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Notfallhilfe in Nepal
"Viele Staaten wollen ihre eigene Flagge zeigen"

In Nepal sehe man viele Staaten, die ihre eigene Hilfe leisten wollten und nicht bereit seien, sich koordinieren zu lassen, sagte der UN-Nothilfekoordinator Albrecht Beck im DLF. Dadurch sei die Infrastruktur des Landes völlig überlastet und tatsächlich benötigte Hilfe müsse zurückgestellt werden. Dazu gehörten jetzt vorrangig Planen, Decken und Zelte.

Albrecht Beck im Gespräch mit Mario Dobovisek | 04.05.2015
    Eine Landschaft, übersät mit Trümmern vieler eingestürzter Häuser, nur noch wenige Gebäude stehen.
    Im nepalesischen Dorf Barpak im Epizentrum des Erdbebens stehen nur noch wenige Häuser. (picture alliance / dpa / Diego Azubel)
    Mario Dobovisek: Am Samstag vor einer Woche bebte die Erde in Nepal. Die Katastrophe brachte Tod und Leid in das ohnehin arme Land. Über 7000 Tote, mehr als 14.000 Verletzte, insgesamt sind acht Millionen Menschen vom schweren Beben betroffen, haben ihr Zuhause verloren, hungern, dursten, brauchen medizinische Unterstützung. Als "Hölle auf Erden" bezeichnet unsere Reporterin Sandra Petersmann die Situation im Distrikt Sindhupalchok.
    Kritik wurde in den ersten Tagen nach dem Beben laut, Kritik an der Regierung in Nepal und auch an der internationalen Gemeinschaft. "Chaos und fehlende Koordination" lautete der Vorwurf. Am Telefon begrüße ich Albrecht Beck. Der Deutsche ist einer von 25 Nothilfekoordinatoren, die die Vereinten Nationen nach Nepal geschickt haben. UNDAC nennen sich diese Expertenteams, United Nations Disaster Assessment and Coordination. Experten der Vereinten Nationen sind das also zur Erkundung und Koordination nach Katastrophen.
    Telefonisch aus Kathmandu zugeschaltet ist uns also Albrecht Beck. Guten Morgen, Herr Beck!
    Albrecht Beck: Guten Morgen, Herr Dobovisek.
    Dobovisek: Langsam, schleppend und unkoordiniert sei die Hilfe in Nepal angelaufen. Treffen diese Vorwürfe zu?
    Beck: Diese Vorwürfe treffen zumindest zum Teil zu. Es gab eine sehr schwierige Situation. Wir hatten vorher in der Reportage schon den Flughafen angesprochen. Es hieß, viele Teams haben in den umliegenden Flughäfen in anderen Ländern gewartet, um eine Möglichkeit zu kriegen, nach Nepal zu kommen, um überhaupt Hilfe zu leisten. Es war vielen erst sehr verspätet möglich. Es ist aber auch so, dass viele Akteure, die hier Hilfe leisten, nicht bereit waren, sich koordinieren zu lassen. Es ist ein sehr großer Anteil in dieser Krise, verglichen mit anderen. Es macht es daher schwierig, eine koordinierte Hilfeleistung zu organisieren, wenn die Akteure nicht bereit sind, sondern selber ihre eigenen Dinge machen wollen, die oftmals nicht hilfreich waren.
    Dobovisek: Welche Akteure sind das, generell gesprochen, die sich nicht koordinieren lassen wollen?
    Beck: Es sind nicht nur, wie man oft meinen mag, kleinere Nichtregierungsorganisationen, die versuchen, ihr eigenes Ding zu machen, sondern hier in Nepal sehen wir auch viele Staaten, die ihre eigene Hilfe leisten, ihre eigene Flagge zeigen wollen und sich nicht durch die UN koordinieren lassen wollen.
    "Diese Katastrophe muss detailliert aufgearbeitet werden"
    Menschen stehen in einer Schlange und warten auf Hilfe.
    Menschen stehen in einer Schlange und warten auf Hilfe. (dpa / MAXPPP)
    Dobovisek: Was lernen wir daraus für spätere Katastrophen?
