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Nordsyrien
Rolf Mützenich (SPD): Keine Waffen in die Türkei

Der Angriff auf Syrien sei völkerrechtswidrig, sagte SPD-Bundestags-Fraktionschef Rolf Mützenich im Dlf. Deshalb werde die Koalition auch keine Exportgenehmigung für Waffen in die Türkei mehr erteilen. Auch müsse es Regelungen für ein europäisches Waffenembargo geben - viele Länder seien dazu bereit.

Rolf Mützenich im Gespräch mit Silvia Engels | 21.10.2019
Rolf Mützenich, SPD
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich vermisst in der Diskussion um Syrien die Frage, wie man die mittlerweile 200.000 Menschen schützen kann, die in Nordsyrien nicht wissen, wohin sie können (dpa-Bildfunk / Bernd von Jutrczenka )
Silvia Engels: Die Partei- und Fraktionsspitzen von CDU/CSU und SPD berieten gestern Abend einmal mehr gemeinsam mit Bundeskanzlerin Merkel im Koalitionsausschuss. Dabei verständigte man sich offenbar darauf, Anfang November Bilanz ziehen zu wollen über das eigene Regierungshandeln. Am Telefon ist einer der Teilnehmer: Rolf Mützenich, Fraktionschef der SPD im Deutschen Bundestag. Im November wird Bilanz gezogen. Ist das der bestätigte Zeitplan?
Rolf Mützenich: Das ist richtig. Es ist in dem Sinne eine technische Bilanz, die die Bundesregierung zusammengestellt hat, und natürlich müssen die Parteien dann ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen. Aber natürlich konnte insbesondere nur in der Bundesregierung selbst die Arbeit der letzten Jahre noch mal so aufgearbeitet werden, und wir werden uns dann genau anschauen, was erfüllt worden ist, was noch kommen muss, und das sind natürlich auch die Fragen, die unseren Bundesparteitag beschäftigen, genauso wie den der CDU.
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Engels: Sie sprechen es an: Es ist gerade für die SPD kein Routine-Termin, denn einfach nur Pro und Contra abzuarbeiten, wird da nicht helfen. Die jetzt anstehende Bilanz der Regierungsarbeit steht im Koalitionsvertrag und wurde in Teilen der SPD ja von Anfang an fast als gesetzter Ausstiegstermin aus der ungeliebten Koalition gesehen. Ist der Kreis der Ausstiegswilligen seitdem gewachsen?
Mützenich: Ich glaube, es ist einfach ein Moment gewesen, damals bei den Koalitionsverhandlungen, dass wir gesagt haben, aus den Erfahrungen der Vergangenheit müssen wir eine Zwischenbilanz ziehen – insbesondere der Dinge, die damals nicht auf den Weg gebracht wurden, obwohl sie vereinbart waren. Und es bedarf ja bei der Regierungsarbeit auch der Vorarbeiten, so dass man nach zwei Jahren, finde ich, schon mal gut einen Zwischenstand finden kann. Das war der Anlass gewesen. Damals ist die Lebensleistungsrente, die wir heute mit Grundrente bezeichnen, nicht gekommen, und deswegen war das eine Selbstvergewisserung gewesen, aber auf der anderen Seite eine Zwischenbilanz zu ziehen, was noch auf dem Weg ist und was man möglicherweise auch vor zwei Jahren nicht gesehen hat.
Engels: Auf die Grundrente kommen wir gleich noch zu sprechen. Aber noch mal die Frage: Ist in dieser Zeit nach Ihrer Wahrnehmung der Kreis der Ausstiegswilligen gewachsen?
