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Nur ein verzichtbarer Luxus?

Die Kulturetats vieler Kommunen machen meist nur bis zu drei Prozent des Gesamthaushalts aus. Trotzdem beginnen Kürzungsdiskussionen oft bei der Kultur. Die Wirtschaftskrise hat die Debatte um die Notwendigkeit von Kultureinrichtungen wie Stadttheater erneut angeheizt.

Von Dina Netz und Stefan Keim | 18.08.2009
    "Das Theater ist das Wichtigste auf der Welt, denn dort zeigt man den Leuten, wie sie sein könnten und wie sie sich danach sehnen zu sein, obwohl sie sich nicht trauen, und wie sie sind."
    Das sagt Mumin Emma in Tove Janssons Kinderbuch "Sturm im Mumintal". Theater das Wichtigste auf der Welt? Wenn man sich ansieht, wie es im Moment den Stadt- und Staatstheatern an den Kragen geht, kommt einem das vor wie eben bloß ein schöner Traum aus einem Kinderbuch.

    Vielerorts sind die öffentlich geförderten Theater von Budgetkürzungen oder sogar Schließung bedroht.

    Freilich ist die Spardiskussion nicht neu - da die Stadttheater häufig bis zur Hälfte eines kommunalen Kulturetats benötigen, sind sie Haushaltspolitikern immer schon ein Dorn im Auge. "Theater ist Krise", wird der Dramatiker Heiner Müller gern zitiert - und damit hat er durchaus nicht nur auf die Notwendigkeit der ästhetischen Selbst-Be- und Hinterfragung angespielt, sondern auch auf das permanente Reden übers Geld. Die prominentesten Beispiele aus den vergangenen Jahren sind die Debatte um die drei Berliner Opernhäuser, die Schließung des Berliner Schillertheaters oder die Streichung der Tanzsparte in Bonn.

    Aber die Finanzkrise hat die Spardiskussion natürlich neu angeheizt, und natürlich stehen die Stadttheater jetzt besonders in den ärmeren Regionen wieder oder neu infrage. Rolf Bolwin, geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins, warnt allerdings davor zu glauben, man könne unendlich weiter kürzen:

    "Wir haben in Deutschland in den Theatern und Orchestern in den letzten 15 Jahren von 45.000 Arbeitsplätzen fast 7000 abgebaut, wir haben heute noch etwa 38.000. Und da sehen Sie: An der Kultur ist das Sparen nicht vorübergegangen und wird auch nicht vorübergehen. Nur noch mal 8000 Arbeitsplätze abbauen können wir in der gesamten Bundesrepublik nicht, ohne dass das Theater- und das Orchesterleben Schaden nehmen."

    Die Kulturetats vieler Kommunen machen nur zwischen Nullkomma-Irgendwas und drei Prozent des Gesamthaushalts aus. Trotzdem beginnen Kürzungsdiskussionen oft bei der Kultur, denn diese gehört in allen deutschen Bundesländern bis auf Sachsen zu den sogenannten "freiwilligen Leistungen" - wie auch die Zuschüsse für Sport, Bibliotheken, Vereine. Und da kann man rein bürokratisch leichter ran als an die Ausgaben für Pflichtaufgaben wie Abfallbeseitigung, Straßenreinigung oder Unterhalt von Schulen und Kindergärten.

    Besonders in Nordrhein-Westfalen ist die Diskussion über Kürzungen bei den Theatern in den vergangenen Monaten deutlich vernehmbar, denn vielen Kommunen sind von den Regierungspräsidien Nothaushalte auferlegt worden. Die Theaterlandschaft in Nordrhein-Westfalen betrifft das in besonderer Weise:

    "Nordrhein-Westfalen ist eine der größten Theaterlandschaften - ich glaube, man kann sagen: der Welt. Mit diesem großen Ballungsraum Ruhrgebiet und dann den großen Städten wie Düsseldorf, Köln, aber auch kleineren Standorten wie Bielefeld, Münster, Aachen, die etwas entlegener liegen. So etwas gibt es, glaube ich, in der Welt kein zweites Mal."
    Genau diese Theaterdichte führt aber jetzt dazu, dass einige Bühnen um ihr Leben kämpfen. Oberhausen ist das prominenteste Beispiel. Der neue Intendant Peter Carp hat mit einem mutigen Spielplan und Regisseuren mit ungewöhnlichen Handschriften überregionale Aufmerksamkeit erregt. Aber die Stadt ist überschuldet. Der Gesamtwert des kommunalen Besitzes ist geringer als die Summe der Verbindlichkeiten. Deshalb sind heftige Einsparungen nötig, auch beim Theater. Kulturdezernent Apostolos Tsalastras:

    "Das hat für das Theater bedeutet, dass der städtische Zuschuss, der ungefähr 8,4 Millionen Euro ausmacht, um 750.000 Euro gekürzt werden muss im ersten Jahr. Und im zweiten Jahr und im dritten Jahr noch einmal um 250.000 gekürzt wird."
    Das bedeutet heftige Einschnitte beim Oberhausener Schauspielhaus. Stellenkürzungen bereits in der kommenden Spielzeit und wohl auch ein, zwei Premieren weniger in der nahen Zukunft sind die Folge. Doch dem Innenministerium und der Bezirksregierung, den vorgesetzten Instanzen der Kommune, reichte das offenbar noch nicht. An Oberhausen, das als erste Stadt Nordrhein-Westfalens in die Überschuldung geraten war, sollte ein Exempel statuiert werden, quasi als Warnschuss für die anderen Kommunen. Das knallharte Sparkonzept, das von oben verordnet wurde, hätte nicht nur die Schließung des Theaters bedeutet, sondern das Ende aller städtischen Kultureinrichtungen. Auf den Schock folgte zunächst Stille, monatelang gab es keine neuen Informationen. Das Damoklesschwert gehörte bald zum Alltag. Immerhin scheint das Unheil zumindest teilweise abgewendet. Heute sieht es so aus, als ob das Theater - natürlich mit den beschlossenen Kürzungen - erhalten bliebe.

    "Das mag daran liegen, dass wir jetzt Kommunalwahl haben. Das mag daran liegen, dass im nächsten Jahr Landtagswahlen sind. Aber ich glaub daran, dass die Finanzlage der Kommunen insgesamt schwierig ist und nicht nur der Stadt Oberhausen. Die Forderung, die zu Beginn der Diskussion vom Innenministerium gestellt worden sind, die Kulturausgaben drastisch zu kürzen, dass die jetzt zu einem Flächenbrand führen würde und sich jetzt im Augenblick keiner traut, einen so radikalen Vorschlag zu machen"
    Im Fall Oberhausen war Aussitzen die beste Taktik. Denn die Stadt ist nun nicht mehr die einzige überschuldete Kommune Nordrhein-Westfalens. Hagen hat bereits das gleiche Schicksal ereilt, in absehbarer Zeit werden Wuppertal, Duisburg, Mülheim und andere folgen. In allen diesen Städten die Theater, Museen, Orchester und Bibliotheken zu schließen, und das noch zu einer Zeit, in der das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt firmiert, das wäre der von Kulturdezernent Tsalastras erwähnte "Flächenbrand". Und sollte die Bezirks- oder Landesregierung versuchen, nur eine einzelne Stadt zur Schließung ihres Theaters zu zwingen, könnte die Kommune dagegen klagen. Weil sie dann ungleich behandelt würde.
    In Oberhausen arbeiten Theaterintendant und Kulturdezernent eng zusammen. Es besteht ein klarer Mehrheitswille in der Politik, das Theater zu erhalten. Das ist nicht überall so. In Hagen, der zweiten bereits heute überschuldeten Kommune Nordrhein-Westfalens, herrscht seit einigen Jahren Chaos in der Kulturpolitik. Immer wieder stehen Forderungen im Raum, das Theater müsse kurzfristig Millionen einsparen. Was aufgrund der bestehenden Verträge nur im künstlerischen Etat möglich ist. Und der ist durch Kürzungen in der Vergangenheit bereits so gering, dass es keinen Spielraum mehr gibt. Trotzdem hat der Stadtrat nun beschlossen, dass Hagens Theater, ein Zweispartenhaus mit Oper und Ballett, noch einmal 800.000 Euro sparen soll. Intendant Norbert Hilchenbach:

    "Insgesamt ist das eine Katastrophe, natürlich. Nachdem wir jetzt, 2007/2008, fast eine Million gespart haben, und dann noch mal 800.000 Euro sparen sollen, das ist ja mehr als zehn Prozent des Gesamtetats, der dann wegfällt."
    Allerdings tritt diese Kürzung erst in fünf Jahren, 2014, in Kraft. Bis dahin ist der Bestand des Theaters auf niedrigem finanziellem Niveau gesichert. Doch die Folgen des Sparprogramms sind bereits spürbar: Schon jetzt soll das Haus auf eine Premiere pro Jahr verzichten.

