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Norwegische Band Pristine
Erfolg ohne Hype

Die Band Pristine aus Norwegen schwimmt weit oben auf der aktuellen Retro-Blues-Rock-Welle. Mit starken Songs, starker Stimme und starker Performance, die – da liegt die Ironie – von zeitloser Klasse zeugt. Dafür hat die 2006 gegründete Formation einen langen Weg zurückgelegt.

Von Marcel Anders | 23.06.2019
    Eine Frau mit roten Haaren und drei Männer blicken in die Kamera.
    Heidi Solheim bildet zusammen mit dem Gitarristen Espen Jakobsen das kreative Zentrum des Quartetts "Pristine". (Daniel Lilleeng)
    Joe Bonamassa und Beth Hart haben den Blues zurück in die Charts und in die großen Konzerthallen geführt. Die Rival Sons, Blues Pils und zuletzt Greta van Fleet haben ein neues Publikum für diesen Sound sensibilisiert – und den Weg für Bands wie Pristine geebnet.
    Das Quartett aus Tromsö im hohen Norden von Norwegen hat schon über zehn Jahre auf dem Buckel und vier Alben veröffentlicht – startet aber erst jetzt so richtig durch. Die Zeit scheint einmal mehr reif für den Sound der 70er Jahre. Mitte April erschien "Road Back To Ruin". Das fünfte Werk von Pristine, das erstmals die deutschen Charts knackte. Ein Erfolg, der ausschließlich auf Mundpropaganda basiert.
    Denn: Die Band agiert handwerklich auf hohem Niveau und die Mitglieder sind echte Überzeugungstäter. Vor allem Sängerin Heidi Solheim:
    Heidi Solheim: "Ich stamme aus einem sehr kleinen Dorf und hatte schon früh das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmt. Einfach, weil ich immer auf der Bühne stehen wollte, weil ich singen und Theater spielen wollte. Ich habe laut gelacht, laut gesprochen und war ein sehr exzentrisches Kind. Doch in Norwegen ist es so: Wenn du ein Nagel bist, der hervorsticht, wirst du ganz schnell plattgeklopft. Von daher war es für mich nicht leicht, denn ich wusste nicht, was mit mir los war – sondern nur, dass da etwas falsch lief. Als Kind war ich immer zu viel. Ich war zu laut, ich war zu sehr dies und das. Zum Glück hatte ich Eltern, die meine Karriere als Musikerin unterstützt haben."
    Die 37-Jährige ist die uneingeschränkte Chefin der Band. Zusammen mit Gitarrist Espen Jakobsen bildet sie den kreativen Nukleus von Pristine – und ein Duo, das gegensätzlicher kaum sein könnte: Hier die überdrehte Powerfrau mit rot gefärbten Haaren und übersprudelndem Naturell. Da der introvertierte Espen mit dem feinen Sinn für Humor. Die beiden sind die einzige Konstante der Band. Andere Mitglieder kommen und gehen, doch die Sängerin und der Gitarrist halten zusammen. Beim Interview in Tromsö geben sie sich bodenständig - und hoch erfreut über das Medieninteresse aus Deutschland. Zwischenzeitlich hatten sie kaum noch damit gerechnet. Der Weg von Pristine war lang und steinig.
    Musik: "Cause And Effect"
    Aller Anfang ist... nicht leicht
    Wer im hohen Norden aufwächst, so Heidi Solheim, befasst sich zwangsläufig mit der Natur und mit Musik. Letztere ist ein Kommunikationsmittel und dient auch zur Selbsttherapie. Als Medium, um mit dunklen Wintern und hellen Sommern klarzukommen. Espen und Heidi – die in den Dörfern Rundhaug und Øverbygd aufwachsen - lernen Musik durch die Plattensammlung ihrer Eltern kennen. Espen ist fasziniert von Hank Marvin und Chet Atkins. Heidi von Aretha Franklin, Janis Joplin und Mick Jagger.
    Heidi Solheim: "Als ich mit sechs oder sieben mit der Schule anfing, habe ich auch die Plattensammlung meines Vaters entdeckt. Ich habe ein Album von den Rolling Stones aufgelegt und den Song "Angie" gehört. Die Art, wie Jagger gesungen hat, und dieser raue Sound haben mich regelrecht umgehauen. Ich konnte nicht verstehen, warum meine Freunde ganz andere Musik hörten. Von daher war das eine besondere Zeit in meinem Leben. Und als Teenager habe ich dann Led Zeppelin und "Baby I Love You" von Aretha Franklin entdeckt. Ich war wie geplättet von ihrer klaren und doch rauen Stimme. Alles, was ich wollte, war zu üben, um genauso gut zu werden, wie sie."
