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Notfallversorgung oder Spitzenmedizin?

Seit dem Jahr 2000 sind die Ausgaben für Kliniken um mehr als zehn Milliarden Euro angestiegen. Unter dem Begriff der Priorisierung fordert die Gesundheitsbranche deshalb, genau festzulegen, welche Behandlungsarten wichtig sind und auf welche verzichtet werden könnte.

Von Nikolaus Nützel | 28.11.2011
    Ein typischer Vormittag im Münchner Uni-Klinikum Großhadern. Eine 82-jährige Patientin wird am offenen Herzen operiert. Sie soll mehrere Bypässe erhalten, denn ihre Arterien sind so erkrankt, dass das Herz nicht mehr ausreichend durchblutet wird.

    "Man sieht, es ist der Brustkorb eröffnet, man sieht, dass das Brustbein durchgesägt ist. Und man sieht jetzt im Prinzip den rechten Lungenflügel und drunter schlägt das Herz. Der Herzbeutel ist auch schon eröffnet, und die Frau Kollegin eröffnet jetzt einen Teil der linken Brustwandarterie, die sie im Prinzip frei präpariert. Und diese Brustwandarterie wird später als Bypass verwendet und auf das Herz draufgenäht."

    Professor Frank Christ überwacht die Narkose. Operationen am offenen Herzen bei Über-80-Jährigen sind für den Anästhesisten Routine. Allerdings weiß er, dass vor 20 oder 30 Jahren solche Eingriffe nicht möglich waren. Denn die Operationstechniken und gerade die Anästhesie waren noch nicht so ausgereift wie heute, daher wäre das Risiko für die Patienten zu groß gewesen.

    "Absolut. Da ist jetzt wieder die Herzchirurgie ein Extrembeispiel. Da hat es eine extreme Zunahme gegeben des Durchschnittsalters in den letzten 20 Jahren. Ich glaube, kaum ein anderer Bereich hat so eine Verschiebung erlebt."

    Viele Bürger in Deutschland glauben, dass es für gesetzlich Krankenversicherte immer weniger Leistungen gibt. Doch wenn man genau hinschaut, ist das Gegenteil richtig. Gerade in den Krankenhäusern werden heute Leistungen erbracht und bezahlt, die vor gar nicht langer Zeit als medizinische Science-Fiction galten. Dieser Fortschritt hat allerdings seinen Preis. Alleine die Ausgaben für die Kliniken sind seit dem Jahr 2000 um mehr als zehn Milliarden Euro angestiegen – von gut 44 Milliarden auf mehr als 54 Milliarden Euro.

    Angesichts dieser Entwicklung hat der frühere Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, einen Begriff in die gesundheitspolitische Diskussion gebracht, der bis dahin nur in Fachkreisen verwendet wurde: Priorisierung medizinischer Leistungen. Auch Hoppes Nachfolger auf dem Posten des Ärztepräsidenten, Frank-Ulrich Montgomery, will diese Debatte fortführen. Auf sein Betreiben hin hat die Bundesärztekammer kürzlich gemeinsam mit anderen Ärzteverbänden ein Positionspapier veröffentlicht, das eine neue gesellschaftliche und politische Diskussion einfordert:

    "Priorisierung heißt für uns, dass man eine Prioritätenliste festlegt, was diese Gesellschaft um jeden Preis und zu allen Zeiten immer sofort zur Verfügung stellen möchte, was ihr vielleicht etwas weniger wichtig ist; und etwas, was sie leicht glaubt, dass man das zuwarten lassen kann und dass man das später macht. Wir wollen die Behandlung und die Diagnose der Menschen nach der Wichtigkeit und der Dramatik ihrer Erkrankungen her in eine Rangfolge tun."

    Eine solche Debatte sei unausweichlich, meint der Ärztepräsident. Er sieht dafür einen einfachen ökonomischen Grund. In der Gesundheitsversorgung könne nicht mehr alles bezahlt werden, was möglich ist.

    "Wir merken, dass die Finanzschraube zunehmend enger geschraubt wird. Und wir merken, dass der Fortschritt noch sehr viele tolle Entwicklungen für die Zukunft in petto hat. Und das bedeutet: Wir werden uns nicht alles im gleichen Maße leisten können."

