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Nur Vages erfährt man über den Menschen Ho

Der vietnamesische Staatspräsident Ho Chi Minh gehört zu den Ikonen der 68er-Bewegung. Die linken Studenten riefen seinen Namen auf ihrem Marsch durch die Straßen. Martin Großheim versucht in seinem neuen Buch das Leben und die Legende zu trennen.

Von Henry Bernhard | 09.01.2012
    Die Studenten, die seinen Namen skandierten, wussten recht wenig von ihm. Wer war dieser Mann, der in der Illegalität und als Autor 50 oder gar 100 Pseudonyme benutzt haben soll, eines davon Ho Chi Minh? Der Autor Martin Großheim ist Südostasienwissenschaftler und versucht, die reale Person unter der Ikone Ho Chi Minh freizulegen. Sein Vater, ein Dorflehrer, lehrte dem 1890 in einem Dorf in Zentralvietnam Geborenen frühzeitig die konfuzianischen Klassiker und einen Patriotismus, der sich zwangsläufig gegen die französische Kolonialherrschaft richten musste. Mit 21 Jahren heuerte Ho Chi Minh auf einem französischen Schiff als Koch an, um nach Europa zu gelangen und dort - so zumindest seine spätere eigene Interpretation - die Kolonialmacht und deren Erfolg verstehen und später bekämpfen zu lernen.

    Der junge Nguyen Tat Thanh des Jahres 1911 war deutlich von der Anfang des 20. Jahrhunderts propagierten Strömung geleitet, die die französischen Versprechungen einer mission civilisatrice beim Wort nehmen wollte, um sich die positiven Seiten der französischen Kultur zum Nutzen des eigenen Landes anzueignen.

    Schreibt der Autor. Er zeichnet den Weg des jungen Mannes durch Frankreich, London und die junge Sowjetunion nach. Viele verlässliche Quellen gibt es dafür nicht. Die französische Kriminalpolizei jedoch interessierte sich spätestens 1919 für Ho Chi Minh, als der, inzwischen der Sozialistischen Partei Frankreichs beigetreten, sich auf der Versailler Friedenskonferenz erdreistete, Woodrow Wilsons Thesen vom Selbstbestimmungsrecht der Völker beim Wort zu nehmen und eine Petition einzureichen, die eigene Rechte für die Bürger Indochinas forderte. Fortan stand Ho weltweit unter Bewachung. Noch häufiger sollte er nun seine Identität und seinen Namen wechseln. Ho schrieb in Paris für linke Zeitungen, kritisierte in Moskau vor der kommunistischen Internationale die Ignoranz der Kommunisten gegenüber dem Kolonialismus, bildete in China vietnamesische Kader aus, übersetzte kommunistische Klassiker ins Vietnamesische. Mehr recht als schlecht beschäftigte und bezahlte ihn die kommunistische Internationale, mitunter zog ihn Moskau für Jahre aus dem politischen Verkehr. Nur Vages erfahren wir über den Menschen Ho, der zwar mit seinem Image des idealen bescheidenen, vorsichtigen und vorausschauenden Revolutionärs spielte, es aber auch einlöste.

    Der "konfuzianische Anstrich" war mehr als reine Taktik. Gerade der spätere Ho Chi Minh verkörperte mit seiner Bescheidenheit und Güte die typischen konfuzianischen Eigenschaften, die er immer wieder von den Kadern, den "neuen Mandarinen" des unabhängigen, modernen Vietnam, einforderte.

    Zwar stellte sich Ho in den Dienst der Komintern unter Moskaus Diktat, zwar folgte er treu deren Aufträgen, zwar gründete er die Kommunistische Partei Vietnams - dennoch ließ er sich von den wechselnden Strömungen der Moskauer, Pekinger und Hanoier Parteilinien nicht von seinem Gedanken der Einheitsfront aller Patrioten, des Ausgleichs, des friedlichen Verhandelns abbringen. Warum er dennoch den stalinistischen Partei-"Säuberungen" entging, kann auch der Autor nicht klären. Er vermutet, dass Vietnam zu unbedeutend für die Moskauer Ideologen war. 1941 kehrte Ho Chi Minh nach 30-jährigem Exil in Europa und China nach Vietnam zurück. Ein misslungener kommunistischer Putsch hatte praktisch die gesamte Führung der vietnamesischen Kommunisten in den Gefängnissen der Franzosen oder vor deren Erschießungskommandos enden lassen. Ho Chi Minh füllte die Lücke und einte die nationalistischen, antikolonialen Organisationen unter dem Namen "Viet Minh", löste sogar zeitweise die kommunistische Partei auf, um die Bewegung auf eine breitere Basis stellen zu können. Gleichwohl zogen die Kommunisten die Fäden im Hintergrund. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges streckte Ho Chi Minh, der nun auch dauerhaft dieses Pseudonym führte, seine Fühler Richtung USA aus und erhielt Waffen und Munition für den Kampf gegen Japaner und Vichy-Franzosen. Zwar rief Ho im September 1945 in Hanoi die Republik Vietnam aus und wurde damit zum Symbol der Revolution, zwar verbeugte er sich in seiner Antrittsrede als Staatspräsident vor den USA und Frankreich - dennoch konnte er trotz diplomatischer Bemühungen die Kriege gegen Frankreich und später die USA nicht verhindern. Ho Chi Minh ist, wie praktisch alle kommunistischen Führer des 20. Jahrhunderts, ein Überlebender, ein Übriggebliebener der Verfolgung, der Verfolgung durch die Feinde und, viel schlimmer, durch die eigenen Leute. Auch Vietnam hatte seine blutigen "Säuberungen", seine mörderischen Umerziehungslager, seine Kollektivierung, seine Flüchtlinge, seine Morde an angeblichen "Volksfeinden". Der Autor bringt Ho Chi Minh nie in direkten Zusammenhang mit solchen Aktionen, kann aber auch keinen Beleg dafür finden, dass er sich mit Nachdruck dagegen gewandt hätte.

    In der Praxis zeigte sich, dass Ho Chi Minhs mäßigender Einfluss begrenzt war und es ihm auch an der nötigen Durchsetzungskraft sowie an Mut fehlte. Er blieb zwar eine wichtige Legitimationsquelle für die Kommunistische Partei, doch war 1951 ein Prozess eingeleitet worden, der Ho Chi Minh mehr und mehr auf seine symbolische Rolle als Ikone der Revolution beschränkte.

    So wurde Ho Chi Minh ein weltweit verehrtes beziehungsweise beschimpftes Symbol des zähen vietnamesischen Widerstandes gegen Franzosen, Japaner und Amerikaner. Seine Verdienste als Einiger der Nation sind unbestritten. Mutig war er gegenüber seinen Feinden, aber nicht gegenüber seinen Genossen. Der Autor Martin Großheim zeichnet eine leicht lesbare Biografie, hält sich an die wenigen verfügbaren verbürgten Daten und vermeidet es zu spekulieren. Privates über den Großmeister der Camouflage erfährt man - mangels Belegen - kaum. Dennoch gelingt es ihm, Leben und Legende voneinander zu trennen und zu erklären, warum Ho Chi Minh auch heute noch in Vietnam verehrt und besungen wird.

    Martin Großheim
    Ho Chi Minh. Der geheimnisvolle Revolutionär: Leben und Legende. C.H. Beck, 190 Seiten, 12,95 Euro
    ISBN: 978-3-406-62208-3