Donnerstag, 28. März 2024

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No-Deal-Brexit
"Es liegt an London, das Ruder herumzureißen"

In Großbritannien wird befürchtet, Premier Boris Johnson könne sich über das Anti-No-Deal-Gesetz hinwegsetzen. Die britische Regierung stelle sich damit offen gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, sagte die Grünen-Europaparlamentarierin Terry Reintke im Dlf. Das sei "unfassbar".

Terry Reintke im Gespräch mit Mario Dobovisek | 09.09.2019
Frau mit einer Umhängetasche in den Farben der britischen Nationalflagge hält ein EU-Fähnchen
Britische Abgeordnete haben sich sich gegen Johnsons No-Deal-Brexit-Kurs gestellt und ein Gesetz verabschiedet, das einen Brexit ohne Abkommen verhindern soll (imago images / Ralph Peters)
Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Terry Reintke. Für die deutschen Grünen ist sie im EU-Parlament und dort deren Sprecherin für den Brexit. Guten Morgen, Frau Reintke!
Terry Reintke: Guten Morgen.
Dobovisek: Bleiben wir bei dem Bild der Spieltheorie, das wir gerade aus London gehört haben: die beiden Wagen, die aufeinander zurasen. Das Lenkrad rausreißen, oder soll es lieber einer herumreißen, und zwar, um den Wagen nicht mehr auf den anderen zusteuern zu lassen? Und wer sollte das sein? Wer soll das Lenkrad herumreißen?
Reintke: Ich finde, dieses Bild macht ja schon klar, in was für einer Situation wir uns gerade befinden. Ich würde ganz ehrlich sagen: Es hat ein Problem. Die Europäische Union rast nicht auf irgendetwas zu. Die Europäische Union steht auf dem Standpunkt, den sie schon zu Beginn der Verhandlungen eingenommen hat. Dementsprechend ist es faktisch so, dass wir darauf angewiesen sind, dass Boris Johnson oder die britische Regierung, Großbritannien, das Lenkrad herumreißt, und darauf hoffe ich. Es ist ja jetzt keine neue Situation, dass Großbritannien in einer Sackgasse drinsteckt. Das kann nur aufgelöst werden, indem es jetzt einen Paradigmenwechsel auf britischer Seite gibt und mit Neuwahlen oder einem Peoples Vote, einem weiteren Referendum eine neue Dynamik in diese Situation reingebracht wird.
Dobovisek: Aber ist es, Frau Reintke, vielleicht gerade das Problem, dass die EU so stillsteht?
Reintke: Die Situation in der Europäischen Union ist ja die: Wir sind 27 Regierungen, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission. Wir haben genau das getan, was, wie ich finde, in Verhandlungen getan werden muss: Ich einige mich auf eine Verhandlungsposition und verhandle dann entlang dieser Linien. Und es ist ja auch nicht nur das: Uns ist auch die Einhaltung des Karfreitags-Abkommens, des Friedensvertrages für Nordirland wahnsinnig wichtig, und dementsprechend gibt es bestimmte äußere Bedingungen, die es unmöglich machen, einfach jetzt zu sagen, wir machen das Austrittsabkommen noch mal auf. Deshalb liegt es an London, da jetzt das Ruder herumzureißen und zu sagen, wir probieren, aus dieser Situation, aus dieser Sackgasse rauszukommen.
"Verlängerung sollte auf jeden Fall gewährt werden"
Dobovisek: Bevor wir auf diesen gordischen Knoten zu sprechen kommen, gerade was Irland angeht, vielleicht lassen Sie uns erst noch mal bei der Zeit bleiben, bei den drei Monaten, um die es jetzt geht, die Verschiebung des Brexit-Termins. Johnson hat ja schon angedeutet, dass er sich vielleicht gar nicht an das No-No-Deal-Gesetz halten will, zwei Briefe schreiben will, einmal das offizielle Schreiben und dann noch ein Schreiben hinterher: April, April, ich meine das ja gar nicht so. Wie sollte sich in diesem Fall die EU verhalten?
Reintke: Ich will erst mal sagen, dass ich es absolut unfassbar finde, dass jetzt eine britische Regierung sagt, es ist zwar ein Gesetz verabschiedet worden und das wird jetzt ja auch heute in Kraft treten, aber wir werden uns im Zweifel überhaupt nicht daran halten. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, dass eine Regierung sich so offen gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit stellt und sagt, eine Parlamentsentscheidung werden wir einfach ignorieren.
Ich bin der Meinung, dass diese Vorstellung, dass mit dem Austrittsabkommen diese Verhandlungen vorbei wären und es ein Ende mit Schrecken geben würde, wenn die Europäische Union nicht verlängert, dass die zu kurz gesprungen ist, weil die eigentlichen Verhandlungen über die zukünftige Beziehung zwischen Großbritannien und der Europäischen Union, die finden ja erst danach statt. Dementsprechend: Der Brexit ist nicht durch, wenn Großbritannien rauscrashen würde. Ich glaube, dass es dann sogar noch viel, viel schreckenhafter weitergeht, wenn es zu diesem No Deal kommt, weil dann muss man schauen, wie man diesen Scherbenhaufen wieder zusammensetzt. Dementsprechend bin ich der Meinung, dass diese Verlängerung auf jeden Fall gewährt werden soll, wenn es die Hoffnung gibt, wenn es diesen klaren Plan gibt, wie man genau aus dieser Sackgasse wieder rauskommt.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Dobovisek: Das ist ein ganz wichtiges "wenn", Frau Reintke, weil das können wir zumindest auf britischer Seite im Moment ja nicht erkennen. Insofern muss ich die Frage stellen, die ich auch bei den letzten Verlängerungen immer wieder gestellt habe und meine Kolleginnen und Kollegen hier auch an diesem Mikrofon: Was soll in weiteren drei Monaten besser laufen als in den vergangenen drei Jahren?
