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Notaufnahmen
Viele Patienten und unerfahrene Ärzte

Verkehrsunfall, Herzinfarkt, Allergieschock: Für Fälle wie diese gibt es die Notaufnahmen in Krankenhäusern. Doch immer mehr Patienten nutzen das Angebot auch dann, wenn gar kein echter Notfall vorliegt. Zudem sind die Ärzte oft jung und deshalb unerfahren und können Symptome nur schwer deuten. Eine Facharztausbildung für Notfallmediziner existiert in Deutschland bislang nicht.

05.05.2016
    Mit einer "Notaufnahme"-Aufschrift ist der Eingang zur Notaufnahme-Station im Klinikum in Braunschweig gekennzeichnet.
    In den Notaufnahmen werden immer mehr Patienten behandelt. 20 Millionen sind es derzeit jährlich in Deutschland. (picture alliance / dpa - Holger Hollemann)
    Charité Berlin-Steglitz, Notaufnahme. Ein Mann wird mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht. Nach einem Verkehrsunfall mussten ihn die Rettungskräfte aus seinem Auto schneiden. Die Ärztin vom Rettungsteam schildert in kurzen Worten seinen Zustand.
    "Er war zu dem Zeitpunkt wach, ansprechbar, Kreislauf stabil, wir haben ihm eine Nadel gelegt, er hat eine große Platzwunde am Kopf ..."
    Was fehlt ihm noch? Hat er ein Schädel-Hirn-Trauma? Gebrochene Knochen? Innere Verletzungen? Im Schockraum steht ein Team aus Ärzten und Schwestern bereit, den Verletzten zu versorgen. Ansprechen, abtasten, röntgen – die Handgriffe laufen routiniert. Schnell ist klar: Der Mann ist nicht in Lebensgefahr. So sollte es bei der Versorgung von Notfällen immer laufen: Ein Mensch mit einem akuten medizinischen Problem wird innerhalb kürzester Zeit untersucht und behandelt. Für die richtigen Entscheidungen in solchen Notfällen brauche es einen besonders geschulten Arzt, sagt der Internist Rajan Somasundaram.
    "Sie müssen sich auf einen Patienten einlassen können, dabei aber sehr schnell professionell erkennen, wo das Problem liegt. Und dafür müssen Sie entsprechend trainiert sein."
    Rajan Somasundaram leitet die Zentrale Notaufnahme der Charité in Berlin Steglitz. Er setzt sich dafür ein, dass in den Notaufnahmen künftig Ärzte Dienst tun, die dafür speziell ausgebildet wurden. Derzeit ist nämlich das Gegenteil der Fall: In Deutschland gibt es keinen Facharzt für Notfallmedizin. Und häufig müssen ausgerechnet junge, unerfahrene Ärzte kritische Fälle einschätzen. Das gefährde das Wohl der Patienten, sagt Rajan Somasundaram.
    "Es sind die Zeitverzögerungen, dass ein Patient mit einer unklaren Diagnose auf einen Arzt trifft, der vielleicht nicht gerade aus diesem Fachgebiet kommt. Und in diesem Augenblick die Diagnose nicht richtig zuordnet."
    So wie bei Yilmaz Kahriman. Der 44-Jährige trainiert an vier Tagen in der Woche mit seiner Physiotherapeutin. Die Gleichgewichtsübungen auf einer kleinen, weichen Matte sollen helfen, die tieferliegende Muskulatur zu kräftigen. Mit Gewichten arbeitet er gegen die Verkürzung seiner Sehnen. Yilmaz Kahriman hat Lähmungen an Armen und Beinen, gehen kann er nur mithilfe eines Rollators.
    "Ich glaube, mittlerweile stagniert es. Weil die Nerven das nicht mehr richtig verarbeiten können."
    Vor drei Jahren hatte Yilmaz Kahriman auf der Arbeit plötzlich Schmerzen in der Brust, auch sein Nacken tat weh. Als seine Finger anfingen zu kribbeln und er dann wenig später nicht mal mehr den Kugelschreiber halten konnte, machte er sich auf den Weg in die Notaufnahme.
    "Nach meiner Erzählung mit den Brustschmerzen und den Nackenschmerzen gingen sie davon aus: vielleicht ein kleiner Herzinfarkt. Oder ich weiß nicht genau, wovon sie ausgingen. Deshalb habe ich dort erstmal Medikamente gekriegt."
    Blutverdünner. Doch die halfen nicht. Der junge Arzt zog zwei Kollegen hinzu. Immer wieder musste Yilmaz Kahriman seine Geschichte erzählen. Seine Arme waren mittlerweile völlig kraftlos. Wertvolle Zeit verstrich. Dann wurde er in ein anderes Krankenhaus geschickt.