    Unter seinen Arztkollegen stößt Montgomery allerdings nicht nur auf Zustimmung. Professor Wulf Dietrich beispielsweise hat als Delegierter beim Deutschen Ärztetag der Forderung nach einer Priorisierungsdebatte stets widersprochen. Der Anästhesist, der am Münchner Herzzentrum arbeitet, findet, es müssten erst einmal ganz andere Themen diskutiert werden, wenn es darum geht, wie die knappen Gelder der Krankenkassen eingesetzt werden. So werde viel zu wenig darauf geachtet, ob eine Therapie nachweislich einen Nutzen bringt, ob sie evidenz-basiert ist, wie es im medizinischen Fachjargon heißt:

    "Wir haben so viele überflüssige, nicht evidenz-basierte Leistungen im System, die nur deswegen erbracht werden, weil sie Geld für den Arzt oder für die Klinik bringen, und wenn wir das einmal ausmisten würden, dann hätten wir weitaus mehr Mittel zur Verfügung, um sinnvolle Leistungen auch zu erbringen. Und die Diskussion über Priorisierung lenkt einfach ab von der Diskussion über überflüssige Leistungen und Rationalisierung innerhalb dieses Systems."

    Und es fällt ihm nicht schwer, aus verschiedenen Fachbereichen Beispiele aufzuzählen, wo Leistungen erbracht werden, die seiner Ansicht nach überflüssig sind – die aber viel Geld kosten:

    "Nehmen Sie die Rückenoperationen, nehmen Sie die Knieoperationen – es ist doch bekannt, dass viel zu viele Knie operiert werden, die Rücken werden zu viel operiert. Wir haben zu viele Herzkatheter-Untersuchungen, jedenfalls im Vergleich zu anderen Ländern, und, und, und. Also da gibt es zig Beispiele, wo bei uns Leistungen erbracht werden, deren Sinnhaftigkeit nicht da ist."

    In der ärztlichen Berufspolitik gilt Wulf Dietrich als jemand, der in vielen Fragen Minderheiten-Standpunkte vertritt. Dietrich ist Vorsitzender des Verbands Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, der innerhalb der medizinischen Organisationen als eine Art linke Fundamentalopposition gilt. Beim Thema "überflüssige Leistungen" aber springt ihm der Leiter der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, Wolf-Dieter Ludwig, zur Seite.

    Ludwig vertritt nicht nur an oberster Stelle die Haltung der Bundesärztekammer zur Arzneitherapie, er leitet auch die Krebsabteilung der Berliner Helios-Kliniken. Und er hört immer wieder von Operationen, die er für überflüssig und sogar schädlich hält. Etwa wenn Patienten mit weit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen an einzelnen Krebsgeschwulsten, den sogenannten Metastasen, operiert werden:

    "In vielen Bereichen erfolgen jetzt Operationen, um eine einzelne Metastase aus der Leber oder der Lunge zu entfernen, obwohl wir wissen, dass eine systemisch ausgebreitete Tumorkrankheit vorliegt, die durch diese Operation weder geheilt werden kann noch der Patient in seiner Lebensqualität gebessert werden kann."

    Warum viele Kliniken Patienten in solchen Fällen trotzdem operieren, liege auf der Hand, meint der Krebsspezialist.

    "Einzig und alleine aus dem Grund, um Fallzahlen zu steigern und damit die eigenen Bilanzen zu verbessern."

    Sorge machen Wolf-Dieter Ludwig aber nicht nur fragwürdige Operationen. Als Chef der Arzneimittelkommission der Bundesärztekammer beschäftigt er sich auch intensiv mit der Frage, welchen Nutzen Medikamente bringen:

    "Es gibt in der Onkologie ja das große Problem, dass wir sehr viele neue Arzneimittel haben, die Jahrestherapiekosten in der Größenordnung zwischen 50.000 und 80.000 Euro auslösen und wir uns in diesem Zusammenhang natürlich fragen müssen, welchen Nutzen haben solche Arzneimittel, die 50 bis 80.000 Euro im Jahr kosten, und sind diese Arzneimittel zum Zeitpunkt der Zulassung überhaupt so untersucht, dass wir sie verordnen können?"

    Eigentlich gibt es schon seit Jahrzehnten Regeln, Abläufe und Gremien, die überflüssige Leistungen eindämmen sollen. Das wichtigste Gremium ist hier der Gemeinsame Bundesausschuss, in den Krankenkassen, Ärzte, Zahnärzte und Kliniken jeweils Vertreter entsenden. Sie beschließen, für welche Leistungen die gesetzliche Krankenversicherung aufkommt und für welche nicht.