Reintke: Eine Sache hat sich ja verändert. Es werden jetzt ganz konkret Neuwahlen in Aussicht gestellt und daraus könnte ja schon eine neue Dynamik entstehen mit neuen Mehrheiten, die dann auch zu einem Durchbruch führen könnten. Ich habe immer gesagt, für mich ist die Situation so verfahren, warum gibt man es nicht an die Bürgerinnen und Bürger zurück und sagt noch mal, wir machen ein weiteres Referendum darüber, wollen wir jetzt diesen Brexit so oder so gestalten. Offensichtlich ging das mit nur einer parlamentarischen Debatte und einer parlamentarischen Entscheidung nicht. Da ist man einfach verfahren. Aber auch Neuwahlen wären eine Möglichkeit, diesen Stillstand aufzulösen. Dementsprechend würde ich sagen, vor diesem Hintergrund sollte die Europäische Union einen weiteren Aufschub gewähren und sagen, wir geben euch noch mal die Zeit, das auf eurer Seite zu lösen, und dann hoffen wir, dass wir um einen No Deal herumkommen.
"Die Spaltung in der Gesellschaft ist groß"
Dobovisek: Da scheinen Sie sehr viel geduldiger zu sein mit den Briten als zum Beispiel die französische Regierung. Jedenfalls sagte der Außenminister gestern, eine Verschiebung des Brexit um weitere drei Monate sei unter diesen Bedingungen nicht möglich. Man wolle den Brexit nicht alle drei Monate aufs Neue verschieben. Können Sie dem etwas abgewinnen?
Reintke: Natürlich! Die Frustration ist hier in Brüssel auch sehr groß. Die Debatte um jede Fristverlängerung war wieder genau diese Frage, bringt es denn überhaupt was, oder ist nicht mittlerweile das politische System in Großbritannien so zerbrochen. Das wurde ja auch im Beitrag eben noch mal klargemacht. Die Spaltung in der Gesellschaft ist so groß, dass es eventuell zu überhaupt gar keinem Ergebnis kommt. Ich bin aber wirklich der Meinung, dass auch die negativen Auswirkungen nicht nur für Großbritannien, sondern auch für den Rest der Europäischen Union, gerade für Deutschland und gerade auch für mein Bundesland Nordrhein-Westfalen so negativ wären, dass wir jetzt noch mal alles versuchen sollten, um das abzuwenden. Ich finde, das ist eine Verantwortung, die haben wir gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, weil ja, da geht es um wirtschaftliche Auswirkungen. Da geht es aber auch genau um die Frage, wie geht es in Nordirland weiter, wird es wieder eine harte Grenze geben. Das will ich nicht aufs Spiel setzen und deshalb …
"Wir können das Risiko nicht eingehen"
Dobovisek: Lassen Sie uns, Frau Reintke, ganz kurz bei diesem wirtschaftlichen Aspekt, den Sie ansprechen, bleiben. Da sagt nämlich der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sinngemäß, inzwischen sei ein Ende mit Schrecken, ein Brexit ohne Abkommen für die Wirtschaft besser als ein Schrecken ohne Ende, denn die anhaltende Verunsicherung schade den Unternehmen und schließlich den Arbeitsplätzen mehr als jetzt das Ende mit Schrecken. Also doch lieber am 31. Oktober einen Punkt setzen?
Reintke: Das ist natürlich mit einem sehr großen Fragezeichen versehen, weil noch mal nach dem No-Deal-Austritt Großbritanniens gehen ja dann erst die Verhandlungen los. Und sie gehen dann auf einer Basis los, in der es erst mal zu einer sehr katastrophalen Situation in Großbritannien kommen wird und auch in der Europäischen Union, zum Beispiel zu Wirtschaftseinbußen. Und dann müsste man schauen, wie kann man von dieser Basis aus wieder Vertrauen aufbauen, wie kann man Beziehungen aufbauen. Ich würde das gerne vermeiden und würde sagen, wenn es einen klaren Plan gibt, dann muss es noch mal diesen Aufschub geben, um dann zu erreichen, dass man doch noch ein Abkommen bekommt, oder dass es eine weitere Abstimmung in Großbritannien geben wird.
Dobovisek: Und der klare Plan muss auch eine Lösung für die Irland-Frage, die Grenzfrage vorsehen?
Reintke: Definitiv, eben weil das Risiko einzugehen, mal zu schauen, was passiert in Nordirland, dafür ist die Situation immer noch viel zu angespannt. Ich war selber mehrfach in Belfast unterwegs und in anderen Teilen, in Londonderry. Wir können da nicht das Risiko eingehen, dass es eventuell wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. Dementsprechend ist es so wichtig, jetzt zu sagen, wir brauchen einen konkreten Plan, London muss einen konkreten Plan vorlegen, aber dann wird sich die Europäische Union einem Aufschub nicht verwehren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.