenkt. Das muss man feststellen. Das ist wirklich schade.
"27 Regierungschefs, die sich streiten, das sieht schlecht aus"
Schulz: Da muss man sich anschauen, was Ursula von der Leyen und die Kommission daraus macht. – Ist es denn für das Europäische Parlament eine Option, dieses Vorhaben, um das jetzt ja fünf Tage gerungen wurde, von dem es zumindest den Anscheinsverdacht gibt, dass es zwar ein vielleicht schmerzhafter Kompromiss ist, aber vielleicht auch der beste aushandelbare Kompromiss ist – ist es eine Option fürs Europäische Parlament, das jetzt wirklich zu stoppen?
Veld: Wir haben morgen eine Debatte im Parlament. Wir werden dann auch einen Entschließungsantrag verabschieden, Stellung nehmen, und wir werden sehen, wie die Lage ist, wie die Stimmung ist. Die meisten Fraktionen haben sich ähnlich geäußert, haben alle gesagt, sie sind sehr enttäuscht, dass Forschung weniger Geld bekommt, auch ein Gesundheitsfonds, der fast gestrichen wurde, was natürlich komisch ist in Corona-Zeiten, Rechtsstaat. Die Tatsache, dass wir zustimmen müssen, das werden wir auch benutzen, um die Sache zu verbessern. Aber gleichzeitig haben auch alle gesagt, wir freuen uns, dass es überhaupt eine Vereinbarung gibt. Und ich möchte gerne noch mal hinzufügen: Ich glaube, dass es auch sehr dringlich ist: Die Art und Weise, worauf wir den Haushalt machen, das müssen wir nun wirklich ändern. Das war vielleicht die richtige Weise vor 70 Jahren, als wir mit sechs Ländern angefangen haben und einen ganz kleinen einfachen Haushalt hatten, aber für die Welt von heute, für die EU von heute geht das gar nicht mehr. 27 Regierungschefs, die sich streiten, das sieht schlecht aus, und ich glaube, das hat auch eine sehr schlechte Auswirkung auf die öffentliche Meinung in den unterschiedlichen Ländern. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist, aber bei uns: Die Holländer, die sagen, ja, wir haben gewonnen, und diese Italiener, wir sollten nicht bezahlen für die Italiener. Anders herum sagen die Italiener, ah, diese Holländer, die sind geizig. So kann man Europäer nicht überzeugen, und gerade jetzt sollten wir das zusammen machen als Europäer. Ich mache mir da große Gedanken.
Schulz: Frau Veld, wobei das ja bei Kompromissen immer so ist, dass jeder dann einen kleinen Sieg auch für sich proklamieren kann.
Veld: Ja, aber nicht Europäer gegeneinander. Es sollte ein gemeinsamer Sieg sein und es war jetzt sehr bitter und das ist nicht gut.
"Es sollte wirklich ein gemeinsames Ergebnis sein"
Schulz: Aber ist es denn ein Gegeneinander, wenn jetzt eine Einigung da ist, die alle unter einen Hut bringt?
Veld: Für die Regierungschefs nicht. Aber die haben das alle zuhause verkauft, kann man sagen, als Sieg auf die anderen, und das ist nicht gut. Es sollte wirklich ein gemeinsames Ergebnis sein, aber es sind ganz wenige, die das zuhause so erklärt haben. Ich sehe es so wie in England damals vor dem Referendum. Da war die Stimmungslage auch nicht gut. Wenn Regierungschefs – für mich ist da die Bundeskanzlerin eine Ausnahme, aber viele Regierungschefs übernehmen einfach keine Verantwortung für das Ganze und hetzen eigentlich die Bevölkerung auch gegen die anderen, mit Karikaturen, mit Vorurteilen, und das macht es für die Regierungschefs auch sehr schwierig, sich zu einigen, weil jeder Kompromiss wird gesehen als ein Verlust. Die können das zuhause nicht erklären und das macht die Verhandlungen sehr schwierig.
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Schulz: Aber ist es denn jetzt in dem Fall nicht umgekehrt? Mark Rutte kommt nachhause und sagt, ich habe zusammen mit meinen Verhandlungspartnern, mit mehreren kleineren Ländern, was ja auch neu ist in der Europäischen Union, genau das erreicht, oder wir sind genau in die Richtung gegangen, die ich versprochen habe? Die sogenannten frugal four, die sogenannten sparsamen Vier, die haben ja diese Summe, die für Zuschüsse gedacht ist, um mehr als 100 Milliarden Euro gedrückt. Was ist daran falsch?
Veld: Was falsch war? Dass jeder so seine eigenen Punkte hat, klar, dafür sind es auch Verhandlungen. Aber es war sehr stark geprägt von Vorurteilen. In meinem Land zum Beispiel gab es große Vorurteile gegen die Italiener. Die sind nicht sparsam, die arbeiten nicht, die haben keine Reformen gemacht in den vergangenen Jahren, und das stimmt einfach nicht. Die haben schon gespart und die haben schon Reformen gemacht. Vielleicht reicht das nicht aus, aber man kann nicht sagen, dass die nicht arbeiten. Das stimmt einfach nicht.
"Die Atmosphäre ist nicht gut und da muss sich wirklich etwas ändern"
Schulz: Aber das sieht ja die Mehrheit in Ihrem Land anscheinend so.
Veld: Bitte!
Schulz: Das scheint ja die Mehrheit in Ihrem Land so zu sehen.
Veld: Ja. Aber wenn das nicht den Fakten entspricht und wenn es Vorurteile sind und wenn das die Stimmung prägt, dann haben wir ein Problem. Man kann sich auseinandersetzen. Das kann auch mal hart sein. Die Basis muss immer die Fakten sein, die Tatsachen sein. Meine Schlussfolgerung: Die Atmosphäre ist nicht gut und da muss sich wirklich etwas ändern. Und ich glaube, Einstimmigkeit für eine Entscheidung, das geht auch nicht mehr, weil mit Einstimmigkeit hat auch zum Beispiel Orbán erzwungen, dass Rechtsstaat eigentlich kein Thema mehr ist, obwohl alle anderen eigentlich dafür wären. Einstimmigkeit, das ist nicht mehr von dieser Zeit. Wir brauchen wirklich mehr Transparenz, ein demokratisches Verfahren für den Haushalt. Ein Haushalt für sieben Jahre ist auch archaisch, weil man kann gar nicht wissen, was von jetzt an in sieben Jahren passiert, wie die Welt sich ändert. So wie wir jetzt gesehen haben bei der Corona-Krise, da brauchen wir jetzt diesen Wiederaufbau-Fonds. Das ist wirklich ein großer Schritt nach vorne. Das ist sehr gut, dass es das jetzt gibt. Aber das konnten wir vor einem Jahr gar nicht vorhersehen.
Schulz: Den Stoff für den nächsten XXL-Sondergipfel haben Sie schon benannt.
Veld: Genau.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.