    Beck: Für spätere Katastrophen? - Diese Katastrophe muss sicher detailliert aufgearbeitet werden. Nepal hatte auch verschiedenste Missionen, die ein Land für eine Katastrophe vorbereiten wollten. Auch diese waren nicht abgestimmt. Man sieht oft, dass sie nicht viel gebracht haben, dass nicht die richtige Hilfe und auch nicht die richtige Vorbereitung auf die Krise geleistet wurde. Man muss die Akteure, die in einer Krise agieren, wieder an einen Tisch bringen und versuchen, die Systeme, die eigentlich international abgestimmt sind, international vereinbart worden sind, wieder einzuhalten und besser gemeinsam vorzugehen.
    Dobovisek: Wir hatten den Tsunami in Südostasien vor zehn Jahren. Wir hatten Haiti, da gab es die gleichen oder zumindest ähnliche Probleme. Warum hat man daraus offensichtlich nicht gelernt?
    Beck: Ich denke, hier sieht man, dass das nationale Interesse auch in einer Hilfeleistung oftmals überwiegt und teilweise im Vordergrund steht vor der eigentlichen Hilfeleistung, vor den Bedürfnissen der Menschen, und das führt dann dazu, dass so etwas entstehen kann. Natürlich muss man auch sehen, dass Nepal ein sehr schwieriger Fall ist. Die dortige Geographie sorgt dafür, dass es hier viele, viele Gebiete gibt. Ich bin momentan hier in Sindhupalchok, der Region, die angesprochen wurde in der Reportage. Hier leben über 70 Prozent der Menschen abseits von irgendwelcher Erreichbarkeit, sind nur durch die Luft erreichbar. Es gibt zu wenig Helicopter, um die Leute zu erreichen. So bleibt die Hilfe oft beschränkt auf die Gebiete, die nahe der Straßen liegen, die noch mit Geländefahrzeugen erreicht werden können. Die abgelegeneren Regionen, die schon in etwa vier Wochen Schnee erhalten werden in der Monsunzeit, können überhaupt noch nicht erreicht werden.
    "Kapazität der Flughäfen kann nicht ausreichend genutzt werden"
    Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes bereiten Flüge mit Hilfsgütern für die Erdbeben-Opfer in Nepal vor.
    Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes mit Hilfsgütern für die Erdbeben-Opfer (AFP / Hannibal Hanschke)
    Dobovisek: Der relativ kleine Flughaften von Kathmandu - sie haben ihn angesprochen, Herr Beck - ist ein Nadelöhr für alle Hilfskräfte und Güter. Gestern hörten wir, dass er für größere Flugzeuge geschlossen werden musste. Ist er inzwischen wieder geöffnet?
    Beck: Inzwischen ist er wieder für größere Flugzeuge geöffnet. Für militärische Transportmaschinen wurden auch zwei Nebenflughäfen gehöffnet, die erreichbar sind. Trotzdem ist es immer noch eine Herausforderung, die maximale Kapazität dieser Flughäfen auch wirklich auszunutzen.
    Dobovisek: Wie schwierig ist es, diese maximale Kapazität auszunutzen? Gelingt das?
    Beck: Es gelingt leider nicht. Dazu müsste wahrscheinlich vorher so ein Flughafen trainiert werden, wie man in einem Katastrophenfall die Kapazität ausnutzt. Es ist auch so, dass die Auswahl, welche Maschinen landen dürfen, welche nicht landen dürfen, sehr ad hoc passiert und oft wenig organisiert ist, sodass dringend benötigte Hilfe zurückgestellt wird gegenüber Hilfe, die eigentlich schon längst nicht mehr benötigt wird.
    "Die richtige Hilfe muss reinkommen"
    Dobovisek: Gerade wenn der einzige Flughafen so geringe Kapazitäten hat ist es wichtig, dass die eintreffende Hilfe gut koordiniert und abgesprochen wird. Sie erwähnen das. Wir hörten hier in Deutschland, dass sich nicht alle Organisationen an die Regeln halten und zum Beispiel ohne konkrete Anforderung nach Nepal fliegen. Was halten Sie von diesem Vorgehen?
