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Niederlage im Kampf für den Anstand

Die umfängliche Studie der Wiener Zeithistorikerin Sybille Steinbacher widerspricht dem immer wieder geäußerten Vorwurf, dass die 68er-Bewegung für die Sexualisierung der deutschen Gesellschaft den entscheidenden Anstoß gegeben haben.

Von Hans Martin Schönherr-Mann | 07.11.2011
    Kaum hatten die Alliierten Deutschland von den Nazis befreit, stiegen in der katholischen Bischofsstadt Bamberg die Fälle von diversen Geschlechtskrankheiten. Dergleichen hatte es in der einst kaiserlichen Garnisonsstadt so gut wie nicht gegeben. Dass nun die amerikanischen Besatzungsbehörden die Stadt zu Gegenmaßnahmen aufforderten, verwundert sicherlich nicht, auch nicht, dass daraufhin ein spezielles Krankenhaus eingerichtet wurde, das bald im Volksmund "Geschlechtskrankenhaus" hieß.

    Eher schon, dass sich die städtischen Behörden und die deutsche Sittenpolizei eifrig daran beteiligten, Hunderte von Frauen pro Monat in der Nähe von amerikanischen Einrichtungen oder Vergnügungsstätten festzunehmen - ein Verdacht, "Feindsliebchen" zu sein, reichte aus - und sie ins besagte Krankenhaus zwangseinzuliefern, wo sie mindestens ein bis zwei Tage festgehalten wurden. Viele Eltern vermissten häufig ihre Töchter, was sich auch vor den Nachbarn nicht immer verbergen ließ. 1951 kritisierte das der Chefarzt öffentlich - so Sybille Steinbacher,

    "er leite ein Krankenhaus und kein Gefängnis. Die polizeilichen Methoden verstießen nach seiner Ansicht gegen 'fundamentale Bestimmungen der Demokratie."

    Prompt brach in der örtlichen Presse ein Sturm der Entrüstung aus und der Mann wurde umgehend seines Postens enthoben. Sittenhüter wehrten sich denn auch gegen den 1948 und 1953 erschienenen Kinsey-Report mit dem Argument, nicht nur die amerikanische Kultur sei flach und von schmutzigen Schundfilmen beherrscht. Vor allem in amerikanischen Ehen ginge es den Eheleuten nur um Sex und Orgasmus, nicht wie in Deutschland um Liebe, Romantik und den Beitrag zur Volksgemeinschaft.

    Ende August 1953 machte die Süddeutsche Zeitung dafür vor allem die in den USA fortgeschrittene Emanzipation der Frauen verantwortlich. Der bekannte Soziologe Helmut Schelsky - schreibt Sybille Steinbacher

    "attestierte Kinsey 'erschütternde und verderbliche Wirkung'. (. ..) Nützlich und wünschenswert sei es, postulierte er, wenn Sexualität und Sexualmoral der öffentlichen Diskussion gänzlich entzogen blieben."

    Amerikanische Unkultur verbreite sich vornehmlich durch die Massenmedien, das Kino und die Welt der diversen Illustrierten, die dann seit den 60er-Jahren verstärkt auf ihren Covern mit nackter Haut auf sich aufmerksam machten.

    Zuvor schon tauchte eine Unsitte aus dem späten Kaiserreich und der Weimarer Republik wieder auf, mit der die Nazis nachhaltig aufräumten, nämlich Hefte mit Schmutz und Schund - seit 1900 ein juristischer Fachterminus - die zumeist von Kleinverlagen vertrieben wurden. So setzte sich der Kampf für den Anstand über die verschiedenen Vor-, Nach- und Kriegszeiten hinweg ungebrochen fort. Nur die Nazis wichen in den letzten Kriegsjahren von ihrer eigenen Familienpropaganda ab und akzeptierten Schwangerschaften ohne Trauschein. Mit einer Fülle spannender Materialien führt Sybille Steinbacher die Kontinuität nicht nur einer antimodernen Haltung vor, nach der die Sexualität dem Volk dienen sollte, nicht der Lust des Individuums. Sie bemerkt zudem:

    "Dass zwischen rigider Sexualmoral und nach 1945 wieder in den Staatsdienst übernommenen nationalsozialistischen Tätern als deren Exekutoren handfeste Zusammenhänge bestanden, war (. ..) eine Tatsache, keine Einbildung der protestierenden Jugend der späten sechziger Jahre."

    Gleichzeitig bot die späte Abkehr der Nazis von der reinen Lehre den Anstands-Vertretern in der neuen Bundesrepublik die Möglichkeit, sich mit Widerstandkämpfern gegen die Nazis zu vergleichen - man denke auch an den noch heute üblichen Vergleich der Abtreibung mit dem Holocaust. Allerdings waren die deutschen Widerstandskämpfer in jenen Kreisen nicht sehr populär. Stattdessen herrschte ein grassierender Antiamerikanismus.
    Doch trotz der Kontinuität und aller Anstrengungen von Polizei, Justiz, Gesundheitsbehören, Politik, Kirchen etc. geht dieser Kampf bereits in den frühen 60er-Jahren verloren. Somit konnten die 68er mit ihrem Konzept der freien Liebe - so Steinbacher - dafür schwerlich verantwortlich sein. Nein, verantwortlich war der Kommerz.

    Die Schmutzliteratur fand reißenden Absatz, unzüchtige Filme avancierten zu Kassenschlagern: "die Sünderin" mit Hildegard Knef oder Ingmar Bergmanns "das Schweigen". Beate Uhse und ähnliche Unternehmen setzten Millionen mit Sexartikeln um. Vor allem aber sprangen die Illustrierten wie Stern und Quick auf diesen Zug auf, und zwar unter der Maske der Kritik an dieser Sexualisierung: Man kritisierte die Kinsey-Reporte in wochenlangen Serien als unmoralisch, aber ging auf sie detailreich und animativ ein. Spätestens in den 60er-Jahren konnten konservative Regierungen gegen die Sexwelle nichts mehr unternehmen, ohne Wählerstimmen zu riskieren. Steinbacher konstatiert:

    "Ökonomischer Erfolg hatte als Gradmesser persönlicher Integrität die Sittlichkeit abgelöst (…)."

    Mit Sex und Gewalt in den heutigen Medien lassen sich somit besagte Sexwellen leichter verbinden als mit den 68er, die ihrerseits mit diesen Sexwellen nicht viel zu tun hatten. Höchstens radikalisierten sie parallele Elemente, nämlich die freie Liebe, entwickelten diverse neue Lebensformen und beschleunigten vor allem die Emanzipation der Frauen.

    Just dergleichen wollten weder Kinsey, Uhse, Stern noch Quick befördern. Vielmehr ging es ihnen primär darum, das sexuelle Glück in der Ehe zu unterstützen, wobei sie die Emanzipation durchgängig ablehnten.

    Sybille Steinbacher: "Wie der Sex nach Deutschland kam - Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik".
    Siedler, München 2011, gebunden, 576 Seiten, 28 Euro