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Novelle
"Preising fand immer Gründe, nicht zu handeln"

Zwei Ich-Erzähler und ein allwissender Erzähler versprechen in Jonas Lüschers Novelle "Frühling der Barbaren" eine unerhörte und vertrackte Geschichte. Aber ganz so überzeugend wird es dann doch nicht.

Von Hartmut Kasper | 04.04.2014
    Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher diskutiert am 13.03.2014 auf der Leipziger Buchmesse am Stand der Schweiz.
    Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher diskutiert am 13.03.2014 auf der Leipziger Buchmesse am Stand der Schweiz. (Hendrik Schmidt/dpa)
    "Nein", sagte Preising. "Du stellst die falschen Fragen." Mit diesem Machtwort eines ihrer Ich-Erzähler beginnt die Novelle "Frühling der Barbaren" von Jonas Lüscher. Die Novelle hat nämlich zwei Ich-Erzähler: Preising, einen Schweizer Fabrikerben, der eine Geschichte erzählt, die ihm selbst widerfahren ist, und einen namenlosen Zuhörer, der mit Preising spazieren geht und dessen Erzählung gelegentlich kommentiert. Spazieren gehen sie übrigens in einer psychiatrischen Anstalt, in der die beiden Ichs Heilung von seelischen Plagen suchen.
    Damit nicht genug, verfügt der kurze Text, wie Lüscher in einem Gespräch mit Martin Hielscher, seinem Lektor, verrät, "über eine Erzählperspektive, von der wir eigentlich nichts erfahren, hinter der (…) auch keine Figur stehen kann, denn dieser Erzähler scheint alles gesehen, alles gehört zu haben und alles zu wissen“.
    Zwei Ich-Erzähler also und ein allwissender Erzähler überdies - welche unerhörte Geschichte mag nach einem derartig vertrackten erzählerischen Gerüst verlangt haben?
    Preising ist ein Schweizer; sein Vater hat ihm einen Familienbetrieb vererbt, eine Fernsehantennenfabrik. Dieser Betrieb wird von einem findigen leitenden Angestellten auf Vordermann gebracht; wenn wichtige Entscheidungen anstehen, schickt er seinen Chef in den Urlaub. Er bestimmt sogar Preisings Reiseziel. In diesem Fall: Tunesien.
    Preising erledigt dies und das und nimmt Wohnung in einem Oasenressort:
    "Das 'Thousand and One Night Resort' in der Oase Tschub war einer temporären Berbersiedlung nachempfunden oder vielmehr dem, was sich der von der Marktforschung errechnete typische Tourist der Premiumklasse unter einer typischen Berbersiedlung vorstellte, wenn er denn überhaupt eine Vorstellung hatte und sich nicht sowieso (…) von den Ideen einer weltberühmten Resortdesignerin aus Magdeburg überzeugen ließ.“
    Dort wird Preising bald zur Hochzeit eines jungen, reichen englischen Paares eingeladen, das in der Londoner City tätig ist.
    Die eine Hälfte der Feierrunde - Bräutigam & Co. - gibt sich britisch-blasiert; die Gäste der Braut dagegen entstammen eher einem proletarischeren Milieu. Jenny, die beste Freundin der Braut, hat die Zeremonie organisiert.
    "Gedämpft spielte geheimnisvolle Trommel- und Schellenmusik von einer CD mit dem Titel 'Winds of the Desert', die sich Jenny von ihrem privaten Pilatestrainer geliehen hatte.“
    Das Szenario der 250.000-Pfund-Hochzeit wirkt denn auch, wie als Format für das volkstümlichere Privatfernsehen ersonnen.
    Mitten drin: Preising, der, obwohl vom Vater zum Kapitalisten bestimmt, im Herzen ganz Bildungsbürger geblieben ist:
    "Das weiße Hemd mit den Rosenwasserflecken roch etwas streng (…). Er unternahm einen halbherzigen Versuch, dem mit der Applikation einer größeren Menge Rasierwasser unter den Achseln entgegenzuwirken und umschiffte die schwierige Frage nach dem zweiten Hemdknopf, indem er versuchte, im Kopf die Anzahl der Circonflexe in der Originalfassung von Prousts Madelainesequenz zu ermitteln, eine Sequenz, die er sich die Mühe gemacht hatte, auswendig zu lernen, weil er im Laufe seines Lebens die Erfahrung gemacht hatte, dass Schmerzbrötchen und, vielleicht etwas allgemeiner, mit Nahrungsmitteln verknüpfte Kindheitserinnerungen in so mancher gesellschaftlichen Situation als beliebtes Gesprächsthema aufkamen."