    Beck: Dieses Vorgehen ist äußerst problematisch. Es ist zwar verständlich, dass jeder Hilfe leisten will, und das ist auch eine sehr positive Reaktion. Trotzdem muss man sich unbedingt an die Anforderung des Staates oder der Reaktionskräfte halten, damit die richtige Hilfe reinkommt. So finden Teams, die schon längst abgelehnt sind, weil sie nicht benötigt werden, trotzdem ihren Weg und sperren den Flughafen, die Kapazität des Flughafens komplett, aber auch im Land die logistische Infrastruktur ist überladen mit Hilfeleistung und Teams, die nicht benötigt werden.
    "Vorbereitungen für die Monsunzeit sind vorrangig"
    Dobovisek: Welche Hilfe wird denn jetzt im Moment am meisten und am dringendsten benötigt?
    Beck: Ganz wichtig ist es, dass man den Leuten eine Art Unterkunftsmöglichkeit, das heißt wie angesprochen Planen, Decken, Zelte jetzt gibt, damit sie zur Monsunzeit dann geschützt sind. Wenn diese Hilfe nicht kommt kann es sein, dass in den kälteren und höher gelegenen Regionen Menschen einfach erfrieren werden während der Monsunzeit. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass das reinkommt. Daneben ist es natürlich auch Lebensmittelhilfe, aber auch Hilfe im Bereich der Trinkwasseraufbereitung, sodass die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen abgedeckt werden können. Rettungsteams dagegen werden eigentlich nicht mehr benötigt.
    "Die Leute haben kein Dach über dem Kopf"

    Dobovisek: Wie kann so eine Hilfe mit Unterkünften aussehen? Reichen dafür Zelte, wie wir sie uns vorstellen, vielleicht aus dem Outdoor Shop?
    Eine nepalesische Mutter liegt mit ihrem Kind in einem Notzelt.
    Eine Mutter ist mit ihrem Kind in einem Notzelt untergekommen. (dpa / picture alliance)
    Beck: Ja, so etwas reicht. Hier sind wirklich ganz niedrige angelegte Bedürfnisse, die die Leute haben. Oftmals würde eine Plane, eine Plastikabdeckung, die bei uns als Abfall angesehen würde, schon reichen, um den Leuten irgendeine Art von Schutz zu geben. Gerade in diesem Distrikt sind mehr als 80 Prozent der Häuser zerstört, manche Dörfer haben eine Zerstörung von 100 Prozent. Das heißt, die Leute haben weder ein Dach überm Kopf, noch kommen sie an ihre Lebensmittelvorräte, noch haben sie irgendwas. Die Menschen sitzen in den höheren Lagen in den Bergen und warten, dass irgendetwas kommt.
    Dobovisek: Fehlt es also auch an Hubschraubern?
    Beck: Es fehlt ganz massiv an Hubschraubern, obgleich man in dieser Region mehr Hubschrauber in diesem Einsatz sieht, als es in den vorhergehenden Katastropheneinsätzen war. Aber der Bedarf hier ist so ungleich höher, dass mit der derzeitigen Kapazität an Hubschraubern die Hilfe nicht geleistet werden kann, die wir unbedingt leisten müssten, um das Überleben der Menschen zu sichern.
    Dobovisek: Wir haben, Herr Beck, vorhin schon ganz kurz über die Lehren aus dem Einsatz gesprochen. Wenn wir gut eine Woche nach dem schweren Beben versuchen wollen, eine Zwischenbilanz zu ziehen, welche ist die wichtigste Lehre aus der vergangenen Woche für Sie persönlich?
    Beck: Ich glaube, die wichtigste Lehre ist, dass das internationale humanitäre System sich verbessern muss, wenn es über den Bereich von einer Krisenreaktion in Großkatastrophen kommt. Es muss daraus gelernt werden, wie man in sehr schwierigen Situationen, ob das jetzt geographisch oder logistisch ist, auch zurechtkommt und seine Hilfeleistung organisiert. Das System muss schneller werden auch in schwierigen Umständen. Das sind durchaus erste Lehren, die man ziehen kann. Es waren viele Akteure bereit zu helfen, was sehr positiv ist, und es müssen diese Akteure auch noch besser organisiert werden.
    Dobovisek: Albrecht Beck ist einer der Nothilfekoordinatoren der Vereinten Nationen in Nepal. Vielen Dank für das Interview und Ihnen alles Gute für den weiteren Einsatz.
    Beck: Herzlichen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.