    "Da war wohl ein Arzt etwas kompetenter und hat gleich ein MRT machen lassen. Und die Spinalkanalstenose war beim MRT zu sehen. Aber nicht für nötig gefunden, zu operieren."
    23 von 28 EU-Ländern haben mittlerweile den Facharzt für Notfallmedizin
    Bei einer Spinalkanalstenose im Halswirbelbereich drücken Knochendornen auf die Nervenfasern im Spinalkanal. Deshalb die Lähmungserscheinungen in der Brust und den Armen. Durch eine rechtzeitige Operation hätte der Kanal geweitet werden können, die Nerven wären wahrscheinlich nicht weiter geschädigt worden. Doch über Stunden wurde Yilmaz Kahriman von den jungen Ärzten in der Notaufnahme nur als leichter Herzinfarkt eingestuft, seine Symptome wurden nicht richtig gedeutet. Deutschland sei bei der Ausbildung in der Notfallmedizin fast noch ein Entwicklungsland, sagt Rajan Somasundaram von der Berliner Charité. 23 von 28 EU-Ländern haben mittlerweile den Facharzt für Notfallmedizin oder eine entsprechende Zusatzqualifikation eingeführt. Hierzulande streiten sich die Fachgesellschaften seit Jahren, ob es einer solchen Ausbildung bedarf. Rajan Somasundaram:
    "Es geht viel um die Sorge: Verlieren wir etwas aus unserer eigenen Fachlichkeit? Müssen wir etwas abgeben? Eine Sorge, die man auch ernstnehmen kann. Das hat ja auch mit der Attraktivität eines Faches zu tun. Aber in meinen Augen ist die Notfallmedizin ein komplementäres Fach. Das heißt, es ergänzt und arbeitet den anderen Abteilungen zu."
    Derzeit sind allein angehende Chirurgen angehalten, ein halbes Jahr lang in der Notaufnahme Dienst zu tun. Für alle anderen ist diese Arbeit für ihre weitere Karriere nicht attraktiv. Da es keinen Facharzttitel "Notfallmediziner" gibt, sind junge Mediziner wenig motiviert, auf diesem Feld Erfahrungen zu sammeln. Sie gehen lieber in die Kardiologie oder Onkologie, sagt auch Michael Wünning, Leiter der Zentralen Notaufnahme im Hamburger Marienkrankenhaus:
    "So wird es dann von manchen Assistenten als Strafdienst gewertet, in die Notaufnahme zu gehen. Weil sie vielleicht die Zeit für ihre persönliche Weiterbildung - gerade als qualifizierter Facharzt – woanders, aus ihrer Sicht produktiver verbringen könnten."
    Hinzu kommt: In den Notaufnahmen werden immer mehr Patienten behandelt. 20 Millionen pro Jahr. Das heißt: Statistisch gesehen ist jeder vierte Bundesbürger einmal im Jahr in der Notaufnahme. Allein im Hamburger Universitätsklinikum waren es 2015 73.000 Menschen, 2.000 mehr als im Jahr zuvor. Auch kleinere Häuser verzeichnen jährliche Zuwächse von vier Prozent. Die Hamburger Kliniken appellierten kürzlich an die Bürger der Stadt, nicht ohne Not in die Notaufnahme zu kommen. Woran der Zustrom liegt, versuchen die Kassenärztlichen Vereinigungen von Hamburg und Schleswig-Holstein derzeit zusammen mit dem Hamburger Universitätsklinikum in einer wissenschaftlichen Studie zu ergründen.
    In den Kassenärztlichen Vereinigungen sind alle niedergelassenen Ärzte organisiert, sie verteilen die Honorare, die von den gesetzlichen Krankenkassen gezahlt werden, an ihre Mitglieder, also an die Ärzte. Und da die ambulante Versorgung in der Notaufnahme aus dem gleichen Topf bezahlt wird wie die Honorare der niedergelassenen Ärzte, sehen diese die steigenden Zahlen dort mit Argwohn, weil für sie dann weniger übrig bleibt.
    "Dr. Google" - wenn das Internet Patienten ängstigt
    Die Ergebnisse der Studie werden nicht vor Ende des Jahres erwartet - aber Stephan Hofmeister, Vizechef der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, hat bereits eine These:
    "Einerseits sind wir viel stärker körperfixiert, es gibt unglaublich viel mehr Wissen über den Körper. Andererseits fehlt dieses großmütterliche Umgehen mit kleineren Gebrechen oder Befindlichkeiten – es fehlt auch der soziale Verbund oder die Großmutter, die dann sagt: Das ist nicht so schlimm. Gleichzeitig gibt es eine omnipräsente Möglichkeit, sich mit seinen Symptomen zu informieren, was dahinter stecken könnte."
