Freitag, 29. März 2024

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Nützliche Gifttiere
Moleküle aus Spinnengift für die Medikamenten-Entwicklung

Spinnen - bei vielen Menschen löst ein Aufeinandertreffen mit diesen Tieren alles andere als Freude aus. Anders geht es Molekularbiologen unter anderem aus Gießen. Sie forschen zu Spinnengiften. Denn manche Bestandteile der Gifte könnten als Grundlage für neue Wirkstoffe dienen.

Tim Lüddecke im Gespräch mit Lennart Pyritz | 05.11.2021
Das Foto zeigt eine Trichternetzspinne.
Eine Trichternetzspinnen, deren Gift für Menschen gefährlich ist - aber in der Medizin helfen könnte. (AFP / The Australian Reptile Park)
Bisher wurden von etwa 50.000 bekannten Spinnenarten nur 150 hinsichtlich ihres Giftes untersucht. Das sei quasi nichts, sagte der Biochemiker und Zoologe Tim Lüddecke im Deutschlandfunk-Interview. Den Forschungsstand und eine Einschätzung dazu, welche Chancen die Gifte bieten, hat das Forscherteam rund um Lüddecke im Fachjournal Biological Reviews veröffentlicht. Er ist Leiter der Arbeitsgruppe "Animal Venomics" am Fraunhofer Institut für Molekularbiologe und Angewandte Ökologie in Gießen.
In der Medizin werde schon jetzt zu einer ganzen Reihe möglicher Anwendungsfelder geforscht - etwa die Behandlung nach Schlaganfällen, bei Schmerzen oder Epilepsie. In den Giften aller weltweit vorkommenden Spinnen könnten aber bis zu zehn Millionen neuartige Biomoleküle gefunden werden. Bis zu einem neuen Medikament ist es danach dann aber noch ein langer Weg. Denn laut Lüddecke dauert es einfach mindestens eine Dekade von der Entdeckung eines solchen passenden Moleküls bis hin zur Markteinführung.


Das Interview in voller Länge:
Lennart Pyritz: Aus welchen Bestandteilen bestehen Spinnengifte?
Tim Lüddecke: Spinnengifte sind wie die meisten aktiv giftigen Gifte hauptsächlich aus Proteinen und Peptiden, also aus Eiweißen zusammengesetzt. Es gibt zwar auch einige Ionen darin, gelegentlich Metallionen beispielsweise, Salze und auch einige organische Verbindungen und solche Acetylpolyamine beispielsweise, aber die überwiegende Mehrheit der Komponenten sind eben Peptide und Proteine. Das liegt einfach daran, dass sie aktiv sind, das heißt, die Gifte werden über die Beißwerkzeuge quasi beim Biss injiziert. Und das grenzt Spinnen von einer ganzen Reihe anderer Gifttiere ab, die passiv giftig sind – beispielsweise der Feuersalamander als Amphibium ist passiv giftig, ihm fehlt die Möglichkeit, aktiv das Gift zu injizieren. Bei solchen Tieren müssen die Moleküle viel, viel kleiner sein als solche Peptidbestandteile, weil sie sonst nicht effizient durch die Zellen und Gewebeschichten dringen können.

Millionen unentdeckte Giftmoleküle

Pyritz: Wie viele Gifte von Spinnen sind denn bislang schon eingehend analysiert worden, und dann auf der anderen Seite, wie viele Gifte sind da schätzungsweise noch unbekannt?
Lüddecke: Im Moment ist der Stand der Forschung der, dass derzeit etwa 50.000 Spinnen insgesamt weltweit bekannt sind. Von diesen sind 150 nur näher hinsichtlich ihres Giftes untersucht worden. Das Gift einer einzigen Spinne kann aber bis zu 3.000 Komponenten enthalten. Also wir schätzen als Spinnengiftforscher, dass bis zu zehn Millionen neuartige Biomoleküle in den Giften aller weltweit vorkommenden Spinnen gefunden werden können, und bisher sind davon lediglich 1.500 bekannt, also weit weniger als ein Prozent. Entsprechend, die überwiegende Mehrheit der Spinnentoxine sind unbekannt, und was wir uns in den letzten Jahren eigentlich eingestehen mussten als Community, ist, dass wir über Spinnengifte in ihrer Gesamtheit, der gesamten Bandbreite zwischen den Arten, eigentlich noch gar nichts wissen.