    Musik: "Baby I Love You"
    Eine frühe Aufnahme der jungen Heidi – mit Espen am Schlagzeug und an der Gitarre. Die beiden bekommen Unterricht in lokalen Musikschulen. Espen allerdings nicht im gewünschten Fachbereich. Er will Schlagzeug lernen, doch der Kurs ist belegt. Also weicht er auf die Gitarre aus – und bleibt dabei. Mit 15 lernt er Heidi kennen. Die beiden werden Freunde und spielen in diversen Rock-, Folk- und Blues-Bands. Nach Ende der Schulzeit ziehen sie nach Tromsö, mit 71.500 Einwohnern die achtgrößte Stadt Norwegens. Und Heimat einer der besten Universitäten Skandinaviens sowie einer vielfältigen Musikszene mit etlichen Clubs. Für Landeier das Paradies auf Erden. Beide besuchen die Uni und arbeiten an gemeinsamen, aber auch getrennten Projekten. Espen wird Gitarrist der Sami-Band Adjagas. Eine Ethno-Folk-Formation, die weltweit tourt und mehrere Alben aufnimmt.
    Musik: Adjagas – "Manu Ravdnji"
    Die Band Adjagas ist für Espen Jakobsen eher Job als Berufung. Sein Herz schlägt für Pristine, die er 2006 mit Heidi Solheim gründet und 2008 eine erste EP aufnimmt:
    Espen Jacobsen: "Wir sind in eine Stadt in der Mitte von Norwegen gereist – nach Trondheim - und haben vier oder fünf Stücke von Heidi aufgenommen. Sie hat versucht, Musik zu schreiben, die auch im Radio laufen könnte – also richtige Hits. Aber wenn man das zu sehr probiert, gelingt das halt nicht. Die EP ist trotzdem ganz OK gelaufen. Kurz darauf hat sich unsere Musik mehr in Richtung Blues verlagert."
    Musik: "Breaking The Silence"
    "Breaking The Silnce" von der ersten EP, die Heidi heute als ihre "Pop-Phase" bezeichnet. Ende der 2000er besinnen sich Pristine auf ihre Blues-Wurzeln und treten beim renommierten Notodden Festival auf. Sie werden zur besten Nachwuchsband gekürt.
    Ihr Preis: Eine Reise zur Blues-Weltmeisterschaft in Memphis, wo sie Norwegen vertreten und sensationell den vierten Platz belegen.
    Drei Männer und eine Frau stehen vor einer grauen Wand.
    Pristine machen energetischen 70er-Jahre-Sound im Sinne von Hendrix (Daniel Lilleeng)
    Espen Jacobsen: "Es war eine coole Erfahrung. Wir haben drei oder vier Konzerte in der berühmten Beal Street gespielt und das Halbfinale erreicht – als erste europäische Band. Gewonnen haben bislang immer Amerikaner. Insofern war die Platzierung ein Riesenerfolg. Am Schluss haben wir eine kleine Exkursion zu den Gräbern von berühmten Blues-Musikern unternommen. Wir haben zum Beispiel mitten im Wald an einer kleinen Kirche gehalten und das einzige Licht, das wir hatten, waren die Auto-Scheinwerfer. Wir haben den Wagen so geparkt, dass die Scheinwerfer den Friedhof erleuchteten und da war dieses Grab, das offensichtlich einem Musiker gehörte – weil da jede Menge Gitarrensaiten und kleine Gitarren lagen. Als ich mich hinkniete, um den Grabstein zu lesen, war es der von Robert Johnson. Ein ganz besonderer Moment. Wir hatten eine Gitarre dabei, die auf einer Zigarrenkiste basierte, haben uns zusammengesetzt und am Grab Blues gespielt. Ich kriege immer noch eine Gänsehaut, wenn ich darüber rede."
    Memphis ist für Pristine auch der Startschuss, um ihr erstes Album in Angriff zu nehmen: "Detoxing" entsteht Ende Mai 2011 – an einen einzigen Tag. Die Blaupause für Pristines zukünftige Arbeitsweise.
