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"Nora" am Schauspiel Frankfurt
Ein Stück Wahrheit über emanzipatorische Worthülsen und Selbsttäuschungen

Henrik Ibsens Theaterstück "Nora oder Ein Puppenheim" zeigt eine Frau, die ihre Frauenrolle als brave Gemahlin satthat. Das Stück löste vor 134 Jahren einen Skandal aus. Es ist allerdings schwer, das Stück an heutige Gegebenheiten heranzuführen. Das Schauspiel Frankfurt wagt einen Versuch.

Von Cornelie Ueding | 10.05.2014
    Ein Blick auf das Gebäude, dass sich Schauspiel und Oper in Frankfurt am Main teilen.
    In Frankfurt am Main teilen sich Schauspiel und Oper ein Gebäude. (dpa / Daniel Reinhardt)
    Nora pfeift, zwitschert, tiriliert wie ein Vögelchen. Zwitscherlerche nennt ihr Mann sie - warum sollte er sie ernst nehmen. Mit lauten Nora-Rufen rennt er auf sie zu, immer an der Wand entlang, die schräg aus der düsteren Bühnentiefe ins grelle Licht führt, dem Nora ausgesetzt ist. Blicklos schaut sie geradeaus, festgebannt in der Ecke, in die sie sich durch eine konventionelle Ehe und eine Urkundenfälschung aus Liebe manövriert hat - und erpressbar geworden ist. Alle Figuren, die nun in einer nicht abreißenden Folge einer nach dem anderen aus dem Dunkel auf sie eindringen, kommen für sie von hinten und erschüttern ihr Gleichgewicht: Egal ob sie sich, wie ihr Mann, durch lärmendes Rufen ankündigen oder, wie der kranke Arzt, durch Schnaufen bemerkbar machen, oder, wie der erpresserische Advokat, liebedienerisch anschleichen.
    Blickkontakt - Fehlanzeige. Reflexartige Repliken statt Dialoge. Mit welchen Absichten die Besuchertypen auch auftreten, sie spulen im Schnellsprechmodus die gängigen Phrasen ab, ein schnappschildkrötenartiges Geplapper und Geschnatter - soziales Geräusch, bestenfalls. Im Subtext bedrohlich. Lauernd, böse. Dafür, wie Nora sich dabei fühlt und was diese Besucher jeweils im Schilde führen, hat Regisseur Michael Thalheimer ganz individuelle verräterische Körpersprachen entwickelt: Der Gatte - überheblich, gönnerhaft, ganz der versierte Erfolgsmensch, einer, der alles im Griff hat und seiner Sache sicher, zu sicher ist, beschreibt mit beiden Armen weite Kreise in der Luft, bis in die Fingerspitzen vibrierend vor Energie, sagt, was er zu sagen geplant hat, verabschiedet sich mit einem Kuss auf die Stirn seiner Gattin - und ciao!
    Der Arzt rudert laut stöhnend herbei, schwingt mit Unterstützung des weit ausholenden linken Armes in einem unnachahmlichen Gang den Bauch nach vorn, zieht das kranke Bein nach und redet, was wunder, vor allem von sich. Und vor sich hin. Der Advokat - die bitterböse Karikatur eines Schleimers mit professionell grinsender Fratze, vom Kopf bis in die Fingerspitzen getränkt von dem Gesülze, das er in solchen Mengen von sich gibt, dass sich eine Pfütze unter ihm bildet. Und Frau Linde, die gute Freundin, ist eine als mit-fühlende Seele getarnte, durch und durch tückische "Wahrheitsfanatikerin".
    Nora kommt nicht von der Stelle
    In dieser Welt gibt es keine Alternative für Nora. Bettina Hoppe, so gar kein süßlicher Typ, steckt auch als Ehefrau noch wie ein braves Mädchen im Matrosenkleid. Sie kann immer wieder mal das Standbein wechseln, der Kopf wegdrehen, sie geht in die Knie, strauchelt, fängt sich wieder, windet sich, wendet sich ab, erstarrt, plappert wohlerzogen und wie einstudiert am Wichtigen vorbei - aber sie kommt nicht von der Stelle. Wenn sie eine kleine Atempause hat, malt und kritzelt sie pantomimisch Bilder und stumm bleibende Worte in die Luft. Als ihr Mann die Wahrheit erfährt, kurz um seine Karriere fürchten muss und den Boden unter den Füßen verliert, spricht er zum ersten und einzigen Male Klartext.
    Kurz darauf - die Intriganten sind einander wert und findig auf Lösungswege spezialisiert, die den verschiedenen Interessen Rechnung tragen - fällt er, die Entschuldigung geht ihm glatt von der Zunge, wieder in die eingeübten Ehe- und Liebesphrasen zurück. Klarsichtig kann Nora nun zwar den Entschluss fassen, ihn und die Kinder zu verlassen. Aber es bleibt beim Wort. Sie bleibt. Sie bleibt auf genau demselben Fleck stehen, auf den sie während der ganzen Aufführung wie gefesselt in allen emotionalen Kampf- und Krampfzuständen beschränkt war. Sie beginnt einfach wieder zu pfeifen. Wie zu Beginn. Wie im Wald. Aus Angst vor den wilden Tieren. Einer berechtigten Angst. Denn nur einmal, auf einem Fest, hatten all diese Figuren ihr wahres Gesicht gezeigt, ohne einkleidendes Gefuchtel und Getue: Maskiert waren sie als Ungeheuer kenntlich geworden.
    Wohin sollte Nora in dieser bestialischen Gesellschaft fliehen? Kein Emanzipationsstück. Nur ein Stück Wahrheit über emanzipatorische Worthülsen und Selbsttäuschungen - und ein großer, im besten Sinne aufklärerischer Theaterabend, in dem das sattsam bekannten Stück eine völlig neue Dimension gewinnt, dank dieses ebenso klugen wie tückischen Spiels mit den Defiziten unseres Lebens. Beglaubigt von grandiosen Menschendarstellern, die trotz aller karikaturistischen Züge nicht nur Nora das Fürchten lehren.