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NS-Zeit
Der "Muselmann", Hitler und der Mufti

Es ist ein kaum beachtetes und heikles Kapitel der NS-Forschung: In den Konzentrationslagern waren auch Muslime. Wer an ihr Schicksal erinnert, gerät schnell in den Verdacht, die Schoah relativieren zu wollen. Neue Erkenntnisse dazu sind jedoch wichtig, um das Verhältnis von Juden und Muslimen differenziert zu bewerten.

Von Hüseyin Topel | 23.10.2017
    Der Großmufti von Jerusalem, Mohammad Amin Al-Husseini, besucht am 13. Januar 1944 eine bosnische Freiwilligendivision der Waffen-SS.
    Von den Nationalsozialisten für außenpolitische Zwecke instrumentalisiert? Der Großmufti von Jerusalem 1944 (AFP PHOTO / AFP ARCHIVES)
    Dem nationalsozialistischen Regime lag eine tödliche Ideologie zugrunde. Wer als Feind identifiziert wurde - aus rassischen oder aus politischen Gründen – sollte verschwinden, "ausgemerzt" werden, wie es im NS-Jargon hieß. Schon 1933 entstanden Konzentrationslager, später wurden Vernichtungslager gebaut.
    "Wir haben nun in der Aufarbeitung der Geschichte in Deutschland mit Recht zunächst einmal das Augenmerk darauf gelegt, dass bei den sechs Millionen Menschen an allererster Stelle die Juden standen", erläutert Jörg Becker, emeritierter Professor der Politik- und Sozialwissenschaften an der Universität Gießen. Daniel Roters von der Universität Münster ergänzt:
    "Wichtig bleibt festzuhalten, dass das Verbrechen an den Juden, das in der Nazi-Zeit begangen wurde, ein singuläres Verbrechen war, singulär in der Menschheitsgeschichte".
    "C-a-f-f-e-e-, trink nicht so viel Kaffee"
    Auch andere Gruppen wurden Opfer der Verfolgung: Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, Sinti und Roma. Es dauerte lange, bis sie im öffentlichen Gedächtnis einen Platz bekamen. Eine Gruppe aber wird kaum beachtet, meint Jörg Becker: die Muslime. Wurden sie wegen ihrer Religionszugehörigkeit zu Opfern? Die wissenschaftliche Debatte darüber hat gerade erst begonnen.
    Jörg Becker: "Wer in der 'guten, alten' deutschen Tradition aufgewachsen ist, wird ein altes Kinderlied kennen, was zumindest vor ein oder zwei Generationen alle Kinder kannten. Dieses Lied heißt: c - a - f - f - e - e, trinkt nicht zu viel Kaffee, nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank. Sei doch kein Muselmann, der das nicht lassen kann."
    Die Muselmänner, die Muslime, werden hier als blasse, schwache und kranke Menschen bezeichnet. Das Befremdende ist nicht ihre Religion, sondern ihre äußere Erscheinung.
    "Und jetzt ist eine seltsame Sache in den deutschen KZ passiert. Dieser Begriff 'Muselmann' wurde in Auschwitz, oder dann auch in anderen KZ benutzt, für die KZ- Häftlinge, die so ausgemergelt waren und so krank und so schwach waren, wie in diesem Kinderlied, dass eigentlich nur noch die Gaskammer der letzte verbleibende Schritt war. Das heißt die Ausgemergelten, die ganz Kaputten, wurden in allen deutschen KZ Muselmänner genannt."
    Das könnte, so Jörg Becker, ein möglicher erster Zusammenhang sein, um die Opferperspektive in den KZ auch auf die Muslime zu erweitern. Daniel Roters, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Theologie an der Universität Münster, widerspricht.
    "Das ist eine Sache, die geht viel weiter zurück. Seit der Belagerung von Wien ist der Topos da des Türken. Also türkisch und muslimisch ist dann auch synonymisch, desjenigen, der sozusagen Europa erobern will. Wenn Sie sich angucken, in den 90er Jahren, in den 80er Jahren - die Bosniaken wurden dann plötzlich als Feinde ausgemacht von serbischen Ultranationalisten und die hat man dann auch als Türken bezeichnet. Einfach, um sie als außereuropäisch zu stilisieren, obwohl sie als Muslime schon 400 Jahre eine Tradition aufgebaut hatten und dort lebten. Der 'Muselmann' als Schimpfwort, Verballhornung des Muslims, das können wir viel länger zurückverfolgen."
    Debatte über die Rolle der Muslime
    Dennoch komme allmählich auch eine akademische Diskussion auf, die sich der Frage widmet, ob möglicherweise mehr Muslime unter den Opfern der Nazis waren, als bisher angenommen.
    Jörg Becker: "Das ist insofern spannend, weil relativ wenig bekannt ist, dass unter den Sinti und Roma, die in den KZ umgebracht wurden, Schätzungen sagen, dass die Hälfte der Roma und Sinti Muslime waren. Falls diese Schätzungen stimmen, dann läuft das darauf hinaus, dass wir von ungefähr 10.000 ermordeten Muslimen in deutschen KZ ausgehen."
    Das sei aber eine so große Zahl, dass man nicht länger sagen könne ...
    " … das ist nebenbei, das ist zu vernachlässigen."
    Daniel Roters vom ZIT an der Uni Münster bezweifelt die Aussagekraft solcher Zahlen.
    "Bei den Sinti und Roma ist das Problem, dass sie auch innerhalb der islamischen Gesellschaften keine eigenständige Identität haben. Ob sie Muslime waren oder nicht, war da egal. An was sie glaubten, war egal."