    Heidi Solheim: "Der Grund, warum wir live im Studio aufnehmen, ist die umwerfende Energie, die wir spüren, wenn wir Konzerte geben. Deshalb tun wir, was wir können, um das auch auf den Alben einzufangen. Und ich denke, das ist das Markenzeichen von Pristine geworden. Eben, dass wir unseren Fokus darauf richten, die Live-Power auch bei den Aufnahmen rüberzubringen. Denn das ist der Rahmen, in dem die Magie passiert. Sei es durch die Kunst, die per Zufall entsteht. Oder weil jeder voll konzentriert bei der Sache ist. Das macht den Sound von Pristine aus."
    Musik: "Detoxing"
    "Detoxing" erreicht Platz 33 der norwegischen Charts – wird aber nicht im Ausland veröffentlicht. Dasselbe Schicksal ereilt den Nachfolger "No Regret" von 2013. Pristine sind in ihrer Heimat gefangen. Es fehlt das Geld für Vertrieb und Tourneen im Ausland.
    Das wahre Leben
    Um über die Runden zu kommen, übernimmt Espen eine Tätigkeit als Manager der Kysten-Studios in Tromsö – die bis heute andauert. Hier ist der zweifache Vater verantwortlich für die Wartung der Technik. Nebenbei repariert er alte Verstärker und studiert an der Musikakademie, wo er gerade seinen Master macht.
    Espen Jacobsen: "Mein Fachgebiet ist traditionelle amerikanische Musik wie Blues, Jazz und Rock. Mein Schwerpunkt das sogenannte Crossover – also was passiert, wenn man zum Beispiel Jazz und Rock oder Jazz und Blues kombiniert. Für meinen Master studiere ich Leute wie John Scofield, Robin Ford, Scott Henderson und Allan Holdsworth. Ich transkribiere den ganzen Tag irgendwelche Soli und versuche herauszufinden, was sie da wann tun – und warum."
    Ein erfolgreicher Abschluss bedeutet auch ein festes Gehalt und soziale Absicherung durch den norwegischen Staat – damit sich jeder hauptberufliche Musiker ganz auf seine Kunst konzentrieren kann. Das tut Espen schon jetzt: Er ist Gitarrensammler, besitzt über 20 verschiedene Modelle und spielt am liebsten eine Gibson Firebird 7 - durch eine Fender Vibro-Champ: Einen kleinen Kofferverstärker mit einem Lautsprecher und fünf Watt. Puristisch also – und old school.
    Heidi Solheim dagegen tingelt lange durch die Pubs und Clubs von Norwegen – mal als Solisten, mal mit Band. In immer neuen Konfigurationen und mit ständig wechselndem Programm – eine harte Schule. Über die Jahre schreibt sich auch eigenes Material, versucht sich als Solistin und komponiert für internationale Kollegen. Außerdem unterhält Heidi die Band Dinosaus, die sich auf Musik für Kinder verlegt und regelmäßig im Fernsehen und an Schulen auftritt.
    Heidi Solheim: "Ich liebe es, Kindermusik zu machen. Denn auf diese Weise kann ich auch das Kind in mir ausleben. Das ist ziemlich groß und braucht viel Platz. Außerdem ist es toll, einen Song darüber zu schreiben, wie ein Klavier funktioniert, wie man eine Zeitmaschine aus einem Stuhl baut oder welche Blumen man am liebsten mag. Es ist eine andere Welt. Und ich liebe es, mich in beiden zu bewegen. Ich würde verrückt, wenn ich nur eine davon hätte."
    Musik: Dinosaus – "Palegg"
    Heidi Solheim mit Dinosaus und als Solisten. Nebenbei leitet sie Pristine Music. Sprich: Die Band ist ihre Firma. Als Geschäftsführerin bucht Solheim die Tourneen und Studios, verwaltet das Budget und hat bei allen Entscheidungen das letzte Wort. Ihre Mitmusiker sind Angestellte, die für Studio- und Live-Aktivitäten bezahlt werden. Ein Deal, gegen den es kein Widerstand gibt – im Gegenteil:
    Espen Jacobsen: "Heidi will alles auf ihre Weise machen – und ganz alleine. Eben um völlige Kontrolle zu haben. Es ist aber nicht so, dass sie sich nicht auf andere verlassen könnte – es ist einfach ihre Art. Und der Rest der Band hat kein Problem damit. Sie ist schließlich eine gute Sängerin und eine ausgezeichnete Geschäftsfrau. Bis vor kurzem war sie auch noch unsere Tourmanagerin – jetzt haben wir jemand externen dabei. Zum allerersten Mal."
