Freitag, 29. März 2024

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Notre-Dame
Lustiger: Wahrzeichen des offenen Christentums

Kein Ort symbolisiere die französische Geschichte gleichermaßen wie Notre-Dame, sagte die Schriftstellerin Gila Lustiger im Dlf. Der Cousin ihres Vaters, Jean-Marie Lustiger, war Erzbischof von Paris. Für den getauften Juden habe die Kathedrale immer auch dafür gestanden, Judentum und Christentum vereint zu sehen.

Gila Lustiger im Gespräch mit Silvia Engels | 16.04.2019
Flammen und Rauch steigen vom Dach der Kathedrale Notre-Dame in Paris auf, aufgenommen am 15. April 2019.
Die Kathedrale Notre Dame in Paris in Flammen am Montag abend (15.04.) - mittlerweile ist der Brand gelöscht. (Fouad Maghrane / AFP)
Silvia Engels: Notre Dame – Pariser Hauptkathedrale, historisches Gedächtnis und Symbol für ganz Frankreich, Weltkulturerbe – ist schwer getroffen. Gestern Abend vernichtete ein Brand das Dachgewölbe des Hauptschiffes. Ein Einsturz der beiden Haupttürme konnte abgewendet werden. Der Brand, so heißt es jetzt von den Behörden, sei noch nicht endgültig gelöscht, aber unter Kontrolle. Am Telefon in Paris ist nun die Schriftstellerin Gila Lustiger, sie ist Schriftstellerin, Tochter des 2012 verstorbenen deutsch-jüdischen Historikers Arno Lustiger, und sie lebt seit 1987 in Paris. Guten Morgen, Frau Lustiger!
Gila Lustiger: Guten Morgen!
Engels: Sie selbst haben besonders enge familiäre Verbindungen zu Notre Dame, denn Ihr Onkel war Kardinal, es war Jean-Marie Lustiger, von 1981 bis 2005 Erzbischof von Paris.
Lustiger: Genau.
Engels: Welche Gefühle bewegen Sie heute früh?
Lustiger: Ich denke – natürlich er ist der Cousin meines Vaters, aber für mich eigentlich Onkel –, ich denke natürlich an ihn heute und vor allen Dingen an seine Beerdigung. Er wurde in Notre Dame beerdigt. Die Bestattung fand – 2007 ist er gestorben – in der Kathedrale statt. Vor der Kathedrale – und das war wichtig für ihn, er ist ja getaufter Jude, er wurde von Johannes Paul II. '81 zum Erzbischof von Paris ernannt und in Notre Dame inthronisiert und hat dort eigentlich seinen gesamten Dienst verrichtet –, vor der Kathedrale hat mein Vater damals den Kaddisch für ihn gesagt, das jüdische Todesgebet, und mein Sohn hat Erde auf das Grab vom Ölberg geschüttet. Für mich ist das wichtig, das ist auch Teil von Notre Dame. Jean-Marie wollte damit seine Hoffnung und auch seinen Glauben symbolisieren, die Weltreligionen, vor allem das Judentum natürlich, und das Christentum Seite an Seite vereint zu sehen. Das ist, an was ich heute ganz besonders denke, an dieses Erbe.
Symbol für die Geschichte Frankreichs
Engels: Dieses Erbe Notre Dame, auch eben für gelebte Toleranz unter den Weltreligionen stehend. Sie selber kennen Notre Dame aus diesem sehr persönlichen Blick. Was ist das, was Ihnen heute mit dem Blick auf dieses unglaubliche Gebäude mit seinen unglaublichen Kunstschätzen, was das Gebäude angeht, als erstes in Erinnerung kommt?
