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NS-Aufarbeitung
"Ich glaube an transgenerationelle Übertragung"

Die Deutschen setzten sich nicht mit der Verantwortung ihrer Vorfahren auseinander, sagte der Buchautor und Regisseur Chris Kraus im Dlf. Bei den Recherchen über seinen Großvater habe er schreckliche Entdeckungen über dessen SS-Vergangenheit gemacht. Sich dem zu stellen und damit umzugehen, könne sehr gesund sein.

Chris Kraus im Gespräch mit Petra Ensminger | 17.12.2017
    Chris Kraus liest aus "Das kalte Blut" auf der Deutschlandradio-Bühne
    Chris Kraus liest aus "Das kalte Blut" auf der Deutschlandradio-Bühne der Leipziger Buchmesse im März 2017 (Deutschlandradio / Stefan Fischer )
    Petra Ensminger: Freuen Sie sich schon auf Weihnachten? Es ist die Zeit, in der die Familien zusammenfinden, gemeinsam das Weihnachtsfest mehr oder minder ausgiebig feiern, über vergangene Zeiten auch plaudern. Das heißt - sicher nicht über den Nationalsozialismus, die nationalsozialistische Vergangenheit der noch lebenden oder schon verstorbenen Familienmitglieder. Da wird ja eher der Mantel des Schweigens gelegt. Anders in der Familie von Chris Kraus, mit dem ich im Rahmen unserer Advents- und Weihnachtsserie "Unsere Wurzeln - Unser Erbe" gesprochen habe. Der Regisseur, Drehbuchschreiber, Schriftsteller hat einen Roman veröffentlicht: "Das kalte Blut", eine Auseinandersetzung auch mit der Geschichte seines Großvaters, der ein SS-Mann war. Chris Kraus hat sich mehr als ein Jahrzehnt damit auseinandergesetzt, die Archive durchforstet und ich habe ihn gefragt, was ihn motiviert hat, so intensiv zu forschen.
    Chris Kraus: Das ist durch einen Zufall gekommen. Ich habe Anfang der 2000er-Jahre eine Notiz gefunden in den Fußnoten eines Sachbuches, die mein Großvater benannt hat, und da war ich komplett erschüttert, weil ich ihn in dem Zusammenhang von SS-Offizieren in der Form nicht erwartet habe, und dadurch begann die Beschäftigung mit der gesamten Familiengeschichte. Dass daraus dann am Ende zehn Jahre geworden sind und große Familienchronik und auch ein Roman und auch ein Film, das war alles nicht absehbar.
    "Er hat furchtbare Dinge getan"
    Ensminger: Und Sie haben es gesagt: Den Namen des Großvaters in einer Fußnote zu sehen in einem Zusammenhang mit NS-Vergangenheit, das ist erst mal erschütternd. Ich gehe mal davon aus, dass es nicht nur Sie erschüttert hat, sondern auch andere Teile der Familie?
    Kraus: Na ja. Merkwürdigerweise stellte sich nicht die gleiche Reaktion ein wie bei mir. Ich kannte mich allerdings auch schon ein bisschen aus in der NS-Geschichte. Es war ja bekannt in unserer Familie, wie das in vielen Familien in Deutschland natürlich bekannt ist, dass der Großvater im Krieg war - logisch - im Zweiten Weltkrieg. Es war auch bekannt, dass er bei der SS war. Allerdings war nur bekannt, dass er bei der Waffen-SS war, ein rein militärischer Verband, und in der Sozialisation meiner Familie in der jungen Bundesrepublik auch nichts Ehrenrühriges, sondern etwas Normales.
    Ich habe herausbekommen durch die Fußnote, dass er nicht nur in diesem militärischen Verband war, sondern in der sogenannten allgemeinen SS, und auch nicht nur das, sondern - das stand natürlich nicht in dieser kleinen Fußnote. Das musste ich dann doch erst recht mühsam herausbekommen. Allerdings ist es interessant zu sehen, dass man immer noch unheimlich viel über seine Familie erfahren kann. Die Nazis haben - ist ja eine deutsche Tradition - sehr viel aufgehoben, sehr viel mehr als sie eigentlich aufheben wollten. Man kann also sehr viel herausbekommen, wenn man das Bedürfnis dazu hat, und bei mir ist dann ein 900-seitiges Buch über meine Familie entstanden.
    Erinnerungsbild des Großvaters passte nicht in Realität
    Ensminger: Und Sie haben schon angedeutet, was Sie entdeckt haben. Es waren durchaus grausame Dinge. Was war es genau, was Sie so erschüttert hat?
    Kraus: Es ist wirklich sehr schwer, das auf einen Punkt zu bringen. Mein Großvater war im Grunde genommen in unheimlich viele Verbrechen verwickelt, die seine Einheit begangen hat. Ich konnte zum Teil individuelle Vergehen dadurch rekonstruieren oder recherchieren, dass ich noch Zeitzeugen antraf, die damals noch lebten - unter anderem, das ist natürlich verstörend, jemanden, der bei einer Folterung dabei war, die mein Großvater persönlich kommandiert hatte. Aber ich konnte als Historiker sozusagen komparatistisch rausbekommen, was die Einheit getan hat, und er war halt immer dabei. Er hat unter anderem mehrere Juden-Erschießungen befehligt in Bikernieki. Das ist ein Stadtwald in der Nähe von Riga. Aber er war auch an Vernichtungsaktionen von russischen Kriegsgefangenen beteiligt und an viel mehr.
