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"Nordkorea ist eigentlich ein Atavismus"

Solange sich China und die USA nicht mit Nordkorea an einen Tisch setzen, rechnet Markus Tidten mit weiteren "Säbelrasselaktionen" in der Region. Aufgrund seiner isolierten Lage habe Pjöngjang keine anderen Gesprächskanäle, sagt der Korea-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Markus Tidten im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 24.11.2010
    Tobias Armbrüster: An der Grenze zwischen Nord- und Südkorea, da herrscht heute wieder Ruhe, aber es ist wohl angespannte Ruhe. Gestern waren die beiden Staaten zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder in einen offenen Artillerie-Gefechtszug verwickelt. Da hat sich schon wieder Angst breitgemacht, dass dieser Konflikt, der ja seit Jahrzehnten schwelt, wieder ausbricht und in einen offenen Krieg übergeht. Zwei Soldaten und zwei Zivilisten sind während der mehrstündigen Auseinandersetzung ums Leben gekommen.

    Was also sind die treibenden Kräfte im Konflikt auf der koreanischen Halbinsel, und vor allem was bedeutet diese jüngste Eskalation für die Zukunft der Beziehungen zwischen Nord- und Südkorea? Darüber können wir jetzt mit Markus Tidten sprechen. Er ist Korea-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, dem Think Tank des Deutschen Bundestages. Schönen guten Tag, Herr Tidten.

    Markus Tidten: Guten Tag, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Herr Tidten, was steckt hinter diesen Feuergefechten zwischen Nord- und Südkorea?

    Tidten: Es stecken ganz offensichtlich zumindest zwei Absichten dahinter. Die eine ist die alte Bekannte, die passt auch sehr genau in die Serie der Provokation, wie wohl Ausmaß und Schäden der jetzigen Provokation natürlich beispiellos sind, aber sie sind ein erneutes Zeichen dafür, dass Nordkorea darauf pocht, als wirkliche Großmacht und Atommacht ernst genommen zu werden.

    Der zweite Punkt und die zweite Absicht solcher Provokationen ist natürlich, die Gesprächspartner daran zu erinnern, dass man miteinander reden müsse, und hier ist es insbesondere ein Signal an die Vereinigten Staaten. Das ist ein langer Wunsch Nordkoreas, eigentlich schon seit Ende des Koreakrieges, dass man in Ermangelung eines Friedensvertrages endlich mit den USA ein Abkommen haben möchte, einen Friedensvertrag, der Nordkorea sozusagen völkerrechtlich sichert, dass sie aus dem Süden heraus, wo ja 30.000 amerikanische Soldaten stationiert sind, keinerlei Bedrohung mehr erfahren müssen. So gesehen bezichtigen sich beide Seiten, sich jeweils zu provozieren.

    Armbrüster: Müssen wir denn in Zukunft häufiger mit solchen Zwischenfällen rechnen?

    Tidten: Solange es den beiden Hauptakteuren in dieser Runde der Sechs-Länder-Gespräche – das ist ja sozusagen der Versuch einer Fortsetzung des gescheiterten Genfer Rahmenabkommens -, solange die beiden Hauptakteure, nämlich Peking und Washington, sich nicht bereit erklären, sich mit Nordkorea wieder an den Tisch zu setzen, werden wir eine weitere Serie solcher Säbelrasselaktionen zu erwarten haben. Es bleibt nur zu hoffen, dass man auf beiden Seiten, also aufseiten Nordkoreas als auch aufseiten Südkoreas, nicht die Grenze überschreitet, denn käme es zu einem Flächenbrand und zu einer ernsthaften militärischen Auseinandersetzung hin zu einem Krieg, wäre das nicht nur das Ende des Regimes in Pjöngjang, sondern würde völlig neu die Situation in Nordostasien mit Blick auf Chinas und Amerikas Rolle in der Region gestalten.

    Armbrüster: Sie haben jetzt schon die Rolle Chinas angesprochen. Wie wichtig ist Nordkorea denn für China als Verbündeter?

