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NSU-Prozess
"Verantwortung staatlicher Stellen dringend aufklären"

Der NSU-Prozess geht in die Schlussphase, ein Urteil wird im Herbst erwartet. Linken-Politikerin Petra Pau hält den Fall damit noch lange nicht für aufgeklärt. Nicht nur sei die Mittäterschaft weiterer Personen ungeklärt - vor allem die Verantwortung des Verfassungsschutzes stehe noch infrage, sagte sie im Dlf.

Petra Pau im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 20.07.2017
    Petra Pau (Die Linke), Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
    Linken-Politikerin Petra Pau fordert im Dlf, dass auch nach einem Urteil weiter ermittelt wird, um die Unterstützerstrukturen aufzudecken. (dpa / picture alliance / Sebastian Kahnert)
    Pau war Obfrau der Linken in beiden NSU-Untersuchungsausschüssen. Sie erwartet, dass auch nach einem Urteil weiter ermittelt wird, um die Unterstützerstrukturen von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe aufzudecken. Pau kritisierte, dass sich die Bundesanwaltschaft früh auf das Trio konzentriert habe und deren Netzwerk nicht weiter in den Blick genommen habe.
    Sie forderte zudem die Auflösung des Verfassungsschutzes. Die V-Leute im Milieu des NSU müssten gewusst haben, wo er untergetaucht sei und dass er sich Waffen besorgen wollte. "Man kann nicht sagen, man habe nichts gewusst", so Pau. Sie habe den Eindruck, dass das BKA und der Generalbundesanwalt mit angezogener Handbremse ermittelt hätten, sobald V-Leute ins Spiel kamen. "Es kann nicht sein, dass der Schutz der V-Leute vor die Aufklärung von Straftaten geht". Das wäre ein schwerer Systemfehler.

    Das Interview in voller Länge:
    Ann-Kathrin Büüsker: Nach einer jahrelangen Mord- und Überfallserie wurde im November 2011 plötzlich offenbar, wer dahinter steckt: ein rechtsterroristisches Trio aus Zwickau, der Nationalsozialistische Untergrund. 15 Raubüberfälle, zehn Morde, zwei Bombenanschläge, Dutzende Verletzte. Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Die beiden Männer haben sich das Leben genommen, als die Beamten ihnen auf die Schliche kamen. Beate Zschäpe stellte sich am 8. November der Polizei.
    Sie ist es, die Hauptangeklagte des Verfahrens ist, das als NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht geführt wird. Gestern sollten dort eigentlich die Plädoyers der Bundesanwaltschaft beginnen. Soweit kam es dann nicht, die Verhandlung wurde gestern unterbrochen. Die Verteidiger wollen nämlich mit aller Macht durchsetzen, dass das Plädoyer mitgeschnitten wird als Audio, und darüber gibt es jetzt Streit. Der für heute angesetzte Prozesstag wurde auch direkt abgesagt; es geht erst nächste Woche weiter. Wieder einmal also Gezanke und Gezerre in diesem langen Prozess.
    Nichtsdestotrotz: Die Beweisaufnahme ist geschlossen und nun steht die Frage im Raum, was hat dieser Prozess zur Aufarbeitung der Verbrechen des NSU beigetragen? Sind die überhaupt aufgeklärt? Darüber möchte ich mit Petra Pau sprechen. Sie war Obfrau der Linken in beiden NSU-Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestages. Guten Morgen, Frau Pau.
    Petra Pau: Guten Morgen.
    Büüsker: Frau Pau, einer der wichtigsten Prozesse in Deutschland seit der Wiedervereinigung, und jetzt zanken die sich vor Gericht darüber, ob das Plädoyer als Audio mitgeschnitten werden darf. Wie unwürdig ist das?
    Pau: Nun gut. Ich verstehe, dass das Gericht das jetzt vertagt hat und noch mal in Ruhe berät, damit es auch gar keine Anfechtungsgründe gibt für das Urteil, was dann irgendwann sicherlich im Herbst gesprochen wird. Aber wichtiger ist, denke ich, was muss dieser Prozess leisten und was muss außerhalb des Gerichtes weitergehen, weil die drängendsten Fragen der Angehörigen, der Überlebenden des Nationalsozialistischen Untergrundes sind bis heute nicht beantwortet.
    "Ich erwarte, dass auch weiter ermittelt wird"
    Büüsker: Lassen Sie uns darauf näher schauen. Das Plädoyer haben wir gestern nicht gehört. Aber es ist ja schon klar: Die Bundesanwaltschaft, die geht davon aus, der NSU, das war nur ein Trio. Der Täterkern, das waren diese drei. Teilen Sie diese Einschätzung?