    Das war schon eine Geschichte, die zu meinem persönlichen Erinnerungsbild meines Großvaters gar nicht passte. Und das erst einmal durchzusetzen bei der Familie, ging nur durch dieses Buch. Am Anfang wollte ich das nicht schreiben, sondern ich habe gemerkt, dass es so große Widerstände gab, Dinge zu akzeptieren, die stattgefunden hatten und eben nicht zu dem Erinnerungsbild meiner Familie passten, dass ich das dann dokumentieren wollte - nicht nur für meine Kinder, sondern auch für den Rest der Familie.
    "Es gab gewaltige Auseinandersetzungen"
    Ensminger: Das wäre nämlich meine nächste Frage gewesen. Das eine ist, wenn bekannt ist, dass jemand aus der Familie bei der SS war. Das andere, wenn man dann im Detail erfährt, was er getan hat. Das war sehr schwierig. Und deswegen, sagen Sie, haben Sie das Buch geschrieben, weil Sie es nicht ansprechen konnten?
    Kraus: Ja! Ich rede jetzt gerade nicht von dem Buch, das jetzt in die Öffentlichkeit gegangen ist, also nicht von meinem Roman "Das kalte Blut", sondern von einer Familienchronik, die ich bewusst nicht in die Öffentlichkeit gegeben habe. Das ist ein sehr intimes persönliches, auch privates Buch. Das habe ich tatsächlich geschrieben, um ein für alle Mal zu klären, was passiert ist. Denn dieses Leugnen, das aus einem ganz natürlichen Affekt natürlich kommt, aus einem Loyalitätsbedürfnis dem Großvater oder Vater gegenüber, das wollte ich nicht akzeptieren, und da gab es natürlich gewaltige Auseinandersetzungen innerhalb der Familie in den letzten 17 Jahren, die es ja nun sind. Da hat sich aber in der Familienauseinandersetzung auch sehr viel verändert, weil innerhalb meiner Generation und in der Generation, die nachfolgt, der Generation meiner Kinder, gibt es natürlich eine ganz andere Offenheit durch die viel größere Distanz zu dem Großvater, darüber dann nachzudenken. Und das war jetzt trotz der Schmerzen, die diese Diskussionen auch auslösten, eigentlich im Ergebnis etwas sehr, sehr Schönes auch.
    Ensminger: Und Sie haben es gesagt: Es ist der Großvater ja auch gewesen. Das heißt jemand, zu dem Sie als Kind womöglich aufgeschaut haben, den Sie vielleicht auch bewundert haben. Was hat das mit Ihnen gemacht zu entdecken, dass er gar nicht nur dieser Großvater war, sondern auch noch einen anderen Teil in ihm hatte?
    Kraus: Na ja. Das war das Verstörende, weil ich natürlich dadurch direkt in eine Selbstbefragung kam. Dieses Buch war ja vor allem eine ganz große Frage - erst mal an meinen Großvater, der verstorben ist, ich war da in einer Art Dialog mit ihm, und natürlich dann auch eine Frage an mich selbst, immer wieder die Frage, wie ich reagiert hätte. Ich wäre ja genauso sozialisiert gewesen wie mein Großvater, also wahrscheinlich auch einfach ein Nazi gewesen. In seinem Freundeskreis gab es überhaupt nur Nationalsozialisten. Und das war das Verstörende in der Auseinandersetzung, nicht nur das Bedürfnis, jemanden zu verstehen, sondern auch denjenigen zu verstehen, der vielleicht ich gewesen wäre in dieser Zeit, und zu versuchen, ihn zu begreifen oder eine ähnliche Person, das Ich, das es dann gewesen wäre, zu begreifen. Das ist mir nicht gelungen.
    Ich habe aber sehr viele Dinge durchaus nachvollziehen können in diesen Kriegszeiten, in denen ja viele Wahlmöglichkeiten gar nicht herrschten. Was ich wirklich gar nicht begreifen kann, sind nicht mal so sehr die Verbrechen, die es in meiner Familie gegeben hat. Das ist schlimm genug. Aber wie damit umgegangen wurde in der Nachkriegszeit, wie das weggelogen wurde, wie es möglich war, das in meiner Familie komplett unter den Teppich zu kehren, das hat mich eigentlich am meisten beschäftigt und beeindruckt und erschüttert. Und das ist das, was ich auf jeden Fall vermeiden wollte, erst mal mit dem privaten Buch und dann auch mit meiner Arbeit, die ich ja dann in meinem Beruf als Autor und Regisseur ergriffen habe.
