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NSU-Prozess
Erste Opfer des Keupstraßen-Anschlags sagen aus

Auch wenn die körperlichen Wunden verheilt sind: Den Tag der Explosion haben die Opfer des Nagelbombeanschlags in der Kölner Keupstraße immer noch vor Augen. Ab heute sagen sie im NSU-Prozess aus und beschreiben auch, wie der blutige Anschlag vom Juni 2004 ihr Leben verändert hat.

Von Tim Aßmann | 20.01.2015
    Vor diesem Frisörladen in der Keupstraße explodierte die Nagelbombe.
    Vor diesem Frisörladen in der Keupstraße explodierte am 9. Juni 2014 die Nagelbombe (picture-alliance/ dpa / Rolf Vennenbernd)
    Sandro D. war an jenem 9. Juni 2004 rein zufällig in der Keupstraße. Mit einem Freund hatte er einen Döner gegessen, auf dem Rückweg zum Auto kamen beide an dem Friseursalon in Haus Nummer 29 vorbei. Das abgestellte Fahrrad mit dem großen Koffer auf dem Gepäckträger nahm Sandro D. gar nicht wahr - auch nicht als der Koffer explodierte und mehr als 700 zehn Zentimeter lange Zimmermannsnägel wie Geschosse durch die Straße flogen.
    Da war auf einmal der Knall erinnerte sich Sandro D. nun als Zeuge. Es war, als wenn einem jemand die Beine wegreißt, schilderte der heute 34-Jährige den Moment der Explosion. Dann kann er sich an nicht mehr viel erinnern. Nägel bohrten sich in seinen Körper. Er erlitt Verbrennungen.
    "Das Schlimmste für mich war, dass ich nichts hören konnte," erinnert sich Sandro D. im Gerichtssaal. Er schrie den Namen seines Freundes, von dem er nicht wusste, ob er noch lebte oder tot war.
    Die Opfer leiden noch immer
    In den Jahren nach dem Anschlag, habe seinen Mandanten vor allem die Ungewissheit über die Täter schwer belastet, sagt Tobias Westkamp, der Anwalt von Sandro D.:
    "Es fällt einem, wenn man Opfer eines Attentates ist, zu dem sich niemand bekennt, sehr schwer, sich zu entängstigen, weil man eben nicht weiß, wer einem diese schwere Verletzung zugefügt hat und ob derjenige es nicht gegebenenfalls noch mal versucht."
    Zu den Verletzungen kamen die Verdächtigungen
    Sandro D. schilderte dem Gericht auch, wie schwer ihn die Ermittlungen belasteten. Seinen ebenfalls schwer verletzten Freund konnte er im Krankenhaus nicht sehen, weil die Ermittler die beiden jungen Männer verdächtigten, die Bombe selbst gelegt zu haben. Bis heute leidet Sandro D. unter den Folgen des Anschlags.
    Als er 2011 erfuhr, dass der NSU hinter der Tat steckte, musste er erneut in Psychotherapie. In den nächsten Tagen und Wochen will das Gericht alle 22 Opfer des Anschlags als Zeugen befragen. Auch den Ladenbesitzer Arif Sagdic, der bereits jetzt zum Prozess anreiste:
    "Die Atmosphäre hier macht mir Gänsehaut, die Unterstützung der Deutschen ist beeindruckend. Ich trauere, bin aber auch neugierig auf das Prozess-Ende. Jetzt gerade habe ich den Tag der Explosion vor Augen und es kommen mir die Tränen. Ich wünsche niemandem so ein Erlebnis. Seit 2004 kann ich nicht mehr fliegen, nicht mehr in engen Räumen und auch nicht mehr Aufzug fahren."
    Viele Fragen offen
    Die Opfer treiben bis heute viele Fragen um: Warum konzentrierte sich die Polizei auf einen kriminellen und nicht auf einen terroristischen Hintergrund? Handelte der NSU alleine oder gab es in Köln lokale Unterstützer. Opferanwalt Mehmet Daimagüler.
    "Wie kommen junge Menschen aus Zwickau darauf, ausgerechnet diese Straße zum Ziel eines Anschlags zu machen. Das deutet auf lokale Helfershelfer hin. Das sind Fragen, die wichtig sind und die gestellt werden müssen. Aber wir müssen auch realistisch bleiben. Nach all den Jahren, die vergangen sind, nach all den Zeugen, die es nicht mehr gibt, nach all den Akten, die verschwunden worden sind, muss man sagen, wird es schwierig die Wahrheit im vollen Umfang zu erfahren."
    Die Beweisaufnahme zum Fall Keupstraße wird das Gericht voraussichtlich mehrere Monate beschäftigen.