Mützenich: Das glaube ich nicht. Was ich zumindest auf den Regionalkonferenzen gesehen habe, war das überhaupt nicht im Mittelpunkt der Fragen gewesen, sondern die Mitglieder wollten wissen, welche Schwerpunkte wir setzen, wie geht es zum Beispiel, was wir ja offensichtlich noch besprechen wollen, mit der Grundrente weiter, was ist aber um die internationale Politik bestellt, wie kann sich die Sozialdemokratische Partei im Kabinett behaupten. Alles das waren Fragen, die nicht im Grunde genommen nur unter dem Aspekt standen, so schnell wie möglich raus, sondern was kann die Sozialdemokratie für die Menschen im Land noch leisten. Die Digitalisierung der Arbeitswelt, Klimaschutz, alles das sind Fragen, die auf den Regionalkonferenzen eine Rolle spielten, und da gehe ich davon aus, dass das auch auf dem Parteitag der Fall sein wird.
Bedürftigkeitsprüfung: "Nicht so einfach, eine Entscheidung zu treffen"
Engels: Dann schauen wir kurz auf die Negativseite der Bilanz, und da steht immer noch die Grundrente. Wir haben es mehrfach angedeutet. Deren Einführung steht im Koalitionsvertrag. Aber nicht im Koalitionsvertrag steht die Forderung der SPD, dass es für die Bezugsberechtigten keine Bedürftigkeitsprüfung mehr geben soll. Da ist die SPD über den Koalitionsvertrag hinausgeschossen und genau das wirft die Union ihr jetzt vor. Deswegen gibt es noch keine Einigung. Geben Sie nach?
Mützenich: Es geht, glaube ich, gar nicht um Vorwürfe, sondern damals hat Hubertus Heil als zuständiger Fachminister darauf hingewiesen, dass das Rentensystem diese Bedürftigkeitsprüfung nicht kennt, sondern dass gewisse Ansprüche individuell angesammelt werden. Und ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, dass wir eine Lösung finden, einen großen Teil von Menschen auch letztlich davon profitieren zu lassen, wenn sie 35 Jahre lang in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Das ist schon eine lange Zeit und das heißt, wir versuchen eben, den Menschen auch eine Gewissheit zu geben, die lange im Arbeitsprozess waren.
Engels: sie sind auf einem guten Weg. Das hören wir jetzt auch schon seit Wochen. Wann gibt es denn endlich die Entscheidung?
Mützenich: Es ist nicht so einfach, eine Entscheidung zu treffen. Die Arbeitsgruppen sind ja jetzt mehrfach zusammengekommen und ich bin immer noch zuversichtlich, dass in dieser Arbeitsgruppe auch am Ende ein gutes Konstrukt entwickelt wird, was dann auch in den Deutschen Bundestag hineinkommt. Ich glaube, wir müssen nicht immer nur nach Tagen schauen. In dieser schnelllebigen Zeit ist das klar. Aber man muss auch verlässlich daran arbeiten, und daran sind die Mitglieder der Arbeitsgruppe auch interessiert.
Engels: Kritiker halten Ihnen ja vor, mit dieser Forderung, dass die Bedürftigkeitsprüfung wegfällt, sei die SPD nun einmal auf ein sehr hohes Ross geklettert und wisse nicht recht, wie sie davon wieder herunterkommen soll, und dafür würde sie jetzt den Preis bezahlen, dass das ganze Projekt hängt und auch deshalb die SPD bei den zurückliegenden Landtagswahlen und möglicherweise auch bei der bevorstehenden Wahl in Thüringen das immer wieder um die Ohren gehauen bekommt.
Mützenich: Na ja. Kritik ist immer leicht. Aber wir sind natürlich auch letztlich daran gebunden, eine verlässliche Arbeit zu machen. Ich habe ja darauf hingewiesen: Es gibt in dem Sinne keine Bedürftigkeitsprüfung. Wir müssen einfach schauen, ob wir ein System finden, wo wir insbesondere den Menschen – und es sind ja oft auch viele in den neuen Bundesländern oder insbesondere auch Frauen –, die aufgrund von Erwerbsbiografien nicht diese Tätigkeit machen konnten, die Möglichkeit geben, am Ende auch eine Lebensleistungsrente zu haben. Ich finde, das ist ein konstruktiver Weg. Wir haben eben in der Sendung über die Arbeiten der Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung seit 1969 gehört und das ist Verlässlichkeit, aber auch, dass wir ein System finden, mit dem wir arbeiten können.