    Das Phänomen "Dr. Google" kennt auch Michael Wünning vom Hamburger Marienkrankenhaus. An diesem Morgen liegt ein junger Mann im Behandlungszimmer, der seit längerer Zeit Schmerzen im Oberbauch hat. Er muss sich hin und wieder übergeben, mit kleinen Blutfädchen im Erbrochenen. Sein behandelnder Arzt hat ihm zu einer Magenspiegelung geraten. Doch der Termin ist erst in mehreren Wochen. Michael Wünning weiß: Es kann, muss aber keine ernsthafte Erkrankung sein.
    "Immer, wenn das Wort "Blut" auftaucht, gerade im Zusammenhang mit Erbrechen, finden sie mindestens eine Internetseite, die Ihnen eine bösartige Erkrankung prophezeit. Für diesen Patienten ist es dann schwer nachzuvollziehen, warum er vier bis sechs Wochen auf eine Magenspiegelung warten soll. Was medizinisch sicherlich gerechtfertigt ist, aber für den Patienten in dieser Zeit mit unglaublich viel Ängsten und Gedanken verbunden ist."
    Seit Januar helfen zwar Servicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen bei der Vermittlung von Facharzt-Terminen. Vier Wochen Wartezeit - länger soll es nicht mehr dauern. Die Regelung greift aber nur, wenn der Hausarzt eine besondere Dringlichkeit bestätigt. Das war hier offenbar nicht der Fall. So müssen sich viele Patienten gerade auf dem Land weiter gedulden. Und selbst in einer Großstadt haben niedergelassene Ärzte nur begrenzte Öffnungszeiten – darin sieht Christoph Kranich, bei der Verbraucherzentrale zuständig für Gesundheit und Patientenschutz, einen weiteren Grund für den Andrang in den Notaufnahmen.
    "Viele leiden darunter, dass sie nach der Arbeit nicht mehr eine geöffnete Arztpraxis finden. Und dann gehen sie halt am Sonntag in die Notaufnahme. Da müssen sich die Ärzte auch ein bisschen umstellen. Wenn sie schon so ein freier Beruf sein wollen, der sich nach Angebot und Nachfrage orientiert, und nicht reglementiert ist, dann müssen sie sich auch danach richten."
    Stephan Hofmeister von der KV Hamburg wendet ein: Patienten würden Angebote wie Samstagssprechstunden nicht annehmen. Auch ein Facharztmangel – wie er in manchen ländlichen Regionen herrscht – ist für ihn kein Grund, die Notaufnahme eines Krankenhauses aufzusuchen.
    "Woher kommt die Fantasie des Menschen, dass er, wenn er Samstagabend um zehn in ein Krankenhaus geht, dort einen kompetenten Ansprechpartner finden könnte? Den übermüdeten, diensttuenden, in der Regel jüngsten Arzt der Klinik, der dann ausgerechnet dieses Problem fachlich kompetent abklären soll? Wenn es ein richtiges Problem ist, muss man das in Ruhe besprechen, und man muss nachgucken, nachbesprechen. All das tut das Krankenhaus nicht. Und wenn es kein so dringendes Problem ist, dann war die ganze Sache umsonst."
    Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin hat sich mittlerweile auf eine härtere Gangart verlegt: Seit Februar müssen die Krankenhäuser schriftlich darlegen, warum sie Patienten während der normalen Sprechzeiten ambulant versorgen. Uwe Kraffel, stellvertretender Vorsitzender der KV Berlin:
    "Wir haben Informationsblätter hergestellt in verschiedenen Sprachen zum Aushang in den Rettungsstellen, die sind dort nicht mehr zu sehen. Wir haben versucht, auf die Bevölkerung aufklärend einzuwirken, um zu sagen: Das ist nicht die normale Versorgung, und das ist bei weitem auch nicht die beste Versorgung, die man dort haben kann, aber es hat sich so nicht als wirksam erwiesen, und deshalb müssen wir jetzt einen etwas anderen Weg gehen."
    Und der sieht so aus: Die Rettungsstellen müssen jeden Fall, den sie zwischen 7 und 19 Uhr ambulant behandeln, ausführlich begründen. Sonst gibt es für diese Leistung kein Geld von der KV. Ein Irrweg, findet Claudia Brase von der Hamburger Krankenhausgesellschaft. Diese vertritt die 35 Krankenhäuser der Stadt. Jeder, der ein Krankenhaus aufsuche, habe subjektiv ein medizinisches Problem und müsse auch von einem Arzt untersucht werden.