    Pau: Das teile ich nicht und im Übrigen nicht nur ich nicht, sondern alle Fraktionen im Bundestag. Wir haben kritisiert, dass die Bundesanwaltschaft das Netzwerk, welches das Trio die ganze Zeit getragen hat und gegebenenfalls auch heute noch unterwegs ist, nicht aufgeklärt wurde, auch nach dem 4.11.2011 in diese Richtung viel zu wenig ermittelt wurde. Allerdings hat das jetzt mit dem Prozess wenig zu tun, weil der hat die Aufgabe, Beate Zschäpe und die anderen Angeklagten ihrer Schuld zu überführen und einer gerechten Strafe zuzuführen. Ich erwarte, dass auch weiter ermittelt wird.
    Büüsker: Aber wenn gar nicht klar ist, dass der NSU wirklich nur diese drei waren, wie kann denn dann in diesem Prozess ein gerechtes Urteil erreicht werden?
    Pau: Für mich steht fest, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe und auch die jetzt Angeklagten sind in jedem Fall schuldig an den zehn Morden, inzwischen drei Bombenattentaten, die übrigens in Mordabsicht geschehen sind, und auch den Raubüberfällen. Vor Gericht wird individuelle Schuld nachgewiesen. Es geht jetzt um diese konkreten Personen.
    Wir haben aber am letzten Wochenende gerade gesehen, dass "Blood and Honour", das neonazistische Netzwerk, welches übrigens international wirkt, und auch der bewaffnete Arm "Combat 18" noch sehr, sehr munter ist, trotz Verbot. Im thüringischen Themar fand ein Neonazi-Konzert statt, wo zu Mord, Totschlag, zu Hass aufgehetzt wurde. Solche Konzerte haben auch die drei, später das Kerntrio des NSU bildenden Nazis besucht, aber auch viele ihrer Unterstützer und Sympathisanten. Das diente der Rekrutierung.
    Das heißt, hier muss weitergemacht werden, sowohl durch den Generalbundesanwalt, aber auch in den einzelnen Bundesländern. Es ist ja nicht so, dass wir jetzt in einer friedlichen Bundesrepublik leben würden, nachdem der NSU aufgeflogen ist. Wir haben täglich Gewalttaten, die durch Nazis auch aus diesem Umfeld verübt werden.
    Die Verantwortung staatlicher Stellen aufarbeiten
    Büüsker: Frau Pau, darüber können wir gleich noch genauer sprechen. Ich würde gerne noch mal einen Schritt zurück und wieder auf den Prozess gucken. Wenn die Bundesanwaltschaft sich jetzt darauf fokussiert, die persönliche individuelle Schuld von Beate Zschäpe festzustellen und sie zu verurteilen, wir aber wissen - beziehungsweise Sie als Fraktion des Bundestages festgestellt haben, der NSU, das waren nicht nur diese drei, dann ist das doch irgendwie kein ehrlicher Prozess.
    Pau: Doch. Wir müssen mal ganz genau hinschauen. Der Generalbundesanwalt hat sich sehr früh auf das Trio fokussiert. Das haben wir auch kritisiert. Das nimmt aber nichts an der Schuld derjenigen, die dort jetzt angeklagt sind. Es ist ja nicht bloß Beate Zschäpe, sondern das ist Herr Wohlleben, das ist Herr Emminger, der übrigens am Wochenende auch gerade wieder auffällig geworden ist auf diesem Konzert. Das sind Leute, die nichts anderes sind als auch militante Nazis, die diese Morde unterstützt haben.
    Das heißt aber, dass wir gleichzeitig genügend Leerstellen haben, die auch aufzuklären sind und dann hoffentlich anzuklagen. Der Generalbundesanwalt führt ja noch mindestens zwei weitere Verfahren gegen zum Teil durchaus namentlich bekannte, auch aus meiner Sicht Unterstützer des NSU, und ich erwarte - das haben wir übrigens auch im Untersuchungsausschuss sehr deutlich gemacht - dass diese nicht nach einem möglichen Urteil im Sande verlaufen, sondern bitte auch in Anklagen münden. So ist nun mal das System.
    Allerdings etwas anderes steht in München nicht vor Gericht, und das gehört dringend aufgearbeitet, nämlich die Verantwortung staatlicher Stellen, namentlich auch der Ämter für Verfassungsschutz. Weil das wissen wir inzwischen auch, dass mindestens 40 V-Leute der Ämter für Verfassungsschutz rund um das NSU-Kerntrio, aber auch in den Unterstützerstrukturen bis zum Schluss unterwegs waren.
    Das heißt, man kann nicht sagen, man hat nicht gewusst, wohin die drei 1998 abgetaucht sind, und man kann auch nicht sagen, man hat nicht gewusst, dass sie auf der Suche nach Waffen waren und ihre Ideologie, ihre menschenverachtende Ideologie auch in Taten umsetzen wollten. Da haben wir in den Ausschüssen sehr viel herausgefunden, das wurde in München überhaupt nicht behandelt.
    "Verfassungsschutz ist aufzulösen"
    Büüsker: Wie erklären Sie sich denn, dass dahingehend bislang so wenig Konsequenzen gezogen wurden?
