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OB-Wahl
Auf Stimmenfang in Tübingen

Am 19. Oktober wählen die Tübinger ihren neuen Oberbürgermeister. Seit acht Jahren steht der Grüne Realo Boris Palmer an der Spitze der Stadt. Doch jetzt fordert ihn Beatrice Soltys, gelernte Maurerin mit DDR-Geschichte, heraus. Unterstützt wird sie dabei von CDU und FDP.

Von Michael Brandt | 17.10.2014
    Boris Palmer, Oberbürgermeister Tübingen (Bündnis 90/Die Grünen), aufgenommen am 26.09.2013 während der ZDF-Talksendung "Maybrit Illner" zum Thema: "Zum Regieren verdammt - in der Not hilft nur Schwarz-Rot?" im ZDF-Hauptstadtstudio im Berliner Zollernhof
    Am 19. Oktober stellt sich Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen) in Tübingen zur Wiederwahl. (picture-alliance / dpa-ZB / Karlheinz Schindler)
    Wochenmarkt in Tübingen. Auf dem mittelalterlichen Marktplatz vor dem historischen Rathaus gibt es Obst und Gemüse aus der Region, Honig aus der Provence, Oliven aus der Toskana und in diesen Tagen auch Erinnerungen an einen, der hier bis vor 10 Jahren seinen Stand hatte: Helmut Palmer, genannt Remstalrebell, Vater des heutigen Oberbürgermeisters und gestrenger Obstverkäufer.
    "Ich bin verseckelt worden, weil ich bei meinem Einkauf es gewagt habe, die Ware anzufassen." - "Ja, der hat mich mal angeschissen am Marktstand, weil ich seine etwas angeschlagenen Äpfel nicht wollte, da hat er mich angeschnauzt und gesagt: Die werden auch genommen."
    Der Marktverkäufer und seine Kundin erinnern sich an den Obstbauern aus dem Remstal und die Reden, die er geschwungen hat, genau da, wo sie gerade stehen.
    Politik fing für Helmut Palmer bei den Äpfeln an: Wer ohne Einkaufskorb an seinen Stand kam und Äpfel wollte, bekam eine verbale Abreibung, denn Tüten kosten erstens Geld und schaden zweitens der Umwelt.
    Und auch sein Sohn, der Grüne Realo Boris Palmer, der am Sonntag nach acht Jahren als Oberbürgermeister von Tübingen wiedergewählt werden will, macht mit Äpfeln Politik. Er steht an diesem Morgen einen guten Kilometer vom Marktplatz und Rathaus entfernt vor der Mensa.
    "Äpfel zur Wahl!"
    Boris Palmer steht neben fünf Apfelkisten und bietet allen Mensagängern einen Apfel an, kostenlos, was sein Vater nie gemacht hätte, aber der Alte bleibt dennoch gegenwärtig:
    "Apfel zu Wahl " - "Aber wer weiß, wer Angst hat vor den Bazille, der soll sich gleich umbringen." - "Guten Appetit."
    Ein kleines Zögern, dann lachen Oberbürgermeister und sein Gesprächspartner. Der hätte auch anders reagieren können, aber am Ende hat er doch gelacht - und wenn man Boris Palmer nach seiner direkten Art fragt, antwortet er: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
    "Dass ich seit ich sieben oder acht Jahre alt war, auf dem Wochenmarkt gelernt hab, mit den Leuten zu reden, auch die Sprache der Leute verstehe, das Schwäbische beherrsche, die offene Art des Zugangs schätze, das ist sicher durch meine eigene Biografie und das Lernen von meinem Vater erklärbar."
    Wahlkampf in der Fußgängerzone
    Ganz ohne Äpfel geht es wieder ein paar 100 Meter weiter in der Tübinger Fußgängerzone zu. Hier hat sich Beatrice Soltys aufgebaut, Baubürgermeisterin aus Fellbach, gebürtig in Mecklenburg-Vorpommern und daher ohne jeden schwäbischen Zungenschlag und sie drückt den Menschen ihr Wahlprogramm in die Hand:
    "Einen wunderschönen guten Morgen, Beatrice Soltys, haben Sie schon ein Wahlprogramm von mir?"