"Vermisse Diskussion über Fliehende in Syrien"
Engels: Das war damals Willy Brandt. Wir haben vor einer halben Stunde an das 50. Jubiläum seiner Kanzlerschaft erinnert. Jetzt aber wieder der Blick voraus. Bei der Grundrente gibt es nach wie vor keinen Durchbruch. Aber es gibt offenbar eine Einigung, die Klimabeschlüsse bis Ende des Jahres zu bündeln und voranzubringen. Was steht da im Einzelnen an?
Mützenich: Es war uns insbesondere wichtig gewesen, dass zum Beispiel das Klimaschutzgesetz noch in diesem Jahr verabschiedet wird. Das werden wir erreichen, dass wir etwa Ende November dann auch im Bundesrat gewesen sind. Der Emissionshandel und auch die steuerlichen Beschlüsse, die dazu gefasst worden sind, insbesondere was dann die Absenkung der Mehrwertsteuer bei der Deutschen Bahn betrifft.
Engels: Herr Mützenich, Ihr Fachgebiet ist bekanntlich die Außenpolitik. Darum soll es gestern im Koalitionsausschuss ja auch gegangen sein: Die türkische Militäroffensive in Nordsyrien. Die Waffenruhe ist derzeit nicht von Dauer. Die Türkei hat schon angekündigt, dass sie die Offensive fortsetzen will. Wie reagiert die Bundesregierung? Bleibt es dabei, keinerlei Waffen mehr an die Türkei zu liefern?
Mützenich: Frau Engels, das war einer auch der Schwerpunkte gewesen. Und Sie haben recht: Das muss uns alle besorgen, was nicht nur in Syrien letztlich passiert, in Libyen, in der Ukraine, im Jemen. Deswegen hat der Koalitionsausschuss gestern auch zusammen mit dem Außenminister länger über diese Folgen gesprochen. In der Tat: Es wird keine Genehmigungen geben. Und ich glaube, wir müssen auch alles dafür tun, dass es ein Waffenembargo innerhalb der Europäischen Union gibt. Auf der anderen Seite vermisse ich auch in den letzten Tagen die Diskussion darüber, können wir die mittlerweile 200.000 Menschen schützen, die fliehen, die in Nordsyrien im Grunde genommen gar nicht wissen, wohin sie können. In Idlib stehen auch etwa 1,5 Millionen Menschen sozusagen mit gepackten Taschen, um zu fliehen vor den letzten Gefechten, die dort stattfinden. Alles das hat gestern eine Rolle gespielt und wir waren dankbar, dass der Bundesaußenminister uns berichtet hat, dass das Deutsche Rote Kreuz mittlerweile versucht, Korridore zu schaffen, wo dann auch mit deutscher Hilfe die Menschen mit humanitärer Hilfe erreicht werden.
Durch Völkerrecht stilbildend auf Türkei wirken
Engels: Zurück noch mal auf die Entscheidungen der Bundesregierung. Keine Exportgenehmigung von Waffen, das haben Sie gesagt. Was ist denn mit den schon genehmigten Exporten? Werden die auch komplett gestoppt, auch wenn man da möglicherweise in Kauf nehmen muss, dass dann die betroffenen Firmen gegen die Bundesregierung gerichtlich vorgehen?
Mützenich: In der Tat, das haben wir ja auch von anderen Entscheidungen gesehen gegenüber Saudi-Arabien, wo wir ein Waffenembargo haben. Da bin ich ganz gelassen. Ich finde auch, der Bundesaußenminister und der Wirtschaftsminister werden sich jetzt noch mal genau diese Genehmigungspraxis aus den letzten Monaten anschauen. Es gibt eine Versicherung, dass diese Waffen nicht an die Türkei geliefert werden, wenn sie in diesem Konflikt eingesetzt werden. Aber noch mal: Wir gehen oder ich gehe auch darüber hinaus, dass ich glaube, es wäre wichtig, wenn innerhalb der Europäischen Union ein generelles Waffenembargo gefunden wird, und auch daran muss die Bundesregierung arbeiten.