    Rainer Hess, der als Unparteiischer den Gemeinsamen Bundesausschuss leitet, macht dabei immer wieder die gleiche Erfahrung: Er muss sich gegen einen enormen Druck wirtschaftlicher Interessen stemmen. Interessen der Pharmaindustrie ebenso wie Interessen der Hersteller von Medizintechnik. Erst vor kurzem hat es im Gemeinsamen Bundesausschuss heftigen Streit über eine neue Untersuchungsmethode gegeben, die Positronen-Emissions-Tomographie, kurz PET-CT.

    Sie wird vor allem bei bestimmten Krebserkrankungen eingesetzt, um festzustellen, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist. Doch es ist umstritten, welchen praktischen Wert die Erkenntnisse, die sich mit PET-CTs gewinnen lassen, für die Behandlung der Patienten haben. Bei der Auseinandersetzung sei deutlich geworden, was in Kliniken passiert, die solche Apparate anschaffen, sagt Hess:

    "Dass ich, wenn ich so etwas habe, ich es ökonomisch nutzen will. Der Druck auf den Bundesausschuss wird massiv ausgeübt, PET-CT für eine große Breite von Indikationen zuzulassen. Da steht im Hintergrund natürlich das teure Gerät und die Notwendigkeit, es auch auslasten zu müssen."

    Eine Untersuchung mit dem PET-CT kostet rund 1500 Euro. Bei solchen Kosten müsse aber klar nachgewiesen werden, dass die Untersuchung etwas für die Behandlung der Patienten bringe, forderte der Gemeinsame Bundesausschuss. Doch es hätten sich keine entsprechenden Belege in der wissenschaftlichen Literatur finden lassen. Deshalb schloss das Gremium das PET-CT vor rund einem Jahr in vielen Fällen von der Erstattung durch die Krankenkassen aus. Wenn man solche Entscheidungen als Priorisierung bezeichnet, würde er sich damit durchaus anfreunden können, meint der Ausschuss-Vorsitzende Rainer Hess:

    "Der Begriff der Priorisierung ist ja ein positiver Begriff. Ich muss Schwerpunkte bilden, auch in Deutschland. Aber die Priorisierung muss in Deutschland da ansetzen, wo ich erst mal das nicht Notwendige wegkriege, bevor ich an das Notwendige herangehen kann."

    Allerdings wird der Begriff seiner Ansicht nach vor allem von vielen Ärzten ganz anders eingesetzt. Viele Mediziner seien mit ihren eigenen Verdienstmöglichkeiten nicht zufrieden und fühlten sich zudem durch verschiedenste Reglementierungen eingeschränkt, meint der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses. Daher gäben diese Ärzte dem Wort "Priorisierung" eine andere Bedeutung als er, glaubt Hess:

    "Alles das führt zu einer großen Unzufriedenheit der Ärzte mit dem System. Und um hier etwas beruhigend zu wirken, gehe ich mal davon aus, wird hier dieses Thema Priorisierung in den Raum gesetzt, um zu sagen, wir müssen, um das System auf Dauer finanzierbar zu halten, hier Leistungen aus dem System rausnehmen."

    Die wissenschaftliche Grundlage für die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses wird nicht im Ausschuss selbst erarbeitet, sondern außerhalb, beim Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, kurz IQWiG. Auch dessen Leiter, Professor Jürgen Windeler, stört sich an der Diskussion über eine Priorisierung medizinischer Leistungen, wie sie die Bundesärztekammer voranzutreiben versucht.

    "Sie stört mich vor allem deshalb, weil sie von einem sehr wesentlichen Problem ablenkt, nämlich davon, sich innerhalb des Systems darum zu kümmern, was eigentlich Sinn macht und was nicht Sinn macht. Denn wir haben innerhalb des Systems eine ganze Reihe von Verfahren und eine ganze Reihe von Anwendungen, die nicht Sinn machen, und die man eigentlich auch bleiben lassen könnte."