    Pau: Mein Eindruck ist: Immer wenn V-Leute der Ämter für Verfassungsschutz ins Spiel kamen, hat der Generalbundesanwalt und damit dann das auch von ihm beauftragte und beaufsichtigte BKA nur mit angezogener Handbremse ermittelt. Es wirkt also der fatale Grundsatz fort, der schon in den Jahren, in denen der NSU im Untergrund war und mordete und raubte, galt: Nämlich Quellenschutz geht vor Aufklärung von Straftaten. Das ist ein Vorwurf, den mache ich den Innenministern sowohl der Länder als auch des Bundes, weil sie sind Dienstherren sowohl des Verfassungsschutzes als auch der Polizei.
    Und wenn sie im Zweifelsfall für den Schutz der V-Leute der Ämter für Verfassungsschutz oder wie in Hessen beispielsweise für den Schutz eines Beamten des Verfassungsschutzes, Herrn Temme, sich entscheiden, anstatt alle Informationen offenzulegen, die die Kriminalisten brauchen, um Straftaten aufzuklären, dann haben wir hier einen schweren Systemfehler, der verhindert, dass der Rechtsstaat seinen Aufgaben nachkommt. Das muss dringend geändert werden. Dazu haben wir im Bundestag nicht die Mehrheiten gefunden. CDU/CSU und SPD meinen, man könnte den Verfassungsschutz irgendwann besser kontrollieren. Wir meinen, er ist als Inlandsgeheimdienst aufzulösen. Bei den Grünen gibt es auch die Auffassung, dass man die V-Leute mindestens abschalten müsste.
    Büüsker: Frau Pau, Verfassungsschutz auflösen. Nun sind wir gerade in einer Situation, wo Deutschland immer mehr Extremismus erlebt. Das geht aus dem aktuellen Verfassungsschutzbericht hervor. Die Zahlen der Rechtsextremisten sind gestiegen, aber auch die Zahl der islamistischen Gefährder. Da kann man doch zu so einem Zeitpunkt nicht den Verfassungsschutz auflösen.
    Pau: Dann nennen Sie mir ein vernünftiges Beispiel, wo dieser Verfassungsschutz mit seinen Informationen dafür gesorgt hat, dass rechtzeitig Kriminaltaten verhindert wurden, oder aber wenigstens die entsprechenden Polizeien die notwendigen Informationen hinterher bekommen haben. Wir haben das im Fall des NSU, wir haben das aber auch im Fall der neuen rechtsterroristischen Zellen, die seit 2013 sich gebildet haben - Stichwort Freital. Wir haben es aber leider auch im Fall des Attentates auf den Weihnachtsmarkt in Berlin auf dem Breitscheidplatz.
    Mich hatte schon sehr, sehr, um es mal vorsichtig auszudrücken, verwundert, dass schon sehr schnell auch hier wieder ein V-Mann des Verfassungsschutzes, in dem Fall Nordrhein-Westfalen ins Spiel kam, der Kontakt zu Herrn Amri gehabt haben soll. Hier stimmt irgendetwas in den Strukturen nicht.
    Büüsker: Und was wäre die Alternative?
    Pau: Die Linke hat in ihrem Fraktionsvotum, was zum gemeinsamen Votum hinzugelegt wurde, im NSU-Untersuchungsausschuss den Vorschlag unterbreitet, den Verfassungsschutz als Geheimdienst aufzulösen, eine Institution zu schaffen, die alle öffentlich zugänglichen Informationen zu Demokratie gefährdenden Tendenzen sammelt, und eine Bundesstiftung, die ministeriumsfern dann die Politik, aber auch die Behörden berät, was zu tun ist, zu errichten. Genaueres kann man nachlesen.
    Büüsker: Frau Pau, ganz kurze Verständnisfrage von mir. Wäre das dann ein Dienst, der bundesübergreifend agiert, oder kommen wir da auch wieder auf föderale Länderebene?
    Pau: Wir kommen sowohl auf eine Bundesstiftung als auch auf föderale Strukturen. Im Übrigen bin ich sehr gespannt auf die Evaluation der Umstellung, sage ich mal vorsichtig, des Verfassungsschutzes im Bundesland Thüringen nach dem Regierungswechsel 2013. Immerhin einen ersten Schritt ist man dort gegangen, ohne dass ich gehört hätte, dass das nun zum Untergang des Bundeslandes Thüringen geführt hat. Man hat nämlich endlich die V-Leute, welche nichts anderes sind als militante Neonazis, die auch gewaltbereit sind, abgeschaltet. Das heißt, es geht schon, hier Reformen einzuleiten. Man muss den politischen Willen aufbringen.
    Büüsker: So die Einschätzung von Petra Pau. Sie ist Bundestagsabgeordnete für die Linken, Vizepräsidentin des Bundestages und saß als Obfrau der Linken in beiden NSU-Untersuchungsausschüssen. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen im Deutschlandfunk, Frau Pau.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.