Engels: Sie haben Außenminister Maas angesprochen. Er hat gestern ja im ZDF bestätigt, dass eigentlich vieles dafür spricht, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei auf Syrien handelt. Muss das vor den Internationalen Strafgerichtshof?
Mützenich: Ich glaube, das steht mittlerweile außer Frage, dass es diese rechtliche Bewertung gibt. Wir waren im Bundestag eigentlich bis auf die AfD alle der Meinung gewesen, dass hier ein Völkerrechtsbruch vorliegt, und wir wissen ja, dass es in den vergangenen Jahren eine Veränderung auch gegeben hat im Römischen Statut, wenn es einen Angriffskrieg gibt - und das ist definitiv ein Angriffskrieg; es ist keine Selbstverteidigung -, dass dann auch Personen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Türkei ist nicht Mitglied dieses Vertragswerkes, aber zum Beispiel im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen könnten entsprechende Beschlüsse gefasst werden. Deutschland ist dort Mitglied und deswegen bin ich auch der Meinung, weil ich das am Wochenende ja auch versucht habe, ein bisschen argumentativ zu unterstreichen, dass wir in der Lage sein könnten, mit der Frage des Völkerrechts auch hier zumindest stilbildend zu wirken. Weil wenn wir das jetzt nicht tun, werden wir es in Zukunft überhaupt nicht tun können.
Verhältnis mit Türkei so belastet
Engels: Völkerrecht ist das eine. Waffensperren sind das nächste. Die Grünen, aber auch viele Beobachter sagen, viel größeren Druck auf die Türkei könnte Deutschland ausüben, wenn sie droht, Wirtschaftssanktionen zu verhängen, Hermes-Bürgschaften zu sperren oder anderes. Weshalb immer noch hier die Zurückhaltung und was sagt der Koalitionsausschuss dazu?
Mützenich: Nein, es ist gar nicht eine Zurückhaltung, sondern genau auch das wird geprüft. Und wir sehen ja auch in den letzten Tagen, dass zum Beispiel VW eine große Investition in der Türkei zurückstellt. In der vergangenen Woche waren wir Sozialdemokraten in der Diskussion auch der Meinung gewesen, man muss sich genau die Möglichkeiten innerhalb der Zollunion, des Vertrages mit der Europäischen Union anschauen. In der Tat: Hermes-Bürgschaften müssen nicht gewährt werden in einer Situation, wo wir ja wissen, dass zum Beispiel in der Türkei noch weiterhin Deutsche festgehalten werden, die sich dort haben nichts zu Schulden kommen lassen, außer der Tatsache, dass sie Erdogan kritisiert haben. Das sind alles Dinge, die aber auch nicht neu sind, sondern ich glaube, das Verhältnis zur Türkei, einem NATO-Partner, ist so belastet, dass wir uns aber auch nicht scheuen, zu entsprechenden Konsequenzen weiterhin zu kommen.
Engels: Ob es in der EU aber eine Mehrheit dafür gibt, Wirtschaftssanktionen oder zumindest Hermes-Bürgschaftssperrungen vorzunehmen, ist sehr fraglich. Dort hat die Türkei ja zum Teil auch Unterstützer. Dann ein deutscher Alleingang?
Mützenich: Auf jeden Fall müssen wir einen nationalen Weg auch finden. Die Hermes-Bürgschaften sind ja nun mal eine deutsche Erfindung in dem Sinne. Ich glaube aber auf der anderen Seite, dass es viele Staaten innerhalb der Europäischen Union gibt, die durchaus vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen Verhaltens der türkischen Regierung hier auch zu Konsequenzen auf europäischer Ebene bereit sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.