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Niedriglohnland Erzgebirge
An den Rand gedrängt

Die Unzufriedenheit in Annaberg-Buchholz ist groß - das zeigen die Bürger des Erzgebirgskreises der Kanzlerin bei einem Wahlkampfauftritt. Der Landkreis im Südwesten von Sachsen ist laut Bundesregierung der mit dem niedrigsten monatlichen Bruttoeinkommen.

Von Bastian Brandau | 11.09.2017
    Der Markt von Annaberg-Buchholz im Erzgebirge, Sachsen.
    Für den Wahlkampfauftritt der Kanzlerin hat sich die CDU den Marktplatz Annaberg-Buchholz ausgewählt. Der Erzgebirgskreis hat das niedrigste mittlere monatliche Bruttoeinkommen in der Bundesrepublik (imago stock&people)
    Wahlkampfauftakt der sächsischen CDU Mitte August. Für den ersten der beiden Auftritte der Kanzlerin in Sachsen hat sich die Partei für den Marktplatz von Annaberg-Buchholz entschieden. Prachtvolle Bauten erinnern hier an die Zeit, als die Stadt durch den Silberbergbau reich wurde. In einem abgetrennten Bereich vor der Bühne sitzen applaudierende CDU-Anhänger mit Wahlkampfschildern der Partei. Weiter hinten lassen über hundert Menschen ihrer Wut freien Lauf: "Hau ab"!
    AfD und Pegida-Anhänger - Plakate und Transparente in der Hand - begleiten die gesamte Rede der Kanzlerin mit Pfiffen und Sprechchören. 30 Minuten, dann noch die Hymne - Merkel entschwebt zum nächsten Auftritt nach Thüringen. Während Mitarbeiter der Wahlkampagne die Bühne abbauen, wird auf dem Marktplatz hitzig diskutiert:
    "Die Leute, die jahrelang, 44, 45 Jahre lang, gearbeitet haben, die können kaum leben noch. Das müsste man eigentlich mal der Frau Merkel sagen. Deswegen sind die Leute alle aggressiv. Und wenn auch dann die Ausländer hierherkommen und kriegen Geld - eine Person, dreieinhalb Tausend pro Monat - müssen wir für die bezahlen. So viel kriegen wir nicht mal. Wir kriegen 1200 für drei Schichten und können kaum leben damit. Wir müssen noch nebenbei arbeiten."
    Kein Weihnachtsgeld, keine Prämien
    Dieser Mann hat gebuht, während die Kanzlerin gesprochen hat. Seinen Namen will er nicht nennen, er arbeite in der Zuliefererbranche für die Automobilindustrie. Klar ist: Was die Versorgung eines Flüchtlings den Staat kostet, hängt von vielen Faktoren ab. 2016 waren es nach Auskunft der Bundesregierung im Durchschnitt knapp 1000 Euro pro Monat für Flüchtlinge aus Syrien. Die vom Mann behaupteten 3500 Euro stimmen nicht. Eine gefühlte Wahrheit, die 1200 Euro Einkommen gegenüber stehen. Die Summe etwa, die einem Alleinstehenden bleibt, der zum Mindestlohn von 8,84 Euro arbeitet. Und das sind im Erzgebirge oft auch ausgebildete Fachkräfte mit jahrelanger Erfahrung.
    Besucher einer Wahlkampfveranstaltung der CDU protestieren am 17.08.2017 auf dem Markt in Annaberg- Buchholz im Erzgebirge mit AFD Plakaten gegen Angela Merkel. Annaberg-Buchholz Sachsen Deutschland Visitors a Election campaign event the CDU Protest at 17 08 2017 on the Market in Annaberg Buchholz in Ore Mountains with AFD Posters against Angela Merkel Annaberg Buchholz Saxony Germany
    Während einer Wahlkampfveranstaltung der CDU am 17. August 2017 protestieren Besucher auf dem Markt in Annaberg-Buchholz. Die Unzufriedenheit bezüglich der Löhne ist in dieser Region sehr hoch (imago stock&people)
    "Und sie arbeiten und verdienen nicht ausreichend, werden schlecht bezahlt sagen Sie?"
