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Null Zeitverschwendung

Jedes Jahr im Mai versammelt das bedeutendste deutsche Theaterfestival Theaterschaffende, Journalisten und Gäste aus der ganzen Welt in Berlin. Herzstück des Theatertreffens sind die zehn "bemerkenswertesten Inszenierungen", die alljährlich von einer unabhängigen Kritikerjury aus rund 400 Aufführungen der Saison ausgewählt werden. Karin Fischer war vor Ort.

Von Karin Fischer | 20.05.2012
    Das Theater kann gar nicht schlecht sein, wenn man sich durch die Touristenmassen und das übliche Berliner Bahnchaos (Schienenersatz- oder Pendelverkehr auf den wichtigsten S- und U-Bahnstrecken) erstmal dorthin gekämpft hat!

    Man nimmt dann sogar einen weiblichen "Macbeth" dankbar entgegen, nur weil man wegen ihm nur um-denken, nicht umsteigen muss.

    Karin Henkels Inszenierung aus München mit einer schmalen, schlotternden, jungenhaften Jana Schulz in der Titelrolle, war eine Art Albtraum, in dem nichts sicher, vielleicht nicht einmal real ist. Es gibt deshalb auch keine festen Identitäten im Stück, die tollen Schauspieler wechseln ständig ihre Rollen, doch die Idee hinter der Inszenierung - eine "Begehrensmaschine" anzuwerfen, die zum bekannten Blutrausch führt - kommt nicht über die Rampe; der Münchner "Macbeth" bleibt eine Kopfgeburt.

    Unerwartet körperbetont dagegen René Polleschs "Kill your darlings!" an der Berliner Volksbühne, mit einer echten Turnertruppe und Fabian Hinrichs in Dauerbewegung. Trotz anspielungsreicher Kritik an Kapitalismus, Unterhaltungsindustrie oder romantischem Liebeswahn fühlte man sich von diesem Pollesch eher unter Niveau unterhalten. Das konnte bei der zweiten Volksbühnen-Produktion, "Die (s)panische Fliege" nicht passieren, denn: Mehr drunter geht nicht. Regisseur Herbert Fritsch zieht alle Blödel- und Klamauk-Register, bedient niederste Bedürfnisse von Schadenfreude bis Fremdschämen, und beansprucht sämtliche Lachmuskeln, dauerhaft. Sophie Rois, Wolfram Koch und ChrisTine Urspruch bedienen die Komödie, wie sie sie aus den Angeln heben. Genial!

    Auch noch nie so gesehen im Theater: die Kinder-Truppe von "Gob Squad". In einer Art durchsichtigem Käfig altern sie vor unseren Augen, "Before your very eyes", im Schnelldurchlauf, werfen auch ein Schlaglicht auf die Vergeblichkeit von Kinder-Wünschen. Ein Theaterabend voller Behutsamkeit ohne jede Peinlichkeit oder Voyeurismus. Eine Sehnsuchtsmaschine.


    Und ein Abend, der zeigt, was Theaterkollektive jenseits der Stadttheater leisten. So wie das Quasi-Dokumentartheater "Hate Radio", eine Koproduktion des Berliner Hebbel am Ufer mit dem Institute for political murder: Regisseur Milo Rau thematisiert den fast schon wieder vergessenen Genozid an den Tutsi in Ruanda. Sprachrohr dieses organisierten Mordens war 1994 der Sender RTLM, der Popmusik spielte und öffentlich zum Völkermord aufrief. Jetzt noch einmal, im nachgebauten Radiostudio, umrahmt von Zeugenaussagen überlebender Opfer der Pogrome. Der Abend schockiert, obwohl er nicht auf Einfühlung setzt. Eine Aufarbeitungsmaschine.

    Distanziertheit und Anti-Einfühlungstheater: Die zwei Großproduktionen beim Theatertreffen spielten extrem gekonnt damit: "Faust I und II" von Nicolas Stemann, und "John Gabriel Borgmann", eine Produktion des Nordwind Festivals zusammen mit der Berliner Volksbühne. Die neun- und zwölf-Stunden Performances boten alles: Trash und Gewalt, feinsinnige Textarbeit und exorbitante Spielfreude, Langeweile, Textmissbrauch und Publikumsverarsche, und vor allem: viel verrückte Poesie und großen Kunstwillen. Man fühlte sich ebenso ausgesetzt wie eingemeindet in diesen Stücken, weil man extreme Erfahrungen machte, auch mit sich selber. Eine Zumutungsmaschine.

    Und schließlich, zum Schluss, das Glanzstück, ein Gegenentwurf. Alvis Hermanis, der Vergangenheitsforscher, und sein "Platonov" von der Wiener Burg. Mit diesem hyperrealistischen Entwurf einer vergangenen russischen Gesellschaft, ausgepinselt bis ins allerkleinste Detail in einem Bühnenbild voller Patina, entsteht eine andere historische Wahrheit. Die Wahrheit über die Verbrauchtheit dieser Gesellschaft, über ihre Widersprüche, über zaghafte Generationenkonflikte, über die Sehnsucht nach dem Kick, dem Ausbruch aus der Langeweile. Ein besoffener Martin Wuttke als Platonov wird zur Projektionsfolie für diese abgestorbenen Wünsche. Dörte Lyssewski, Johanna Wokalek, Peter Simonischek, Michael König – alle ein Traum. Eine Glücksmaschine.

    Dieses Theatertreffen war aufwühlend, anstrengend, schön und manchmal auch nervtötend – und nicht nur wegen des Berliner Nahverkehrs.