Hilfe bei Schmerzen oder Epilepsie

Pyritz: Es bestehen ja die Hoffnungen, Spinnengifte oder Komponenten daraus medizinisch oder für andere Anwendungen gezielt einzusetzen. Wo wird das bereits gemacht?
Lüddecke: In der medizinischen Forschung werden Spinnengifte so direkt noch nicht eingesetzt, es befinden sich jedoch einige Kandidaten gerade auf dem Weg dorthin und sind in klinischen Studien auf verschiedenen Ebenen. Beispielsweise gibt es das Gift der australischen Trichternetzspinne, darin ist ein Toxin enthalten, das sehr wirksam in der Behandlung von Hirnschäden nach Schlaganfällen zu sein scheint und auch gleichzeitig ein sehr vielversprechender Kandidat für die lange Organkonservierung von Herzen vor Herztransplantationen ist. Toxine aus Vogelspinnen beispielsweise werden aber auch gerade zu neuartigen Schmerzmitteln umfunktioniert, und tatsächlich ist ein Toxin aus einer afrikanischen Vogelspinne bekannt, das im Mausmodell zur Behandlung einer speziellen Form von Epilepsie eingesetzt wurde. Obwohl jetzt Spinnengifte so aktiv gerade erst auf dem Weg in die Anwendung sind, muss man aber sagen, dass einige Spinnentoxine, die isoliert worden sind, sehr spezifisch mit bestimmten Rezeptormolekülen interagieren, die bei wichtigen Krankheitsbildern wie chronischen Schmerzen oder Epilepsie eine Rolle spielen. Diese isolierten Toxine haben indirekt zur Entdeckung vieler Medikamente geführt, weil man diese kranken Moleküle so im Labor mit diesen Toxinen quasi manipulieren kann und Krankheitswege aufklärt. Ein dritter Anwendungsbereich, wo jetzt die ersten Moleküle vor wenigen Jahren auf den Markt gekommen sind, ist der Bereich der Pestizidforschung. Es gibt tatsächlich die ersten Spinnengift-abgeleiteten Pestizide, die sehr wirksam gegen Schadinsekten sind, aber beispielsweise Bienen nicht affektieren und im Gegensatz zu anderen Pestiziden sich in der Umwelt nicht anreichern, sondern abgebaut werden.

Spinnengifte sehr effizient

Pyritz: Jetzt haben wir über die einzelnen Komponenten, die einzelnen Toxine gesprochen, die in der medizinischen Forschung interessant sind, für die Spinnen ist aber gerade die Kombination, die Mischung unterschiedlicher Komponenten entscheidend.
Lüddecke: Viele Spinnentoxine sind alleine nur relativ schwach wirksam, werden aber dann durch zeitgleich mitinjizierte Toxine in ihrer Wirkung verstärkt. Es ist auch so, dass viele Spinnentoxine in ihren Wirkungen zeitlich ineinandergreifen. Häufig ist es beispielsweise so, dass erste recht schnell wirksame, aber dafür nicht langanhaltende Toxine eine schnelle Lähmung der Beute quasi bewerkstelligen, und während die Wirkung dieser im Laufe der Zeit nachlässt, greifen in einer zweiten Welle dann langsamer wirksame, aber dafür längerfristig wirksame Komponenten und gewährleisten die langfristige Lähmung des Beutetiers. Für die medizinische Forschung aber sind tatsächlich im Gegensatz dazu ja die einzelnen Komponenten spannend, weil einzelne Spinnengifte haben häufig ein sehr, sehr spezifisches Wirkungsspektrum und sind in dieser einen Funktion eben auch sehr effizient. Während dies bei der natürlich Funktion der Spinnengifte in der Beute ja nur ein kleiner Teilaspekt der Gesamtwirksamkeit ist, ist das für uns auf der Suche nach neuen Medikamenten aber absolut entscheidend.

Alter und Geschlecht der Spinne wichtig

Pyritz: Noch ein Ergebnis Ihrer Studie, die Giftgemische, die sind offenbar innerhalb einer Art auch individuell unterschiedlich, die können von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängen, zum Beispiel vom Alter, vom Lebensraum und vom Geschlecht der Spinnen. Was bedeutet das für die Erforschung dieser Cocktails, macht es das nicht unwahrscheinlich kompliziert?
Lüddecke: Ja, das bedeutet vor allem, dass wir auf der Suche nach neuen Medikamenten und neuen Molekülen insbesondere auch solche Faktoren berücksichtigen müssen. Wir müssen verschiedene Geschlechter, verschiedene Standorte, verschiedene Lebensstadien einfach berücksichtigen und diese Tiere auch einfach mitsammeln und von ihnen Gifte gewinnen, weil wenn wir das nicht tun, besteht die realistische Chance, dass wir einfach uns zu früh festlegen und so wichtige Schlüsselmoleküle, die vielleicht eine vielversprechende Anwendungsmöglichkeit haben, auch einfach verpassen.

Hoffnung auf neue Medikamente

Pyritz: Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen, werden wir in zehn oder 20 Jahren deutlich mehr über Spinnengifte wissen und sie dann auch tatsächlich häufiger in medizinischen Anwendungen einsetzen können?
Lüddecke: Ich denke, dass wir in zehn oder 20 Jahren deutlich mehr über Spinnengifte wissen. Das liegt daran, dass zum einen die Community das Fehlen von wichtigen Informationen erkannt hat und immer mehr Leute sich diesem Thema widmen. Das hat zum anderen auch damit zu tun, dass wir mit neusten chemischen analytischen Methoden ausgestattet sind, die es eben vor fünf bis zehn Jahren noch gar nicht gab. Also ich bin da sehr zuversichtlich. Weniger zuversichtlich bin ich jedoch dabei, dass wir in zehn bis 20 Jahren vielleicht auch mehr Medikamente auf dem Markt haben. Man muss sich klarmachen, es dauert mindestens eine Dekade von der Entdeckung eines Biomoleküls bis hin zur Markteinführung. Das heißt, selbst wenn wir jetzt ein Molekül entdecken, können wir froh sein, wenn es in zehn Jahren überhaupt auf den Markt kommt. Ich denke, noch weiter in der Zukunft wird es sicherlich weitere Medikamente aus Spinnengift geben, aber ich denke, zehn oder 20 Jahre sind da eher ein bisschen zu kurz.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.