Lustiger: Ich musste heute, schmunzeln ist nicht das Wort, ich bin natürlich traurig wie alle anderen, aber ich habe gestern Nacht den Twitter von Anne Hidalgo, der Bürgermeisterin von Paris, gelesen, und sie schrieb da lobend über die Feuerwehrleute, die eine menschliche Kette gebildet haben, um das Wichtigste aus den Flammen zu retten, und das Wichtigste sind eben keine Kulturschätze – da sind natürlich tausende von Kunstwerke –, das Wichtigste ist die Dornkrone Christi, also die aus Dornen geflochtene Krone, die Jesus bei der Kreuzigung in Jerusalem auf den Kopf gesetzt wurde. Diese Kathedrale wurde in der Frühgotik gebaut, und der Bau erstreckte sich 200 Jahre lang, und das Mittelschiff wurde im 14. Jahrhundert erweitert, und die Buntglasfenster noch vor der Französischen Revolution eingesetzt.
Trauerfeier für Kardinal Lustiger am 10. August 2007. Stille Andacht vor der Kathedrale von Notre Dame
Trauerfeier für Jean-Marie Lustiger am 10. August 2007 vor Notre Dame (MAXPPP / epa / Christophe Petit )
Also dieses Gebäude ist wirklich Teil der französischen - es gibt kein Gebäude in Frankreich, das derart die Geschichte dieses Landes mitträgt und symbolisiert. Sie haben ja vorhin Macron eingeblendet, der wörtlich gesagt hat, wir bauen diese Kathedrale wieder auf, sie ist ein Teil von uns, sehr emotional hat er das gesagt. Ich meine, das ist ein Präsident einer Republik, die sich auf die Werte der Revolution beruft, aber "Notre Dame de Paris", wörtlich übersetzt: "unsere liebe Frau Paris", symbolisiert nicht nur die Geschichte von Frankreich und ist nicht nur Wahrzeichen von Paris, sie ist auch das Symbol der Christenheit in Frankreich und der Welt. Deshalb denke ich persönlich heute auch an den Erzbischof Lustiger, der das erweitert hat, und er hat diesen Begriff der Christenheit erweitert, und mein Sohn hat damals vor dem Parvis den Psalm 113 in Hebräisch gelesen, und ich lese Ihnen nur die letzte Zeile dieses Psalms vor. Da steht, dass sie einen Thron errichten werden, erhöht den Armen - ich bin im Moment sehr emotional, deshalb stottere ich hier ein bisschen rum –, erhöht den Armen aus dem Schmutz, dass er ihn setzt neben den Fürsten, neben die Fürsten seines Volkes. Also das war auch die letzte Botschaft von Jean-Marie, dass es ein Ort ist, in dem man die Armen aus den Schmutz erhöht und sie setzt neben die Fürsten des Volkes. Das ist auch ein Wahrzeichen dieser Kathedrale. Das ist auch, was diese Kathedrale mitsymbolisiert.
Gila LUSTIGER, Deutschland, Schriftstellerin, am 11.10.2017 Frankfurter Buchmesse 2017 vom 11.10. - 15.10.2017 in Frankfurt am Main / Deutschland. *** Gila funnier Germany Writer at 11 10 2017 Frankfurt Book Fair 2017 of 11 10 15 10 2017 in Frankfurt at Main Germany
Die Schriftstellerin Gila Lustiger auf der Frankfurter Buchmesse.
Die Schriftstellerin Gila Lustiger hat ganz persönliche Verbindungen zur Kathedrale von Notre Dame (imago stock&people)
Engels: Die Trauer, die im Moment Paris ergriffen hat, all die Menschen dort, haben Sie geschildert. Wird daraus auch eine Kraft des Gestaltens, eine Kraft des Wiederaufbaus erwachsen?
Lustiger: Also heute Morgen hat Pinault, einer der größten französischen Industriechefs schon gesagt, dass er – das ist ganz konkret ein Detail –, dass sein Konzern zehn Millionen Euro zur Verfügung stellt für den Wiederaufbau, und ich glaube, es gibt auch schon Spendenaktionen, und ich weiß, dass die jüdische Gemeinde in Frankreich spenden wird. Also die Spenden für den Wiederaufbau kommen aus allen Ecken.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.