    Damit argumentiert Windeler zwar ähnlich wie Wulf Dietrich vom Verband Demokratischer Ärztinnen und Ärzte und auch wie Wolf-Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Als Naturwissenschaftler, der es gewohnt ist, mit klaren Kriterien zu arbeiten, störe ihn aber noch etwas anderes an der Priorisierungsdebatte, sagt der Institutsleiter. Er könne nicht erkennen, wie man objektive Maßstäbe dafür finden soll, welche Leistungen in einer Reihenfolge weiter oben stehen und welche weiter unten.

    "Und das ist auch ein wesentlicher Kern der Priorisierungsdebatte, dass man sich schon die Frage stellen kann, was sollen eigentlich Kriterien sein, nach denen diese Verfahren priorisiert werden – und diese Kriterien sind in meinen Augen bisher völlig unklar."

    Der Chef der Bundesärztekammer, Frank-Ulrich Montgomery, lässt sich von solcher Kritik nicht beeindrucken. Der Ärztepräsident weiß natürlich, dass der Gemeinsame Bundesausschuss und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit schon seit langem die gesetzliche Aufgabe haben, die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen auf das Sinnvolle und Notwendige zu beschränken. Doch seine Forderung nach einer Priorisierung medizinischer Leistungen werde durch die Arbeit dieser Institutionen nicht überflüssig, meint er. Im Gegenteil.

    "Die haben ja durchaus Recht, dass sie seit Jahren versuchen, dieses zu machen. Und ich habe eher den Eindruck, sie machen es nicht richtig gut. Weil die Entscheidungsdauer, die sie brauchen, zu lang ist, die Entscheidungen hochgradig umstritten sind, viele dieser Entscheidungen vor Gericht weggeklagt werden. Also die Performance sowohl des IQWiG wie des Gemeinsamen Bundesausschuss' ist schlecht – und deswegen brauchen wir eine Priorisierungsdebatte. Man könnte es auch anders formulieren: Sie dürfen eben nicht die Frösche fragen, wenn Sie den Sumpf trocken legen wollen."

    Mit solchen markigen Worten bestärkt der Ärztepräsident viele seiner Kritiker darin, dass sie lieber gar nicht erst mit ihm in eine Diskussion über Priorisierung einsteigen wollen. Die meisten Gesundheitspolitiker lehnen eine entsprechende Debatte ebenso ab wie die meisten Kassenchefs. Eine Ausnahme ist hier der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Angestellten Krankenkasse, Herbert Rebscher. Für ihn habe das Wort Priorisierung erst einmal einen positiven Klang, sagt der DAK-Chef – sofern man das Wort so versteht wie er:

    "Es geht nicht um die Rationierung und die Begrenzung, es geht um den sinnvollen Gebrauch knapper Ressourcen aufgrund sinnvoller, nachvollziehbarer Entscheidungsregeln."

    Und nach Meinung des DAK-Chefs reicht es langfristig nicht mehr aus, wenn Gremien wie der Gemeinsame Bundesausschuss oder das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit einzelne Therapien oder Diagnosemethoden darauf untersuchen, welchen Nutzen sie haben. Es müsse auch auf einer übergeordneten Ebene darüber nachgedacht werden, was wichtiger ist und was weniger wichtig ist.

    Wenn die Krankenkassen beispielsweise zusätzlich eine Milliarde Euro zur Verfügung hätten, müsse entschieden werden, ob diese Milliarde beispielsweise für eine bestimmte Zahl neuer High-Tech-Apparate ausgegeben werde – oder für etwas anderes. Doch solche übergeordneten Überlegungen seien im Gesundheitssystem derzeit nicht vorgesehen, beklagt der DAK-Chef:

    "Da muss doch irgendwann mal gesagt werden, was könnte nach den vorhandenen Erfahrungen und Evidenzen daraus überhaupt für ein Nutzen entstehen, im Vergleich, würde man das gleiche Geld nehmen und was weiß ich in die Pflegeversicherung stecken oder in die psychiatrische Versorgung. Das heißt nicht, dass der einzelne was anderes bekommt, sondern mal grundsätzlich zu gucken, stiftet die Investition in bestimmte teure Infrastrukturen auf dem Gebiet A mehr Lebensqualität, mehr Lebensverlängerung gegenüber etwas anderem. Dass man überhaupt mal ein Gefühl dafür hat, was verändert man denn damit in der Gesellschaft."

