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Nominierung zur Kommissionschefin
"Demokratische Zusagen an Wähler werden nicht respektiert"

Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel hat es als undemokratisch bezeichnet, dass der Europäische Rat das Spitzenkandidaten-Prinzip des Parlaments missachtet hat. Sie werde gegen den "sehr intransparenten Vorschlag des Rates" stimmen, der Ursula von der Leyen als neue EU-Kommissionschefin vorsieht.

Birgit Sippel im Gespräch mit Mario Dobovisek | 03.07.2019
SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel im Europäischen Parlament in Brüssel
Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel wird nicht für Ursula von der Leyen stimmen (EU-Parlament / Stephanie Lecocq)
Mario Dobovisek: Manfred Weber wird es nicht, Frans Timmermans auch nicht – am Ende wird es keiner der Spitzenkandidaten aus dem EU-Wahlkampf. Stattdessen soll noch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Präsidentin der EU-Kommission werden. Eine Deutsche zwar, doch die Kanzlerin hat sich bei der entscheidenden Abstimmung im Rat enthalten, wie sie selber sagt, mit der protestierenden SPD im Nacken. – Am Telefon begrüße ich Birgit Sippel, Europaabgeordnete der SPD. Guten Morgen!
Birgit Sippel: Schönen guten Morgen!
Dobovisek: Was haben Sie gegen die erste deutsche Kommissionspräsidentin seit Jahrzehnten, zumal die erste Frau in dieser Position überhaupt?
Sippel: Na ja. Ich finde es ja schon schön, dass wir eine Frau haben. Aber ich finde, das Argument passt an der Stelle nicht. Wir sind in den Wahlkampf eingetreten mit dem Prinzip, die europäischen Parteien benennen die Kandidaten, die sie für geeignet halten, die Kommission an der Spitze zu leiten. Und genau mit der Prämisse sind die Menschen auch wählen gegangen. Wir hatten dieses Mal eine sehr hohe Wahlbeteiligung. Jetzt gilt das alles nicht mehr? Wir gehen zurück ins Hinterzimmer, schlagen Personen vor, die vorher überhaupt nicht auf der Rolle standen, dass sie eventuell in die Kommission gehen könnten, und das ist schon etwas, wo ich sage, da werden demokratische Zusagen auch an die Wähler nicht respektiert.
"Wir gehen zurück ins Hinterzimmer"
Dobovisek: Ich habe vorhin den Europaabgeordneten Michael Gahler von der CDU gesprochen, der sich ein bisschen hin- und hergerissen fühlte. Bei Ihnen ist es klar: Sie werden gegen Ursula von der Leyen stimmen im Parlament?
Sippel: Ich werde gegen einen sehr intransparenten Vorschlag des Rates stimmen. Ich will daran erinnern, dass wir noch vor zwei, drei Tagen einen ganz anderen Vorschlag des Rates auf dem Tisch hatten, der eine Position vorsah für Timmermans, für Vestager, für Weber, und in diesem Vorschlag war innerhalb der Kommission natürlich auch eine besondere Funktion für einen osteuropäischen Kandidaten vorgesehen. Das alles ist jetzt weg, sondern es werden andere Namen genannt, Namen, die vorher nicht auf der Rolle standen, und ich finde, so kann man mit demokratischen Prinzipien nicht umgehen.
Daher klar: Ich werde diesem Paket nicht zustimmen, weil einfach der Entstehungsprozess nicht nachvollziehbar ist. Man muss ja auch sehen: Protest gegen dieses erste Tableau, was auf dem Tisch lag, mit Timmermans an der Spitze, hat ja insbesondere Protest bei den Visegrad-Staaten ausgelöst, gegen die Timmermans, was seine Aufgabe war, auch ein Artikel-sieben-Verfahren gestartet hat. Mit dem neuen Vorschlag haben die Visegrad-Staaten offenbar kein Problem, und auch das halte ich für bedenklich, dass Staaten, die Probleme mit der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben, sich jetzt an dieser Stelle offenbar durchgesetzt haben. Das ist zumindest der Eindruck, der da entsteht.
