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Norwegens Deutschenkinder
Per Kleinanzeige zur Adoption freigegeben

Viele der norwegischen Frauen, die sich mit den Nazi-Besatzern eingelassen hatten, leben heute nicht mehr. Die Kinder aus diesen Beziehungen erfahren meist gar nicht, dass sie deutsche Wurzeln haben. Aber manchmal kommt ein dramatischer Anruf aus Deutschland.

Von Gunnar Köhne | 28.05.2019
Die Norwegerin Elna Johnsen steht draußen vor ihrem Haus, das eine halbe Stunde von Bergen entfernt liegt
Von ihren Geschwistern erfährt Elna Johnsen erst im Alter von 42 Jahren (Deutschlandradio / Gunnar Köhne)
Elna Johnsen holt mich von der Bushaltestelle ab. Die Reihenhaussiedlung aus Holz, die sich auf einer Anhöhe oberhalb der Straße erstreckt, sei etwas unübersichtlich, sagt die 75-Jährige während sie mit festem Schritt den Weg hinauf geht. Wir sind eine halbe Autostunde von der norwegischen Hafenstadt Bergen entfernt.
Als wir Johnsens schmale, weiß verkleidete Doppelhaushälfte betreten, treffen wir Kjell, ihren zweiten Ehemann, ein früherer Seefahrer. Wir sind eine halbe Autostunde von der norwegischen Hafenstadt Bergen entfernt.
Elna Johnsen serviert im Wohnzimmer Kaffee und Gebäck. Sie setzt sich in die tiefe Polstergarnitur, streicht eine grau melierte Haarsträhne aus der Stirn, lächelt zurückhaltend und beginnt zunächst auf Deutsch:
"Ich habe natürlich Kontakt zu meinen Geschwistern in Deutschland. Und ich spreche nur Deutsch mit ihnen. Aber das ist nicht fließend. Aber wir verstehen uns."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Vergangenheitsbewältigung - "Deutschenkinder" in Norwegen.

Dass Johnsen Geschwister in Deutschland hat, erfährt die frühere Verwaltungsangestellte erst im Alter von 42 Jahren. Eines Tages klingelt das Telefon, am Apparat eine ihr unbekannte ältere Frau aus Ostnorwegen:
"Das war ein ziemlich dramatischer Abend für mich. Die Anruferin weinte die ganze Zeit am Telefon. Sie betonte immer wieder, dass sie sich schon früher hatte melden wollen, aber sich nicht getraut habe. Sie sagte, sie sei meine Mutter. Und ich hatte in dem Augenblick keinen Zweifel daran, dass sie die Wahrheit sagte."
Nach 42 Jahren die Geschwister in Deutschland gefunden
Von dem Tag an weiß Elna Johnsen, dass ihre Eltern, bei denen sie behütet aufgewachsen war, nur ihre Pflegeeltern waren. Ihre wahre Herkunft war ihr verschwiegen worden. Tatsächlich ist sie das Kind von Therese, einer Näherin aus Bergen und Otto, einem deutschen Wehrmachtssoldaten. Therese teilte sich damals mit ihrer Schwester und deren drei Kindern eine winzige Wohnung; für ein weiteres Kind sei kein Platz gewesen. Otto wurde an die Ostfront verlegt, die kleine Elna kam in einem der sogenannten Lebensbornheime der nationalsozialistischen Besatzer zur Welt. Per Kleinanzeige wurde sie danach zur Adoption freigegeben.
"Ich wurde zunächst von einem wohlhabenden, kinderlosen Ehepaar aufgenommen. Aber die hatten offenbar im Nachhinein herausgefunden, dass ich ein "Deutschenkind" war. Da brachten sie mich zurück, setzten mich vor die Haustür, malten ein Hakenkreuz auf meine Reisetasche und gingen wieder."
All das hat erfährt Elna Johnsen bei ersten Begegnungen mit ihrer leiblichen Mutter. Auch, dass die Mutter nach dem Krieg noch einmal geheiratet und drei Kinder bekommen hat. Doch was war aus Otto, ihrem Vater geworden? Im Hauptpostamt von Bergen wälzt Elna deutsche Telefonbücher und findet schließlich dessen Namen und Telefonnummer in Trier:
"Damals konnte ich ja noch kein Deutsch. Ich bat also eine Freundin, für mich anzurufen. Zunächst war eine Frau am Apparat, Ottos Ehefrau. Als er im Hintergrund hörte, dass es ein Anruf aus Norwegen war, rief er laut 'Geht es um Gisela?'. Gisela – das war mein erster Name nach der Geburt. Und dann telefonierten wir über eine Stunde lang. Das war schön, ja."
Deutschenkinder wurden ausgegrenzt und diskriminiert
Auch Otto aus Trier, der noch in den letzten Kriegswochen desertierte um – am Ende vergeblich - seine Liebe in Norwegen wieder zu treffen, ist glücklich, die verlorene Tochter wiedergefunden zu haben. Viel gemeinsame Zeit bleibt jedoch nicht. Ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung stirbt Otto. Doch Elna, das Einzelkind, hat plötzlich drei weitere Geschwister, dieses Mal in Deutschland. Fortan lernt sie nicht nur Deutsch, sondern engagiert sich auch im norwegischen Verband der sogenannten "Kriegskinder". Sie selbst hatte nie unter Hänseleien und Ausgrenzungen leiden müssen, weil ja niemand wissen durfte, dass sie die Tochter eines Deutschen war. Aber die Geschichten anderer Betroffener erschüttern sie:
"Darunter waren so viele, die seid 20, 30 Jahren auf der Suche nach ihrer Herkunft waren! Als sich die norwegische Regierung im Jahr 2000 offiziell bei den 'Deutschenkindern' für die erlittenen Diskriminierungen entschuldigte, wurden ja auch Entschädigungen angeboten. Aber das, was diese Menschen in ihrer Jugend an Ausgrenzung erleiden mussten, das hatte manches Leben längst zerstört."
Elna Johnsen war eingeladen, als sich die norwegische Ministerpräsidentin Solberg im Oktober 2018 im Namen des norwegischen Staates auch bei den als "Deutschenflittchen" geächteten Müttern offiziell entschuldigte. Ob sich ihre Mutter darüber gefreut hätte? Johnsen zögert kurz mit der Antwort:
"Die wäre darüber vielleicht nicht so erfreut gewesen. Sie hatte sich ja ihr ganzes Leben bemüht, diese Episode geheim zu halten. Aber wir, die Kinder dieser Frauen, wir fanden, das war eine schöne Geste."