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Norwegisches Paradies
Mit dem Lastschiff zu den Vesteralen

Vor mehr als 20 Jahren verschlug es einen Norwegen-Fan aus dem niedersächsischen Rotenburg-Wümme auf die Vesteralen, eine Inselgruppe nördlich der Lofoten. Doch auch wenn es hier kaum Nachbarn und nur wenig Aufregung gibt: Für Michel Jürgensen ist es der schönste Platz der Welt.

Von Gisela Jaschik | 06.05.2018
    Fischereihafen Sto auf den Vesteralen
    Die Vesteralen sind extrem dünn besiedelt (dpa)
    "Ja, hergekommen bin ich wegen der großartigen Natur. Das siehst du selbst hier: Ist ganz beeindruckend. Auf der Außenseite der Vesteralen und auch hier geht die Bucht im Westen los. Man kriegt natürlich das ganze Wettergeschehen ab. Der Golfstrom liegt unmittelbar vor der Haustür. Aber es kann auch unwahrscheinlich idyllisch sein."
    Michel Jürgensen steht am Ruder der "Tinden." Auf dem schmucken weißen Linienschiff ist der 54-jährige Matrose, Maschinist, Postbote. Einfach Mädchen für alles. Als Schnellfähre und auch als Ambulanzboot ist die "Tinden" mehrmals täglich in der Inselwelt der Vesteralen unterwegs. Für die wenigen Bewohner der Eilande in der Westbucht – norwegisch Vestbygda genannt – eine lebensnotwenige Einrichtung:
    "Das ist ein kombiniertes Schiff. Eigentlich Passagierschiff für die Leute, die hier immer noch fest wohnen. Post und Waren, manchmal ein Auto: Das kann schon eine Sensation sein. Und im Winter immer wird auch noch ein bisschen Fisch geliefert."
    Eine winzige hügelig-grüne Insel nach der anderen taucht auf. Feine weiße Sandstrände sind zu sehen. Hier und da Holzhäuser. Die Fassaden leuchten pastellfarben im Sonnenschein. Ziegen und Schafe grasen auf den Weiden. Bis um 1970 lebten Fischerfamilien in den kleinen Inseldörfern. Heute stehen viele Häuser leer. Andere sind Wochenend- und Feriensitze:
    "Im Sommer kommen recht viele Familien. Gerade die Nachfahren der Leute, die den Wert des Ganzen wiederentdeckt haben, die haben ihre Elternhäuser längst wieder renoviert. Sie sind schöner eigentlich als früher. Jetzt ist es wichtiger, es bisschen schick mit Blumen zu haben und angestrichen. Früher haben die Leute dort gewohnt und gearbeitet. Der Niedergang der Gegend hat ja gleich nach dem Krieg eingesetzt. Man wollte zentral wohnen in den Städten oder in Südnorwegen."
    Ein gutes Dutzend Passagiere sitzen wie im Linienbus auf dem Fährschiff unter Deck hintereinander. Michel geht rum und verkauft Tickets. Fast alle Fahrgäste kennt er persönlich. So plaudern sie mit dem zugewanderten Deutschen, der ihre Sprache inzwischen perfekt spricht, auch gern über die Vergangenheit ihrer Inselwelt.
    Man kennt sich
    Pünktlich wie ein Bus steuert die "Tinden" die kleine Insel Tindsoya an. Der Anleger ist ein schmaler Holzsteg:
    "So, jetzt kommen wir nach Tinden, zum alten Handelsplatz. Der ist vom Denkmalschutzamt in der ganzen Landschaft geschützt. Das ist schon ziemlich einzigartig auf den Vesteralen."
    Eine Stiftung bewahrt die leer stehenden Wohn- und Lagerhäuser und kleinen Geschäfte. Der letzte Ladeninhaber und Bewohner starb 2002. Neue Fahrgäste steigen zu, nehmen unter Deck Platz. Michel kassiert wieder.
    Michel übersetzt: "Ohne die Tinden würde das nicht funktionieren."
    Von der Großstadt ins Nirgendwo
    Marion Letzner geht täglich zweimal an Bord. Seit mehr als 15 Jahren hat die Berlinerin ein kleines Haus auf Skogsoya. Eine der Inseln, die das Fährschiff anläuft. Die Sozialpädagogin arbeitet auf der Nachbarinsel Langoya in einer Wohngruppe. Wie früher in Berlin und in Hamburg. Und doch anders. Nicht nur weil die Gehälter in Norwegen rund doppelt so hoch sind:

    "Was mich total fasziniert hat, eben das Meer und die Berge zu haben. Weil ich Beides total gern mag. Gern wandere, die Berge hoch. Und dann die tolle Aussicht hier, das finde ich so schön."
    Fjorfjordelva auf Vesteralen
    Selbst Großstädter sind von der einmaligen Schönheit der Veteralen fasziniert (dpa)
    Nach Ferien auf den Vesteralen stand für sie fest: Ein Haus auf einer einsamen Insel sollte es sein. Auf Skogsoya leben nur noch ein paar Dutzend Menschen – überwiegend ältere. Es gibt keine Laden mehr. Aber für die ehemalige Großstädterin ist es paradiesisch:
    "Es ist geschützter, das Klima ist nicht so rau. Dadurch gibt es bunte Blumenwiesen. Und Berge – über 700 Meter hoch. Wunderschöne Sandstrände. Da muss man allerdings schon ein Stück laufen. Viele Seen. Also, ist wirklich ein kleines Paradies für mich."
    Die "Tinden" nimmt weiter Kurs durch die malerischen Fjorde. Während der Käpten per Funk Fragen klärt und kleinen Klönschnack hält nähern wir uns einer weiteren Insel, und Michel weist auf die nächste Sehenswürdigkeit: eine schmucke alte Holzkirche:
    "Ist auch wieder ein typischer Handelsfleck. Da sind auch mal Frachter angekommen. Das ist ein schönes zentrales Kai-Haus. Da die Brygge und die Wohnhäuser, die aber gut renoviert sind. Das ist wirklich Vesteralen wie es leibt und lebt und zeigt noch viel von früher. Hier ist wenig verändert."
    Einer der letzten Fischer
    Michel hievt einen Postkorb von Bord. Bunte Reklameschilder aus alter Zeit zieren die skandinavisch-roten Holzfassaden der Station am Anleger. Kisten und Kartons nimmt eine Frau mit einer Sackkarre in Empfang. Von Bord geht auch Hans-Arne Everness. Er ist einer der letzten Fischer von hier mit eigenem kleinen Boot:
    "Ich bin eine Fischer-Bauer. Jetzt muss ich mein Fischerboot unterhalten. Ja, es ist die Saison für das. Es gibt noch Fisch, aber was soll ich sagen: Es ist schwierig. Kein Fisch, kein Leben hier. Wir können nicht von den Touristen leben und nicht vom Öl. Du musst auch etwas produzieren."

    Die Personenfähre legt gleich wieder in Myre an, in ihrem Heimathafen. Michel mag seinen Job. Den besten, den er je hatte, wie er sagt. Ganz nah an den Menschen und der Natur:
    "Ich habe heute Morgen schon Seeadler gesehen und Delfine. Da ist an sich immer was los. Grad jetzt die Brutzeit für die Seevögel, die hier kommen. Recht viele Küsten-Seeschwalben. Vor allem die Papageientaucher, die so niedlich sind, kann man jetzt gut sehen."
    Verlassene Lagerhäuser in Nyksund auf den Vesteralen.
    Verlassene Lagerhäuser in Nyksund auf den Vesteralen. (dpa)
    Mit Tourismus das Geschäft beleben
    Für Michel Jürgensen und seine aus Berlin stammende Frau, sind die Vesteralen längst Heimat. Die drei Töchter sind dort geboren und aufgewachsen. Zwei Monate lang – vom 23. Mai bis zum 23. Juli – geht die Sonne nicht unter. Die kleinen nördlichen Schwestern der Lofoten erleben ihre Hochsaison. Ohne Rummel bisher. Aber das könnte sich durchaus ändern, meint der gebürtige Niedersachse:
    "Es ist sicher möglich, dass wir so`n Lofot-Syndrom hier kriegen. Sechs Wochen rennen sie einem die Bude ein. Aber das flaut dann auch wieder ab, und das bringt Geld in die Gegend. Die Leute wollen ihr Erlebnis haben. Das ist gar kein Problem, diesen Tourismus zu machen. Als sanften Tourismus. Das wird so oder so schwierig sein. Die Saison ist zu kurz. Aber wenn man bedenkt, dass die Fischersaison im Winter vor 100 Jahren das gleiche Extrem gebracht hat. Da war dann plötzlich alles voller Fischer und allem was dazu gehört. Jetzt im Sommer sind es eben Touristen. Das macht gar nichts."