    Die Vergangenheit wurde sehr lebendig
    Ensminger: Das spiegelt aber auch ein wenig diesen Spagat wieder zwischen auf der einen Seite der unbestreitbaren Schuld, auf der anderen Seite dem Bedürfnis womöglich der nachfolgenden Generation alleine nach aufarbeitender Erinnerung. Ist das, was Sie gemacht haben, würden Sie sagen, etwas, was viel häufiger passieren müsste?
    Kraus: Ich kann ja nur für mich sprechen. Aber Spagat ist schon ein richtiges Wort, weil Spagat natürlich eine gewisse Zerrissenheit inkludiert, eine Anstrengung, die schmerzhaft ist. Ich kann keinen Spagat, das muss man üben. Und dann geschmeidiger zu werden gegenüber seiner eigenen Vergangenheit - geschmeidiger meine ich jetzt in der Hinsicht, sich dem zu beugen, was passiert ist -, das finde ich natürlich schon richtig, weil die meisten Leute gehen noch nicht mal in die Knie, geschweige machen schon gar nicht einen Spagat. Und ich glaube, was bei mir jedenfalls so war und in meiner Familie ist, dass die Tatsache, dass wir die Vergangenheit immer noch in uns tragen, sehr lebendig wurde.
    Ensminger: Es wird ja in den wenigsten Familien tatsächlich auch über diese Täterschaft gesprochen. Vieles ist unter einer Decke geblieben - bis heute. Wie wichtig wäre es denn, dass da auch im Sinne der nachfolgenden Generationen viel, viel mehr aufgearbeitet wird?
    Kraus: Ich glaube, darum geht es vor allem. Das ist ein großer Antrieb für meine Arbeit. Ich habe mich ja natürlich nicht nur mit dem Mikrokosmos meiner Familie beschäftigt in den letzten fast anderthalb Jahrzehnten, sondern auch mit dem Überbau, sozusagen mit dem Kosmos dieser Gesellschaft, in die meine Familie nur eingebettet ist. Der ändert sich natürlich und sollte sich auch insofern ändern, als dass das Lebendige der Auseinandersetzung mit Vergangenheit erhalten bleibt.
    Ich hatte ein Buch gelesen in der Recherche von Harald Welzer, ein sehr bekanntes Buch: "Opa war kein Nazi", das mich sehr beeindruckt hat, weil er herausgearbeitet hat, dass es in der Erinnerungskultur Deutschlands eine große Diskrepanz gibt zwischen einerseits eines Art fast schon Holocaust-Kults, einer oktroyierten Gedenkkultur politisch motivierten Erinnerns, dass aber auf der anderen Seite gar keines ist, weil die Deutschen sich mit der eigenen Verantwortung, der ganz individuellen Verantwortung ihrer Vorfahren gar nicht auseinandersetzen. Das geht extrem weit auseinander. Welzer hat beispielsweise gesagt, dass fast 90 Prozent der Akademiker meiner Generation behaupten, dass ihre Vorfahren gegen den Nationalsozialismus gewesen sind, und noch viel, viel mehr sagen, dass sie nicht mal Mitläufer waren.
    Dieses Buch hat mich darauf gebracht, dass es entscheidend ist, in die eigene Familie auch zu schauen, um sich dieser Verantwortung zu stellen. Und ich glaube, das wird sowieso stärker passieren - dadurch, dass einerseits sehr viele Familiengeschichten noch zu recherchieren sind, ja vielleicht auch Ihre eigene, und man auf der anderen Seite nicht mehr diese Verantwortung, dieses Loyalitätsbedürfnis spürt dem Großvater oder Vater gegenüber, weil er dann einfach schon ein Urgroßvater oder Ur-Urgroßvater ist.
    Vergangenheitsbewältigung ist die Aufgabe mehrerer Generationen
    Ensminger: "Unsere Wurzeln, unser Erbe" - so ist unsere Serie überschrieben in der Sendung "Information und Musik", und wir sprechen über das Erbe der NS-Zeit, der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Bei Ihnen ist er jetzt wieder im Familiengedächtnis, dank Ihrer Recherchen. Was kam Ihnen durch den Sinn, als Sie von Erbe gehört haben in der Anfrage? Was bleibt als Erbe?
    Kraus: Das, was einem überlassen wird, ob man es möchte oder nicht, was man übernehmen muss und womit man sich auseinandersetzen muss. Es gibt ja diesen Goethe-Spruch, natürlich hast du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen. Das ist ja von Goethe als etwas Positives ursprünglich gedacht gewesen. Aber in dem negativen Fall eben auch. Man kann sich das nicht abschneiden, man kann es nicht einfach bewältigen, die Schuld abtragen und in die Hände klatschen und sagen, jetzt haben wir das erledigt, sondern das ist schon eine Aufgabe von mehreren Generationen. Aber ich glaube ja an transgenerationelle Übertragung. Ich glaube ganz stark daran, weil ich das bei mir persönlich gemerkt habe, was es mit mir gemacht hatte, als ich herausbekam, was mein Großvater tatsächlich getan hat. Und sich dem zu stellen, daran zu erinnern und damit umzugehen, ohne sich jetzt davon in seinem Leben erdrücken zu lassen, ist etwas, glaube ich, was auch gesund sein kann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.