    Allerdings hat auch der Kassenchef Rebscher keine rechte Lust, eine Diskussion über Priorisierung von sich aus voranzutreiben, so wie es der Ärztepräsident Montgomery tut.

    "Ich habe immer die Angst, ich glaube, die berechtigte Angst, dass diese Diskussion irgendwann zu schnell umkippt, dass es dann wieder zu so Rationierungszwecken benutzt wird. Das wäre der Tod von Priorisierungsdebatten."

    Denn Rationierung sei etwas völlig anderes, als das, worum es ihm gehe, sagt Rebscher. Er wünsche sich eine neue Diskussion über den sinnvollen Einsatz vorhandener Mittel – ohne dass deshalb Leistungen plump gestrichen werden, also rationiert.

    Der Ärztepräsident Montgomery hingegen macht klar, dass er hier eine andere Auffassung vertritt. Wenn er im Zuge einer Priorisierungsdebatte Leistungen in eine bestimmte Reihenfolge bringen möchte, dann nimmt er auch in Kauf, dass die Leistungen, die bei dieser Reihenfolge unten stehen, wegfallen. Das sei auch gar nicht neu, sagt der Ärztepräsident:

    "Früher gab es die Brille komplett auf Krankenschein. Heute gibt es, seit etwa 15 Jahren, die Brille nicht mehr auf Krankenschein. Das war damals eine klare Priorisierungsentscheidung. Man hat gesagt, wir können uns die Brille für alle nicht mehr leisten. Und andersherum: Jeder kann auch – weil er davon ausgehen kann, dass jeder von uns mal ´ne Brille braucht – hier auch so im Sinne eines Ansparmodells eigene Vorsorge treffen. Und dann hat man priorisiert und gesagt, die Brille gibt es nicht mehr auf Krankenschein."

    Und genau das kann sich der Ärztepräsident auch am Ende einer neuen Priorisierungsdebatte vorstellen: Dass es bestimmte Leistungen nicht mehr auf Kassen-Chipkarte gibt. Welche Leistungen das sein könnten, dazu will sich Montgomery aber erst einmal nicht äußern:

    "Das kann nicht ein einzelner so sagen. Ich könnte nicht sagen, diese Leistung gehört in der Priorisierung ausgeschlossen. Würde aber ein kompetent zusammengesetztes Gremium sagen, wir sind in der Zusammenarbeit von Ärzten, Wissenschaftlern, Ökonomen, Juristen, Theologen, Ethikern und Politikern gemeinsam zu der Auffassung gekommen, dass man das jetzt nicht mehr bezahlen sollte, dann wäre es richtig."

    Zurück im Operationsbereich des Münchner Uni-Klinikums Großhadern. Gerade hat ein Spezialisten-Team eine Herzoperation bei einem Frühgeborenen abgeschlossen. Der kleine Junge hatte eine Verwachsung in der Arterie, die Herz und Lunge verbindet. Ein solcher Eingriff, bei einem Kind, das gerade halb so viel wiegt wie andere Neugeborene, war noch vor wenigen Jahren undenkbar. Die Medizintechnik war dafür noch nicht ausgereift genug. Jetzt steht der leitende Narkosearzt Frank Christ vor den Monitoren und freut sich über das, was er sieht und hört:

    "Er hatte vorher eine Blutsättigung, eine Menge an Sauerstoff im Blut, von gerade mal 80 Prozent. Und das ist jetzt auf 97 Prozent. Und das ist normal. Und das war eben Ausdruck davon, dass nicht genügend Blut durch die Lunge geströmt ist und dass deshalb die Lunge nicht wirklich gut durchblutet war. Und das haben durch das Sprengen dieser Klappe, die zwischen dem Herzen und der Lunge liegt, dadurch ist es jetzt eine gute Durchblutung der Lunge. Das ist der entscheidende Punkt."

    Frank Christ hofft, dass auch künftig die Gelder im Gesundheitswesen so gesteuert werden, dass sie dorthin fließen, wo Menschen auf medizinische Hilfe angewiesen sind. Denn Momente wie dieser zeigten ihm, dass es sich lohnt, viel Geld in die moderne Medizin zu stecken, sagt er.

    "Das ist schön. Ein super Ergebnis. Toll. Und ich sage Ihnen, das macht Spaß. Weil das ist einfach was Tolles, ein Kind, das eine Chance hat, ganz normal sich zu entwickeln."