    Die Deutschland-Connection
    Heidi ist es auch, die Pristine einen ersten deutschen Vertriebsdeal beschafft. Das dritte Album "Reboot" erscheint 2016 bei Cargo – die Band tourt im Vorprogramm der artverwandten Blues Pills.
    Musik: "The Lemon Waltz"
    Nach der Europatournee mit Blues Pills unterschreiben die Norweger beim selben Label, das die Schweden betreut - und veröffentlichen ihr 4. Werk "Ninja". Es entsteht einmal mehr an einem einzigen Tag.
    Beim neuen Album "Road Back To Ruin" sind es erstmals vier. Was immer noch schnell ist – und das Repertoire fällt vielseitiger aus als auf den Vorgängern: Zehn Songs zwischen Power-Rock, Blues-Rock, Orchester-Pathos, Country und Folk – zwischen Deep Purple, Black Sabbath, Allman Brothers, Rolling Stones und John Barry. Technisch ausgereift und anspruchsvoll. Auch die Texte haben mehr Tiefe. Sie greifen politische, soziale und feministische Themen auf.
    Heidi Solheim: "Das Album ist zu einer Zeit entstanden als ich viel über die sozialen Umstände, die Meinungen und die Werte nachgedacht habe, die für den aktuellen politischen Rechts-Ruck sorgen. Und ich denke, wir haben den Blick für das verloren, was wirklich wichtig im Leben ist. "Road Back To Ruin" ist das Ergebnis meiner Gedanken zu diesem Thema. Ich finde es schlimm, zu beobachten, wie viele Leute Meinungen haben, die sich komplett von dem unterscheiden, was ich für richtig und wichtig halte. Da gibt es Menschen, die sich vor Kriegsflüchtlingen fürchten. Und wieder andere, die denken, dass Leute aus anderen Kulturen weniger wert sind. Das schlimmste ist aber, dass einflussreiche Leute die Situation nutzen, um noch mehr Macht zu erlangen. Man sieht es in den Nachrichten, in den Kommentaren in den sozialen Medien und man hört es im Bus: Da herrscht eine Menge Angst. Und die wächst zu Hass."
    Musik: "Road Back To Ruin"
    Musikalisch brennen Pristine ein furioses 70er Jahre-Blues-Rock-Feuerwerk ab. Heidi Solheim schreibt starke Songs und ihre Mitstreiter sind handwerklich perfekt. Zudem lassen sie den guten, alten Gedanken des Do-It-Yourself aufleben und arbeiten - dank ihrer LiveOnTape-Aufnahmen - unglaublich ökonomisch. All das lässt nur einen Schluss zu: Von dieser Band wird man in Zukunft noch einiges hören. 17 ausverkaufte Shows während der jüngsten Deutschland-Tour im Mai sind ein deutliches Indiz für ihren Erfolg beim Publikum – und das ohne große Marketingmaschine. Pristine treffen den Nerv der Zeit. Und der, so Gitarrist Espen Jacobsen, tendiert wieder in Richtung Blues - einem zeitlosen Genre, das unverwüstlich ist.
    Espen Jacobsen: "Ich denke, der Blues kommt immer wieder. Es ist ein Genre, für das man nicht allzu viel Fachwissen braucht, um es spielen zu können. Man kriegt das auch mit einem Akkord hin. Und oft ist es das erste, was man als Kind in der Musikschule lernt: Diese Chuck Berry-Riffs. Schon spielt man Blues. Und es hat auch geholfen, dass Typen wie John Mayer sich daran versucht haben und es jetzt all diese jungen, coolen Typen gibt, die wieder Blues machen. Von daher wird der Sound nie verschwinden. Und ich würde mir wünschen, dass die Leute bald genug von diesen DJs haben. In Norwegen ist der angesagte Sound gerade "Tropical House". Da muss sich etwas ändern. Ich weiß zwar nicht wann oder wie, aber ich denke, es wird passieren."
    Musik: "California"