    "Also ich arbeite in drei Schichten, wir haben noch nie eine Lohnerhöhung gekriegt. In der Zeitung steht zwar, die Löhne seien gestiegen, aber nie im Erzgebirge. Wir kriegen nie eine Lohnerhöhung, wir haben noch nie eine gesehen! Aber immer mehr arbeiten! Wir arbeiten jeden Sonnabend. Und kriegen kein Weihnachtsgeld, keine Prämie, nur Arschtritte. Die Unternehmer werden immer brutaler. Die wollen nicht zahlen!"
    Hauptsache Arbeit
    Auch der Gewerkschafter Ralf Hron hat Angela Merkels Auftritt in Annaberg-Buchholz verfolgt. Hron ist Regionsgeschäftsführer für den Deutschen Gewerkschaftsbund in Südwestsachsen, die Region um Chemnitz, Zwickau und den Erzgebirgskreis. Warum zahlen die Arbeitgeber hier niedrigere Löhne als in anderen Regionen?
    "Da gibt es viele viele Gründe. Der Wichtigste ist, dass sie es gewohnt waren, in Zeiten des "Personalwirtschaftlichen Paradieses" - Professor Michael Behr hat diese Theorie entwickelt - dass die gewohnt waren nach dem ostdeutschen Umbruch, immer genug Leute zu bekommen."
    Hauptsache Arbeit, das sei hier lange Jahre das Credo gewesen. Mit dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft haben gerade junge Menschen das Erzgebirge verlassen. Diejenigen, die blieben, durften bei der Jobsuche nicht wählerisch sein. Und irgendwie kam man schon über die Runden, genügsam und mit Unterstützung der Familie und Freunde. Und dass, obwohl das Erzgebirge durchaus seine wirtschaftlichen Stärken habe, sagt Gewerkschafter Hron:
    "Also die Fertigungsdichte ist im Erzgebirgskreis höher als im deutschen Durchschnitt. 33 Prozent Fertigungsdichte im Landkreis, das ist sehr hoch. Dort wird in vielen Bereichen produziert. Wenn man das insgesamt im sächsischen Niveau nimmt, ist das auch sehr weit vorne. Aber gleichzeitig haben sie dieses niedrige Einkommensniveau, was bedeutet, dass die Löhne auch im Fertigungsbereich besonders tief sind."
    Politiker sollten Unzufriedenheit ernst nehmen
    Es gebe im Vergleich weniger Betriebe mit Tarifbindungen. Und außertarifliche Bezahlung bedeutet eben auch meist: Kein Urlaubsgeld, kein Weihnachtsgeld. Hinzu kommen viele Teilzeitjobs und Leiharbeit, Aufstocker. Alles Erklärungsansätze, warum die Menschen beim Auftritt der Kanzlerin in Annaberg-Buchholz pfeifen:
    "Und ich muss ehrlich sagen, ich hab 74 gelernt. Bis 2000 sind wir noch als Menschen gut behandelt worden. Ab 2000 sind wir der letzte Dreck. Wir arbeiten in der Automobilbranche, jetzt kommen hier die Elektroautos. Was denken Sie denn, wer die sich kaufen soll? Niemand! So. Wir machen Qualität, sind Fachkräfte, wir werden unterbezahlt, es interessiert kein Schwein. Und deswegen werden die Leute immer aggressiver, es ist so. Von der Regierung, egal ob das die Frau Merkel gerade ist oder die SPD oder die Alternative, die sind alle durcheinander. Alle durch den Wind!"
    Die Wut auf dem Marktplatz von Annaberg-Buchholz hat Gewerkschafter Ralf Hron nachhaltig beeindruckt. Der Mindestlohn habe das Lohnniveau zwar kräftig nach oben gezogen. Und der Fachkräftemangel werde die Löhne weiter steigen lassen, weil die Betriebe sonst schlicht kein Personal mehr fänden. Aber:
    "Wir sind im Moment an einem ganz schwierigen Punk und den sollten alle Leute, die politische Verantwortung tragen oder in der Verwaltung auch sehr sehr ernst nehmen. Wir haben dort eine latent steigende Unzufriedenheit, wie die: arbeite Vollzeit, bin fleißig, bekomme am Ende 13, 1400 raus, das funktioniert nicht mehr mit meiner Familie. Und die Leute machen dann andere dafür verantwortlich."