    "Damit, dass man sagt: Liebes Krankenhaus, jetzt schreibst du uns hinterher in die Abrechnung eine ausführliche Begründung, machen Sie dem Krankenhaus Bürokratie, Nerv und Arbeit. Das ändert ja an dem Problem nichts."
    Die Hamburger KV will einen anderen Weg als die Berliner Kollegen gehen. Statt den Rettungsstellen Dokumentationspflichten aufzubürden, würde Stephan Hofmeister in Hamburg eher die Zahl der Notaufnahmen drastisch reduzieren.
    "Das ist nicht Pflicht, dass wir 21 Notfallanlaufstellen haben. Es könnten auch sechs sein. Und darüber hinaus gibt es den Hausbesuchsdienst für den, der nicht laufen kann, und darüber hinaus gibt es ja immer noch die Feuerwehr für die wirklichen Notfälle, den Blaulichttransport."
    Alle anderen, die nur mit einer Erkältung abends Hilfe in der Notaufnahme suchten, solle der Pförtner abweisen, fordert Stephan Hofmeister. Claudia Brase von der Hamburger Krankenhausgesellschaft mag sich ein solches Szenario nicht vorstellen.
    "Haftungsrechtlich ist es so: Wer bei uns über die Schwelle geht, der ist in der medizinischen Verantwortung des Krankenhauses, den können sie nicht wegschicken. Es kommt auch der Herzinfarkt oder der Schlaganfall oder die akute Pankreatitis, die zwei Tage später tot ist, die kommt auch zu Fuß über die Tür. Es gibt ganz leidensfähige Mitmenschen, die gehen mit einem akuten Herzinfarkt noch zu Fuß. Den möchte ich nicht weggeschickt wissen."
    Die Krankenhäuser argumentieren aber nicht nur mit ihrer Verantwortung für hilfesuchende Menschen. Es gehe auch um den mündigen Patienten:
    "Jetzt ist es eben so, dass sich die Patienten entscheiden: Ich gehe eben heute Abend ins Krankenhaus und nicht morgen früh zu meinem Hausarzt. An der Stelle muss man die Patienten jetzt auch abholen. Weil wir glauben, dass so planwirtschaftliche Ansätze, die Patienten jetzt umzulenken, das ist vielleicht aus Systemsicht wünschenswert und sinnvoll, weil man sie auch außerhalb von Krankenhäusern hervorragend versorgen kann. Aber wenn die Patienten das nicht annehmen, dann muss man eben da die Angebote schaffen, wo die Patienten hingehen."
    Die Kassenärztlichen Vereinigungen argwöhnen dagegen, dass die Krankenhäuser die Bagatellfälle aus finanziellen Gründen nicht wegschicken. Uwe Kraffel von der KV Berlin:
    "Es gibt ein immenses wirtschaftliches Interesse, das einfach darin begründet liegt, dass inzwischen an die 70 Prozent der Patienten, die im Krankenhaus aufgenommen werden, aus den Rettungsstellen aufgenommen werden. Und gar nicht von Ärzten eingewiesen werden. Damit füllen sich die Krankenhäuser überwiegend über die Rettungsstellen. Und damit bestreiten die ihre Existenz über die Rettungsstellen."
    Ein Krankenpfleger in einem deutschen Krankenhaus (Symbolfoto)
    Krankenhäuser "füllen" dank Notaufnahme? (imago stock&people)
    Es geht, wie so häufig im Gesundheitswesen, ums Geld. Rund 30 Euro bekommen die Krankenhäuser für die Versorgung eines ambulanten Patienten derzeit vergütet - aus dem Topf der Kassenärztlichen Vereinigungen für die niedergelassenen Ärzte. Muss zur Abklärung noch ein MRT gemacht oder Blut im Labor analysiert werden, steigen die Kosten schnell auf das Vierfache. Hochdefizitär sei das, klagen die Krankenhäuser. Nicht kostendeckend - das räumen auch die Kassenärztlichen Vereinigungen ein. Uwe Kraffel von der KV Berlin macht dennoch eine ganz andere Rechnung auf:
    "Wenn man das vergleicht damit, dass ein Hausarzt 35 Euro bekommt, um einen Patienten ein ganzes Vierteljahr zu betreuen, mit mehreren Kontakten, ist das sehr viel Geld. Da liegt das Defizitäre sicher nicht an der schlechten Vergütung, sondern es liegt daran, wie das Krankenhaus wirtschaftet und rechnet."