    In solchen leer laufenden Reflexionen kultiviert Preising seine habituelle Tatenlosigkeit. Preising ist ein lethargischer Held oder, wie der zweite Ich-Erzähler notiert:
    "Preising fand immer Gründe, nicht zu handeln."
    Stattdessen handelt die Weltgeschichte für ihn. Buchstäblich über Nacht, nämlich:
    "Während Preising schlief, ging England unter."
    Es hat sich ausgefeiert. Die Wüstengäste erfahren vom Staatsbankrott Großbritanniens. Ihre Kreditkarten sind gesperrt; alles Geld, Quell ihrer Befehlsgewalt über die Tausend-und-eine-Nacht-Ferienanlage, ist versiegt. Die dienstbaren Geister versagen den Dienst. Die Inhaberin des gastfreien Betriebs verweist die ruinierte Runde - nach einem letzten, kargen Frühstück - des Hauses.
    Via Handy schlagen Kündigungswellen, ach was: Kündigungs-Tsunamis über der Gesellschaft zusammen.
    Nun endlich - im letzten Drittel der Novelle, nebenbei - beginnt der verheißene, titelgebende "Frühling der Barbaren". Denn, das weiß man doch:
    "Der Mensch wird zum Tier, wenn es um sein Erspartes geht."
    Da der finanzielle Rahmen ihres Lebens gesprengt ist, brechen die barbarischen Triebe sich Bahn: Männer gehen fremd; Frauen schluchzen; schließlich soll - wir erinnern uns an das karge Frühstück - ein wehrloses Kamel geschlachtet, gegrillt und - da ja jetzt eh alles egal ist - etwa nach Art des Cordon Bleu gefüllt werden.
    Womit?
    Ein Mitarbeiter des Resorts,
    "Rachid, vom Blöken des Kamels herbeigelockt, tauchte also in Begleitung seiner Hündin und der vier wohlgelaunten Welpen zum ganz falschen Zeitpunkt am Schwimmbecken auf, und es war auch keine gute Idee, sich der betrunkenen Meute, die sich gestrandet in einem fremden Land vor den Trümmern ihrer Existenz sah, entgegenzustellen, um das Leben seiner Tiere zu schützen."
    Blut fließt; Rachid ertrinkt im Swimming-Pool; das Kamel-Grillen misslingt, die Palmen fangen Feuer - eine Apokalypse, beinahe wie von Hieronymus Bosch gemalt.
    Dazu passt denn auch der schöne, feuerrote Umschlag des Buches, der wie ein Versprechen aussieht, man könne sich an diesem Werk die Finger verbrennen.
    Aber ganz so brisant, wie der Umschlag tut, ist die Geschichte nicht. Dazu sind all ihre Figuren zu ausgedacht und treten zu selten aus ihren karikaturistischen Konturen heraus; dazu läuft die Geschichte zu zeitgefällig auf ihre Pointe zu, um dort weitgehend wirkungslos zu verpuffen: Das finanzpolitische Menetekel berührt nicht wirklich; und wenn den bankrotten Engländern, denen das britische Pfund flöten gegangen ist, angeboten wird, ihre Schulden mit Schweizer Franken zu begleichen, wird der Witz provinziell.
    Jonas Lüscher, 1976 in der Schweiz geboren, hat dort eine Ausbildung zum Primarschullehrer absolviert und hernach eine Weile in der deutschen Filmindustrie gearbeitet. Er forscht heute als Doktorand am Lehrstuhl für Philosophie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.
    Das glaube ich gern. Auch wenn diese Biografie ein wenig so klingt, als wäre sie eigens für die vorliegende Novelle mit ihrer erzähltechnisch ausgefuchsten, doppelt und dreifach beleuchteten Fabel erfunden worden.
    Wäre das Buch ein Film, könnte man sagen: viel Kamerafahrt, wenig Geschichte.
    Jonas Lüscher: "Frühling der Barbaren", Novelle, C.H. Beck. München 2013, 125 Seiten, 14,95 Euro.