    Entscheidender als die Religion war für die Nazis die vermeintliche "Rasse", Roma und Sinti passten wie die Juden nicht zum Traum von der Herrschaft der "Herrenrasse". Dazu Daniel Roters:
    "Die Sinti und Roma waren präsent in Europa und das ist der Punkt - die Juden auch. Die Muslime waren nicht so homogen, vielleicht liegt es daran. Man konnte nicht genau sagen:'"War derjenige Muslim oder nicht? Oder woher kam der?' Also wenn sie sich angucken - nordafrikanische Muslime sind eben anders als türkische oder arabische. Das war schwierig festzustellen."
    Jenseits dieser Diskussionen bestimmt die Debatte über das Verhältnis von Muslimen und den Nazis ein ganz anderes Phänomen, erläutert Becker.
    "Wenn man mit Islamkritikern redet - und davon gibt es in Deutschland sehr, sehr viele, die gibt es insbesondere bei Atheisten, sie gibt es aber auch gerade in linken Kreisen -, dann kommt man ganz schnell auf folgendes Argumentationsmuster: Die Araber, Muslime im Nahen Osten und die Nazis haben sich sehr gemocht. Sofort kommt dann der Hinweis auf den gemeinsamen Antisemitismus."
    "Hitler brauchte die Muslime"
    In der Tat ist Antisemitismus unter Muslimen heute weit verbreitet. "Die Juden" eignen sich für viele Vertreter des politischen Islam als Projektionsfläche für diverse Verschwörungstheorien. Und dennoch, besteht ein wesentlicher Unterschied, meint Jörg Becker.
    "Wir wissen alle, dass diese Judenfeindlichkeit bei Arabern ein Produkt des 19. Jahrhunderts ist, damit eine ganz andere historische Dimension hat als in Deutschland. Also er ist qualitativ anderer Natur als der gewachsene Antisemitismus mit seinen sechs oder sieben hundert Jahren Vergangenheit in Deutschland. Auch das kapieren insbesondere viele Linke nicht, die einfach eine Gleichsetzung machen. Es sind zwei völlig unterschiedliche Phänomene."
    Diejenigen, die eine enge und flächendeckende Kooperation zwischen den Nazis und den Muslimen behaupten, stützen ihre Argumentation gerne auf Fotos, auf denen Adolf Hitler im Gespräch mit dem Großmufti von Jerusalem zu sehen ist. Dieser Großmufti hat auch dazu beigetragen, dass es eine bosnische Waffen-SS-Division unter dem Namen Handschar gab. All das trifft zu und ist auch historisch belegt, bestätigt Daniel Roters.
    Muslimische Freiwillige der Waffen-SS lesen 1943 ein Heft namens 'Islam und Judentum'.
    Muslimische Freiwillige der Waffen-SS lesen 1943 ein Heft namens 'Islam und Judentum'. (HO / AFP)
    "Die Geschichte mit dem Mufti von Jerusalem zeigte, dass Hitler ab einem gewissen Punkt die Muslime brauchte. Gerade die Araber also, gegen die Briten."
    Jörg Becker zufolge ist der Großmufti von Jerusalem allerdings einer von vielen Personen, die durch die Nazis für außenpolitische Zwecken instrumentalisiert wurden.
    "Und dann ist dieser Gedanke sehr viel wichtiger als der Hinweis darauf, dass muslimisches Gedankengut und Nazi-Gedankengut kompatibel seien. Das ist eine Lieblingsthese von vielen anti-islamischen Kräften, der Hinweis, das totalitäre der Nazi-Zeit ist genauso totalitär wie der Islam. Das kann nur dazu kommen, dass diese Argumentationsfigur, weil der Instrumentalisierungsgedanke völlig missachtet wird. Insofern ist das sogar ein Stückchen ekelhaft, den Islam eine gleiche Gedankenwelt zu unterstellen wie den Nazis, nur weil der Großmufti als Instrument missbraucht werden konnte."
    Dass es keine Freundschaft zwischen Hitler und dem Großmufti gab, leitet Jörg Becker auch aus den Aussagen ab, die von Hitler generell über Muslime überliefert sind.
    30. November 1941: Der Großmufti von Jerusalem, Mohammad Amin Al-Husseini, bei einem Treffen mit Adolf Hitler in Berlin.
    30. November 1941: Der Großmufti von Jerusalem, Mohammad Amin Al-Husseini, bei einem Treffen mit Adolf Hitler in Berlin. (HO / AFP)
    "Es gibt von Hitler dieses Zitat über die Araber: 'Lackierte Halbaffen, die die Knute spüren sollten'. Nach all dem was ich über die Nazi-Zeit gelesen habe denke ich, dass dieses Zitat sehr viel deutlicher die Meinung der Nazi-Führung widerspiegelt als die Tatsache, 'das sind unsere guten Freunde, nur weil sie auch Antisemiten waren.'"
    Heute steht fest: Unter den Kollaborateuren der Nazis hat es definitiv Muslime gegeben, doch als sich einige unter ihnen gegen die Nazis wandten, wurden sie ebenso vernichtet wie alle anderen auch. Die Forschungen zum Thema Holocaust sind noch bei weitem nicht abgeschlossen und die Frage, ob auch Muslime zu den Opfern der Nazis gezählt werden müssen, bringt im Umkehrschluss die Frage mit sich, ob die muslimischen Opfer der Nazis tatsächlich wegen ihrer Religion sterben mussten, oder ob es dieselben "rassischen" Gründe waren, wie bei allen anderen auch.