    Denn die Krankenhäuser, so Uwe Kraffel, bekämen von den Krankenkassen ja einen "Krankenhauspflegesatz" vergütet, der für die Finanzierung der Rettungsstellen gedacht sei. Auf Dauer, findet auch sein Hamburger Kollege Stephan Hofmeister, sei die ständige Ausweitung der medizinischen Versorgung in Notaufnahmen nicht mehr zu bezahlen. Zumal der Gesetzgeber gerade mit dem Krankenhausstrukturgesetz dafür gesorgt habe, dass der Notdienst mehr Geld bekomme.
    "So dass wir seit Januar und mit Sicherheit bis Ende des Jahres noch mal einen deutlichen Schub an Geld in den Notdienst fließen lassen müssen, ohne dass sich irgendetwas ändert. Es wird dadurch kein Mehr an Versorgung geben."
    Notaufnahmen für minder schwere Fälle schließen, Gebühren erheben, erweiterte Dokumentationspflichten einführen – all das, um Patienten dorthin zu schicken, wohin sie sollen – nämlich in die Praxen niedergelassener Ärzte oder – wie in Hamburg - in die zwei Notfallambulanzen der Kassenärztlichen Vereinigung, die bis Mitternacht und am Wochenende geöffnet sind. Wohin die Patienten häufig aber nicht gehen, weil sie diese Notfallpraxen gar nicht kennen. Oder das nächste Krankenhaus mit Notaufnahme im Zweifelsfalle näher liegt. Christoph Kranich von der Verbraucherzentrale Hamburg hält von solchen Erziehungsmaßnahmen nichts.
    "Es ist überhaupt nicht verständlich, warum in diesem System zwischen ambulant und stationär, also zwischen dem Krankenhaus und den niedergelassenen Ärzten, so ein Graben besteht. Dass die immer alle sich das gegenseitig neiden. Das ist überhaupt nicht patientenorientiert."
    Patientenorientiert könnten zum Beispiel sogenannte Portalpraxen sein. In den Räumen des Krankenhauses arbeiten niedergelassene Ärzte, ähnlich wie in einer hausärztlichen Praxis. So praktiziert es etwa das Marienkrankenhaus in Hamburg. Eine erfahrene Pflegekraft beurteilt dort die Beschwerden der ankommenden Patienten zunächst nach einem fünfstufigen System. Ein rotes Fähnchen bedeutet: Lebensgefahr. Blau, am anderen Ende der Skala: aufgeschobene Dringlichkeit; der Patient kann auch schon mal zwei oder mehr Stunden warten. Das, sagt der Arzt Michael Wünning, gewährleiste höchstmögliche Patientensicherheit.
    "Die Patienten mit den blauen Fähnchen, denen geben wir Gelegenheit, bei uns entweder in der Notaufnahme mit langen Wartezeiten behandelt zu werden. Oder in unsere Praxis für Akutmedizin zu gehen. Das ist aber eine freiwillige Entscheidung des Patienten, die aber direkt an die Notaufnahme angegliedert ist."
    Ein solches Angebot entlastet die Ärzte in der Notaufnahme. Sie haben mehr Zeit für die wirklich dringenden Fälle. Und auch mehr Zeit, junge Kollegen unter fachlicher Aufsicht einzuarbeiten. Ob ein solches System dem Berliner Yilmaz Kahriman geholfen hätte, lässt sich im Nachhinein nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber die Chance, dass er richtig behandelt worden wäre, wäre zumindest deutlich größer gewesen.
    "Hätten Sie mich wirklich am ersten Tag operiert, ich glaube, ich hätte jetzt keine Probleme. Vielleicht noch Muskelschwund an den Händen. Aber wenn man falsche Diagnose aufstellt oder in Krankenhäusern die Ärzte überfordert sind, sei es durch Überstunden ohne Ende oder unerfahren. Damit hat man ein Leben ausgelöscht."
    Yilmaz Kahriman hat sich mittlerweile einen Anwalt genommen. Er hofft auf Schadenersatz. Er wird nie wieder arbeiten können, die Ärzte erwarten keine Verbesserung seines Zustandes. Unterdessen wird weiter über Ausbildungsanforderungen für die Notfallmedizin debattiert. Mittlerweile liegt der Bundesärztekammer ein gemeinsamer Antrag der Fachgesellschaften über ein zweijähriges Weiterbildungsmodell vor, entschieden wird frühestens 2017. Berlin, immerhin, hat mittlerweile eine dreijährige Zusatz-Weiterbildung beschlossen. Als bislang einziges Bundesland.