Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Niederlande
Schulen verlieren Kontakt zu über 5.000 Kindern

Homeschooling unter dem Wäscheständer, im Bad oder im Schrank – in den Niederlanden sorgen sich die Behörden zunehmend über die Schulbedingungen in sozial schwachen Familien. Von einer ganzen Corona-Generation ist die Rede. Zu vielen Schülern haben die Behörden bereits gänzlich die Anbindung verloren.

Von Andrea Lueg | 04.05.2020
Ein leeres Klassenzimmeer mit blau gestrichener Wand und viel Dekoration.
Wie in Deutschland sind die Klassenzimmer in den Niederlanden leer. Der Unterricht findet über das Internet statt - manchmal auch gar nicht. (dpa / Patrick Pleul)
So klingt das im Normalfall: Lehrer und SchülerInnen singen zum Beispiel ein Geburtstagslied für eine Klassenkameradin via Videochat. Der Unterricht funktioniert online an den niederländischen Schulen, wo die Digitalisierung weiter fortgeschritten ist als in Deutschland, grundsätzlich gut. Mit den meisten Kindern sind die Lehrer täglich in Kontakt. Dabei gewinnen sie auch oft ungewohnte Einblicke in deren häusliche Situation, so Miriam Leinders, Schulleiterin in Amsterdam, in einer niederländischen TV-Sendung:
"Man erfährt zum Beispiel von Kindern, die dem Unterricht aus einer Badewanne folgen müssen und dann müssen Sie sich nicht vorstellen, dass das ein frisch geputztes Bad ist. Weil es in den Wohnungen keinen Platz gibt, wo die Kinder lernen können. Kinder sitzen hinter Gardinen, in Schränken, heute erzählte mir ein Lehrer noch, er hätte ein Kind gesehen, das unter einem Wäscheständer saß. Das alles tun Kinder, um Ruhe zu finden und dem Lernen auf Abstand folgen zu können."
Alleine gelassen und abgehängt? Sozial benachteiligte Kinder in der CoronakriseSeit Wochen sind Schulen und Kitas geschlossen. Nun werden zwar die Schulen schrittweise geöffnet, aber für viele Kinder gibt es weiter keinen Zugang zu Betreuungs- und Bildungseinrichtungen.
Abgesehen von den schwierigen Lernsituationen zuhause, fehlt einigen Kindern aber auch die Schule als sicherer Hafen. Denn wenn die Eltern zum Beispiel Drogensüchtige sind oder es häusliche Gewalt gibt, dann sind die Kinder dem jetzt 24 Stunden am Tag ausgeliefert. Deshalb beunruhigt es die Lehrer auch besonders, dass zu einem Teil der Kinder gar kein Kontakt mehr besteht.
Mit Mail und Telefon nicht mehr erreichbar
Die Allgemeine Vereinigung der Schulleiter, AVS, fand in einer Umfrage heraus, dass die Schulen zu gut 5000 SchülerInnen jeglichen Kontakt verloren haben. Sie sind weder per Brief oder mail noch per Telefon zu erreichen. Zuvor hatte der Grundschulverband sogar von 7000 Kindern allein in den ersten Klassen gesprochen, die unauffindbar seien.
"Lassen Sie mich das erstmal ein bisschen einordnen: Es geht um 5200 von 1.5 Millionen Schulkindern in den Niederlanden, es sind also 0,3 Prozent, die wir nicht erreichen, und doch sind das natürlich 5200 Kinder zu viel", sagt Jan van der Ven vom Lehrerverband Lerarencolletief.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Oft, so van der Ven, geht es um Kinder von Eltern, die kaum Niederländisch sprechen. Oder von Arbeitsmigranten, die in der Corona-Krise in ihre Heimat zurückgekehrt sind, ohne der Schule Bescheid zu geben. Aber manche Kinder sind tatsächlich auch in Gefahr oder werden massiv vernachlässigt. Viele Lehrer versuchen nun alles, um mit diesen Kindern wieder in Kontakt zu kommen, erklärt Jan von der Ven:
"Bei den Familien zuhause vorbeizugehen zum Beispiel ist eine wichtige Maßnahme. Wir sind aber auch dabei, Tutorials zu machen für Lehrer. Wir haben gerade so ein Tutorial fertiggestellt mit zwei Lehrern aus Arnheim, die in einem sozialen Brennpunkt unterrichten und genau mit diesem Problem zu tun haben, die eben auch die Kinder zuhause aufgesucht haben, außerhalb der normalen Schulzeiten, die Telefonnummern hinterlassen haben und alles Mögliche versucht haben, um den Kindern und ihren Familien einen niedrigschwelligen Zugang zu ermöglichen."
Bußgelder oder kleinere Gruppen?
Allerdings ist van der Ven überzeugt, dass die LehrerInnen ihre Möglichkeiten weitgehend ausgeschöpft haben: "Ich denke, bei diesen 5200 SchülerInnen, wo das im Moment nicht gelingt, kann man sagen, dass die LehrerInnen alles unternommen haben, um sie zu erreichen in den letzten Wochen, und wenn das nicht gelingt, muss man gemeinsam mit den Gemeinden, mit den Beamten, die auch die Schulpflicht durchsetzen, versuchen, diese Kinder noch zurück in das Schulsystem zu bringen."
Ob die Androhung zum Beispiel von Bußgeldern durch die Behörden allerdings helfen würde, ist bei Schulexperten und Sozialarbeitern umstritten. Schulminister Arie Slob möchte, dass die Beamten mit einer helfenden Hand und nicht mit dem Bußgeldkatalog zu den Eltern gehen.
Eine andere Strategie könnte darin liegen, die Kinder aus schwierigen Verhältnissen oder auch die, die ohnehin in der Schule nicht gut mitkommen, schon jetzt wieder in kleinen Gruppen in die Schule zu holen, so Miriam Leinders.
"Da sind wir dabei. Wir haben schon wieder erste Gruppen von zehn Kindern, die jeden Tag zur Schule kommen, fünf Tage die Woche, um aus der unsicheren Situation herauszukommen und auch wieder in den Lernrhythmus zu kommen, in den sicheren Hafen der Schule, wo sie auch wieder lernen können."
Den Rückstand wieder aufholen
Am 11. Mai werden die Schulen in den Niederlanden den Betrieb vorsichtig wieder aufnehmen. Und dann geht es laut Miriam Leinders darum, alle Kinder wieder an Bord zu haben, und sicher zu stellen, sie auch beim Lernen wieder zu integrieren.
"Wir müssen wirklich gut überlegen, wie wir das wieder reparieren können. Ich nenne das nicht umsonst eine Corona-Generation, denn diese Generation wird noch eine sehr lange Zeit in unserem Schulsystem bleiben. Also müssen wir wirklich zusehen, dass wir den Lernrückstand, den es bei allen Kindern gibt, aber bei diesen Kindern eben besonders, wie wir den wieder aufholen können."