Dobovisek: Um das noch mal zuzuspitzen: Hat der Rat undemokratisch gehandelt?
Sippel: Er hat zumindest demokratische Spielregeln, die wir als Parlament eingeführt haben, mit der Idee des Spitzenkandidaten völlig übergangen. Das Tableau ist entstanden in Hinterzimmern, ohne Transparenz, ohne Begründungen, warum man welches Tableau gewählt hat. Es ging nur um Geschachere, Interessen zu befriedigen. Es ist nicht erkennbar, dass es um inhaltliche Positionen ging, um die Weiterentwicklung der Europäischen Union. Und ja, das kann man tatsächlich undemokratisch nennen.
"Das kann man tatsächlich undemokratisch nennen"
Dobovisek: Manfred Weber hatte am Wochenende das Parlament ja noch davor gewarnt, freiwillig Macht abzugeben. Hat sich das Parlament selbst geschwächt?
Sippel: Manfred Weber selber ja auch, indem er jetzt auf alle Ambitionen zunächst einmal verzichtet. Ich höre auch aus der EVP, dass es Stimmen gibt, die Frau von der Leyen wählen wollen, und will daran erinnern, dass auch die EVP im Vorfeld der Wahlen, während der Wahlen immer wieder gesagt hat, wir können nur einen Menschen an die Spitze der Kommission wählen, der vorher auch Spitzenkandidat war. Jetzt aber gilt das alles nicht mehr!
Dobovisek: Aber noch mal die Frage umgedreht, Frau Sippel. Das Europäische Parlament hätte ja auch mit mehr Nachdruck dem Rat gegenüber agieren können? Das war ja in den letzten Tagen eher ruhig.
Sippel: Ja! Aber das gilt dann doch für alle. Das gilt auch für Herrn Weber, das gilt für uns. Und natürlich: Wir haben immer gesagt in den letzten Tagen, bitte Spitzenkandidaten respektieren. Das ist durchaus gesagt worden. Mit welchem Nachdruck, darüber kann man sich streiten. Man kann auch darüber streiten, welche Dinge tatsächlich nach draußen dringen und veröffentlicht werden. Gleichwohl, dass man nach der Wahl auch als Spitzenkandidat selber jetzt sagt, das Prinzip interessiert uns nicht mehr, hat, glaube ich, mit Blick auf die Wähler, die etwas anderes erwartet haben, schon einen bitteren Nachgeschmack.
"Auch das hinterlässt ein Geschmäckle"
Dobovisek: Sollten sich Rat und Parlament dann ehrlich machen und beim nächsten Mal lieber gleich auf die Spitzenkandidaten verzichten?
Sippel: Nein! Ich fürchte zwar, dass das darauf hinauslaufen wird, wenn man jetzt diesem Paket zustimmen würde, was ja noch nicht in trockenen Tüchern ist, sondern ganz im Gegenteil glaube ich, man muss sich vorher ehrlich machen und ehrlich darüber reden, wen halten wir denn tatsächlich für geeignet. Die europäischen Parteien müssen ihr Gewicht in die Lage setzen und nicht Einzelinteressen hinterherlaufen, sondern sich tatsächlich zusammen mit den europäischen Parteien hinsetzen und überlegen, wen halten wir für geeignet, wen wollen wir ins Rennen schicken. Das wird der Weg sein.
Dobovisek: Mal abgesehen von dem Prinzip, das Sie ansprechen, und der Parteipolitik. Kurz zum Schluss, Frau Sippel, die Frage: Halten Sie Ursula von der Leyen für geeignet als Kommissionspräsidentin?
Sippel: Ich finde es schade, dass sie jemanden wegloben, der gerade in Deutschland unter Druck steht wegen vieler Debatten in der Bundeswehr, der Ausstattung der Bundeswehr, der Vergabeverfahren. Auch das hinterlässt ein Geschmäckle - völlig jenseits der Frage, ob Frau von der Leyen für diese Position geeignet wäre.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.