    Die Stadt und der mächtige Regierungspräsident, der sämtliche Ausgaben genehmigen muss, haben für Hagens Theater einen Etat vorgesehen, mit dem das Haus ab 2014 zur Gastspielbühne ohne eigenes Ensemble würde. Viele Politiker fänden das sogar ganz in Ordnung.

    "Man kann sicherlich gute Aufführungen bekommen, wenn man Gastierbühnen einlädt. Nur was dann völlig hinten runter fällt, ist all das, was Theater wie wir neben dem eigentlichen Spielbetrieb an Kraft und Einwirkung auf das gesamte städtische, soziale, Bildungsleben, das ästhetische Leben einer Kommune haben. Wenn wir nicht mehr da sind, ich will jetzt nicht angeben, wird das, was an wenigen Perspektiven entwickelt wird, auch nicht mehr da sein."
    Für Hagens Intendant Norbert Hilchenbach steht fest, dass eine Lösung des Problems am Landesanteil bei den Bühnenetats hängt. Der ist nämlich in fast allen Ländern um ein Vielfaches höher als in Nordrhein-Westfalen. Sollte sich das nicht ändern, sieht Hilchenbach mittelfristig keine Überlebenschance für die Stadttheater.

    "Wir wissen alle, Theater ist personalintensiv. Wir haben bis zum Gehtnichtmehr gekürzt. Alles, was jetzt kommt, zerstört einfach dieses Theater."
    Ein anderer Lösungsansatz ist die Fusion von Bühnen. Doch die hilft nur in seltenen Fällen. Das Hagener Orchester hat sich von der Südwestfälischen Philharmonie in Siegen wieder getrennt, ebenso wie vor Jahren die Theater in Wuppertal und Gelsenkirchen. Es gab viele Detail-Probleme, die Einsparungen waren viel geringer als erhofft, und die Bürger verloren die Identifikation mit ihren Ensembles. Sogar das Vorzeigefusionstheater der Städte Krefeld und Mönchengladbach, das seit über 50 Jahren gut funktioniert, stand vor einigen Monaten auf der Kippe, weil Mönchengladbach die Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst nicht zahlen wollte. Da der Fusionsvertrag vorschreibt, dass jede Kommune 50 Prozent des Theateretats trägt, hätte auch Krefeld die höheren Kosten nicht ausgleichen dürfen. Damit wäre kein Geld mehr für Gäste, Regisseure und Bühnenbilder da gewesen, und die kommende Saison hätte nur aus Wiederaufnahmen bestanden.

    Generalintendant Jens Pesel, der 2010 in Rente geht, ist ein besonders erfahrener, ausgleichender Theaterleiter. Doch diesmal hat sogar er die Fassung verloren.

    "Mich hat das enorm aufgeregt, die Diskussion um das Theater, um den Etat. Ich habe immer gedacht, das sei eine Selbstverständlichkeit, die ja auch allen anderen, die im öffentlichen Dienst tätig sind, gewährt wird. Vor allem bin ich überrascht über das Ausmaß der Halbwahrheiten, der Verdrehtheiten, der mangelnden Informationen, der Demagogie, die in diese Diskussionen hinein gebracht worden ist."
    Der Mönchengladbacher Stadtrat hatte schließlich doch ein Einsehen und zahlt nun die Tariferhöhungen. Unter anderem, weil die Bürger für ihr Theater kämpften und demonstrierten.
    Auch im Osten Deutschlands wird jetzt viel über Kürzungen bei den Theatern geredet - kein Wunder, auch dort sind schließlich viele Städte klamm. Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass sich die westdeutschen Bühnen in 40 Jahren Bundesrepublik an die Nachfrage angepasst haben. Hier gab es die eine oder andere Spartenschließung und Ensembleverkleinerung. In Ostdeutschland hingegen begann dieser Prozess erst mit der Wiedervereinigung, erklärt Rolf Bolwin vom Deutschen Bühnenverein:

    "Man hat dann festgestellt, dass die Betriebe, die an diesen Standorten existieren, im Vergleich zu dem, was es an Nachfrage gibt, relativ groß sind, auch im Vergleich zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der jeweiligen Kommune, auch im Vergleich zur Leistungsfähigkeit des jeweiligen Bundeslandes, die sich ja in den neuen Ländern viel stärker engagieren für die kommunalen Kultureinrichtungen. Und deswegen haben wir dort eine besondere Situation, die teilweise zum Abschmelzen der Betriebe geführt hat, teilweise zu Fusionen geführt hat, teilweise zu Haustarifverträgen geführt hat, mit denen man die Vergütungen ein Stück weit runtergefahren hat, manchmal sogar auf ein auch im Vergleich mit den alten Bundesländern vertretbares Niveau."
    Die Theater waren also schon zu Wendezeiten zu groß - hinzu kommt die stetige Bevölkerungsabwanderung aus vielen ostdeutschen Städten. Was das bedeutet, zeigen einige Beispiele aus den vergangenen Jahren: Frankfurt an der Oder musste wegen des Zusammenschlusses zum Theater- und Konzertverbund Brandenburg sein Stadttheater aufgeben, und Potsdam büßte sein Musiktheater ein. Mecklenburg-Vorpommern wiederum hat eine Theater-Strukturreform beschlossen, die ab 2010 die Einspartenhäuser wie das in Anklam zur Disposition stellt, aus insgesamt vier Orchestern sollen zwei werden und die Mehrspartenhäuser fusionieren. Eines der prominentesten Beispiele unter den ostdeutschen Städten, die um ihr Theater kämpfen, ist Weimar. Der rührige Intendant Stefan Märki hat dort alles gegeben, damit das Nationaltheater nicht mit der Erfurter Oper fusioniert wird und das sogenannte "Weimarer Modell" erfunden: die Umwandlung des Theaters in eine GmbH und einen Haustarifvertrag, der unter den Vereinbarungen des Öffentlichen Dienstes bleibt - inzwischen ein gängiges Modell an vielen ostdeutschen Bühnen.
    Auch das Theater Chemnitz, eines der wenigen Fünfspartenhäuser mit Schauspiel, Oper, Ballett, Figuren-, Kinder- und Jugendtheater, arbeitet mit einem Haustarifvertrag. Dieser hätte der Bühne allerdings kürzlich beinahe das Genick gebrochen. Da der alte Haustarifvertrag auslief, hätte das Theater Chemnitz automatisch zum Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes zurückkehren müssen. Damit tat sich aber plötzlich ein Finanzierungsloch von mehr als vier Millionen Euro jährlich auf. Ein Jahr lang verhandelten daraufhin Theater, Stadt und Gewerkschaften heftig, Stellenstreichungen standen im Raum - vor allem beim Orchester, das damit seinen A-Status verloren hätte. Kurz vor der Sommerpause wurde nun endlich ein neuer Haustarifvertrag unterschrieben - zur selben Zeit wurde das Orchester übrigens, wie zur Bestätigung, mit einem "Echo Klassik" ausgezeichnet. Der neue Vertrag sieht nun vor, dass die Mitarbeiter auf ihr 13. Monatsgehalt, ihr Urlaubsgeld und die Tarifanhebung für 2009 verzichten.

    Das ist zwar schmerzlich, aber immerhin muss niemand gehen. Obwohl sein Theater also nur mit einem solchen Kompromiss weiterarbeiten kann, findet der Generalintendant der Städtischen Theater Chemnitz, Bernhard Helmich, dass die Menschen in Ostdeutschland stärker hinter ihren Theatern stehen als im Westen:

    "Ich habe, als ich zum Beispiel von Dortmund nach Leipzig gekommen bin, das Gefühl gehabt, ich muss mich beim Bäcker nicht mehr dafür entschuldigen, dass ich Steuergelder verbrate. Es gibt hier ein wirklich starkes Bewusstsein für künstlerische Identität, mit der Theater und Orchester deutlich zu tun haben. Das ist in der Bevölkerung so, und das ist auch in der Politik so."
    Das mag in Chemnitz für die Bäcker gelten, die Haltung der Stadtverwaltung ist weniger eindeutig. Diesen Schluss ergeben zumindest unsere Recherchen. Der Chemnitzer Kämmerer etwa ließ dem Deutschlandfunk durch seine Sekretärin "kein Interesse" an einem Interview über die Situation des Theaters signalisieren. Auch die Pressestelle der Stadt Chemnitz antwortete lediglich schriftlich auf die Frage, weshalb die Theaterleute nach Haustarifverträgen entlohnt und somit schlechter bezahlt werden als die anderen städtischen Angestellten. Aus einer E-Mail von Pressesprecherin Katja Uhlemann:

    "Wir sparen sicher nichts, sondern wir leisten uns bewusst ein Fünfspartenhaus mit einem erstklassigen A-Orchester - das ist für Städte unserer Größe nicht selbstverständlich. Wenn Sie zum Beispiel einen Blick nach Halle werfen: Dort ist zur gleichen Zeit, da hier die Entscheidung über eine Verlängerung des Haustarifes fiel, die Belegschaft am Theater drastisch reduziert worden. Ich will auch sicher nicht Äpfel und Birnen vergleichen, aber angesichts zum Beispiel eines Sanierungsstaus an Schulen, der mehrere Hundert Millionen Euro beträgt, ist die Entscheidung, den Zuschuss fürs Theater aufzustocken, ein deutliches Bekenntnis von Verwaltung und Stadtrat zum Theater gewesen."
    Der Chemnitzer Kämmerer hingegen hatte in den Verhandlungen unter anderem argumentiert, man könne doch nicht weiter ein Theater so stark subventionieren, dem die Besucher davonlaufen. Generalintendant Bernhard Helmich will die sinkenden Zuschauerzahlen auch gar nicht schönreden, führt sie aber auf ein typisch ostdeutsches Strukturproblem zurück:

    "Die Geschichte mit dem Besucherrückgang ist in der Tat etwas sehr Langsames und Schleichendes und etwas, das sich seit 1990 in ganz kleinen Schritten vollzieht. Das ist natürlich etwas, das mit dem Osten zu tun hat. Wenn Sie sich Chemnitz anschauen, das ist eine Stadt, die hat 250.000 Einwohner, die hatte zur Wende 400.000 Einwohner. Es ist also eine Stadt, die sehr stark von älteren Menschen geprägt ist, und man steht da vor einer Grundsatzentscheidung. Man muss sich fragen: Investiert man jetzt bewusst in Dinge, die Leben in eine Stadt bringen, die vielleicht auch dazu taugen, für neue Menschen eine solche Stadt attraktiv zu machen? Oder geht man mit dem Holzhammer um und sagt: Da sind gar nicht mehr so viele Menschen, also bieten wir auch gar nicht mehr so viel an."
    Helmich sieht gewaltige Umbrüche auf die deutsche Theaterlandschaft zukommen:

    "Ich denke, dass wir zum einen, so sehr das gerade tabuisiert wird, gerade in einer Theaterlandschaft wie der sächsischen, darüber werden nachdenken müssen, inwieweit die vielen kleinen und kleinsten Theater, die im Gegensatz zu uns nun wirklich elementar bei solchen Haustarifdebatten in ihrer Existenz bedroht werden, inwieweit die doch auch stärker zusammenarbeiten müssten, inwieweit es nicht möglich wäre, da die Kräfte zu bündeln. Ich denke auch, und auch das ist für viele noch ein Tabu, dass dieses Prinzip des Ensemble-Theaters, das von September bis Juli mit einem festen Ensemble und einem möglichst großen Spielplan spielt, reformiert werden muss."
    Wie der Chemnitzer Generalintendant Bernhard Helmich ist auch Rolf Bolwin vom Deutschen Bühnenverein offen für Veränderungen. So findet er durchaus, dass sich die Theater auch ökonomisch legitimieren müssen, über ihre Zuschauerzahlen und über wirtschaftliches Arbeiten. Aber ihn stört, dass viele Politiker die deutsche Theaterlandschaft ausschließlich anhand von Zahlenkolonnen betrachten - zumal die Kulturetats der meisten Kommunen kaum der Rede wert sind: Insgesamt werden in Deutschland etwa zwei Milliarden Euro öffentliche Gelder für die Theater und Orchester ausgegeben, also gerade mal 0,2 Prozent aller öffentlichen Budgets. Und auch der Wirtschaftsfaktor Kultur findet seiner Meinung nach zu wenig Beachtung. Dabei lohnt hier ein näherer Blick: Rechnet man nämlich privat und öffentlich geförderte Kultur zusammen, ist sie die drittgrößte Branche in Deutschland - noch dazu eine mit Arbeitsplatzgarantie:

    "Dies ist eine Branche mit Arbeitsplätzen, die man nicht ins Ausland verlagern kann. Das ist alles im weitesten Sinne Dienstleistungsbereich, das sind Leistungen, die sprachgebunden sind, das heißt, sie müssen in Deutschland erbracht werden. Eine Möglichkeit, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, wie das zum Beispiel Nokia gemacht hat, gibt es beim Theater nicht, bei einer Rundfunkanstalt nicht, bei einer Zeitung nicht, beim Fernsehen nicht. Alles muss im Lande geschehen, und ich glaube, das ist, wirtschaftlich gesehen, ein ganz wichtiger Faktor."