    Tidten: Nordkorea war lange sozusagen der ideologisch wichtige Bruderstaat. Die ideologische Komponente spielt in diesem aufstrebenden China heute so gut wie keine Rolle mehr. Nordkorea ist für die Volksrepublik China jetzt in zweierlei Hinsicht ein wichtiger Faktor. Zum einen ist es ein Pufferstaat gegenüber diesen vorhin schon erwähnten 30.000 Mann amerikanisches Militär. Würde das Regime beziehungsweise das Land verschwinden, aus welchen Gründen auch immer, hätten wir eine Situation, dass 30.000 amerikanische Soldaten an der chinesischen Grenze stehen. Das will weder Peking, noch Washington.

    Der zweite Faktor, warum Nordkorea so wichtig ist für die Volksrepublik China, ist sozusagen das Argument, was in jüngster Zeit immer gerne gebracht wird von China, dass es ja als neue ordnungspolitische und potente Macht in der Region Einfluss hat auf die Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Bereich, und da bietet sich natürlich so etwas wie Nordkorea an. Wenn man dokumentieren kann, dass man auch diesen etwas sperrigen Schützling sozusagen in die Schranken weisen kann, dann genügt man diesem Anspruch, und daher sind jetzt alle Augen der Region auf China gerichtet und insbesondere die USA und Japan fordern China auf, nun endlich seinen Einfluss auf Nordkorea geltend zu machen, der de facto sehr groß sein könnte. China ist der Tropf, an dem Nordkorea hängt. China liefert die Energie, die Lebensmittel, die Finanzmittel, die technischen Hilfen. Also China könnte sehr viel Druck ausüben, aber China muss vorsichtig sein, denn man will den Erhalt unterhalb der Nuklearschwelle auf jeden Fall sichern.

    Armbrüster: Abgesehen von dieser engen Anbindung an Peking, welche Rolle spielt denn Nordkorea in dieser gesamten Region?

    Tidten: Nordkorea ist eigentlich ein Atavismus. Nordkorea ist sozusagen ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg, der übrigens in dieser Region ja nie so richtig kalt gewesen ist, denn es gab ja immer wieder Waffengänge und Scharmützel. Nordkorea erinnert Südkorea daran, dass es noch eine Aufgabe gibt, die 1953 nicht vollendet wurde, nämlich eine stabile Situation zu schaffen – ob das nun Wiedervereinigung ist, ob das die Koexistenz zweier Regime und eines Volkes ist, das sei dahingestellt. Nordkorea erinnert daran, dass diese Fragen immer noch nicht geklärt sind.

    Der zweite Punkt ist – und hier ist trotz der großen Entfernung von ungefähr 10.000 Kilometern zu uns ein sehr wichtiger Punkt, den auch wir mit Sorge beobachten müssen -, Nordkorea ist einer der wichtigsten Proliferanten von spaltbarem Material, von Waffentechnik und von Raketentechnik an nichtstaatliche Akteure. Und hier ist der Punkt, wo es sicherlich Sinn macht, sehr genau auch aus Berlin und aus Brüssel hinzuschauen, wie sich die Situation entwickelt.

    Armbrüster: Herr Tidten, ganz kurz zum Schluss. Sie haben eingangs darauf hingewiesen, dass Nordkorea hier sozusagen eine Botschaft senden will, auch an den Westen. Da fragt man sich automatisch: Gibt es nicht, ich sage mal, diplomatischere Möglichkeiten, Botschaften zu senden, als ein Artilleriescharmützel?

    Tidten: Natürlich könnte man sozusagen in zivilisierten Kreisen sich eine ganze Reihe von Botschaftsmöglichkeiten ausdenken.

    Armbrüster: Heißt das, wir haben es hier sozusagen auch mit einem kulturellen Problem zu tun?

    Tidten: Wir haben es mit einem kulturellen Problem, vor allen Dingen wir haben es mit der Tatsache zu tun, dass Nordkorea keine anderen Gesprächskanäle hat und auch keine anderen kennt, denn das Land ist isoliert, es hat ja fast keine diplomatischen Beziehungen zu irgendwelchen Ländern, mit denen es gerne reden möchte, und es fühlt sich – und wenn man hier jetzt versucht, eine nordkoreanische Brille aufzusetzen – seit 1953 permanent bedroht durch ein waffenstrotzendes Allianzgefüge an seinen südlichen Grenzen, und es glaubt, dieser Bedrohung nur durch die Dokumentation eigener Stärke Paroli bieten zu können.

    Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk war das Markus Tidten, der Korea-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Schönen Dank für diese Einschätzungen.

    Tidten: Ich bedanke mich.