    Viele verzichten auf das Wahlprogramm, aber die Meisten schauen sich die Frau mit der Kurzhaarfrisur, streng geschminkten Augenbrauen und flachen Schuhen, die den Palmer herausfordert, doch zumindest interessiert an, - und in diesem Fall einer älteren Dame, die ihren Rollator die Gasse raufschiebt, auch ein bisschen kritisch:
    "Am Sonntag ist Wahl, gell?" - "Ja am Sonntag ist Wahl. "Und Sie wollen zum zweiten Wahlgang antreten?" - "Natürlich, das ist ein demokratisches Wahlverfahren, es ist ja wohl selbstverständlich, dass man da antritt." - "Zumindest, wenn man da in den vorderen Rängen ist."
    Beatrice Soltys, gelernte Maurerin mit DDR-Geschichte, die dann Architektur studiert hat, war bis vor ein paar Wochen in Tübingen völlig unbekannt, wird inzwischen aber von CDU und FDP unterstützt.
    "Letztendlich das, was entscheidend sein wird, ist die Persönlichkeit. Und das bekomme ich auch als Rückmeldung von den Bürgerinnen und Bürgern."
    Persönlichkeit statt Inhalte
    Soltys setzt in ihrem Wahlkampf klar auf Persönlichkeit, und verzichtet dementsprechend auf politische Akzente. Ihr Wahlprogramm bleibt wenig konkret. Nur in einem Thema unterscheidet sie sich klar von Boris Palmer. Sie will mehr und günstigere Parkplätze in und um die Altstadt. - Und damit hat sie sich Freunde beim Einzelhandel gemacht.
    "Und weshalb nicht abends und an den Wochenenden generell kostenlos. Brötchentaste, das heißt die erste Stunde ist umsonst."
    Sabine Lüllich, große Brille, platinblonde Stehfrisur, verkauft zwischen Marktplatz und Stiftskirche Klamotten, stimmt der Kandidatin zu und wünscht sich endlich Gleichberechtigung für Auto- und Fahrradfahrer:
    "Herr Palmer mag keine Autofahrer. Am Ende vom Tag ist er schon schlecht für's Geschäft, denn es gibt ja auch Studien, die wo aussagen, dass ein Autofahrer mehr ausgibt, wie ein Radfahrer."
    Ein paar Häuser weiter in einem Kurzwarengeschäft, das sich seit fast 100 Jahren in Tübingen hält, klingt es ähnlich.
    "Also die Verkehrspolitik ist eine Zumutung, eine richtige Zumutung."
    Aber vom Verkehr und den Baustellen, für die der OB nicht viel kann, abgesehen, fällt den Damen im Kurzwaren nicht viel ein, was der Boris falsch gemacht hat. Tübingen hat sich in den vergangenen 8 Jahren prächtig entwickelt. Wirtschaftskraft, CO2-Verbrauch, Kinderbetreuung, Sozialbauwohnungen, fast in allen Disziplinen ist die Universitätsstadt gut bis spitze, und da widerspricht die langjährige Verkäuferin im Kurzwarengeschäft sogar ihrer Chefin, mit einem Seitenblick auf die Nachbarstadt Reutlingen
    "Weil in Tübingen immer der Geist gehockt ist und in Reutlingen das Geld. Und inzwischen ist es so, dass in Tübingen sowohl der Geist hockt wie auch das Geld. Und des hem mir dem Palmer zu verdanke."
    Aber schnell kommt das Gespräch zwischen Knöpfen und Wollknäuel zu der Frage, warum eine verhältnismäßig unbekannte Gegenkandidatin sich doch eine Chance ausrechnet, zumindest in einen zweiten Wahlgang zu kommen. Palmers direkte Art, die Bazillen am Apfel:
    "Des isch oifach nur seine Art, nicht gar so hochnäsig, ein bisschen mehr bürgernah." - "Viele Freunde sind deswegen total abgeneigt, weil er so eine arrogante Art hat." – "Seine Beliebtheit hat deutlich abgenommen."
    Ein Apfel für klare Positionen
    Aber es gibt auch die, die Palmers direkte Art schätzen. Vielleicht sei er das ein oder andere Mal zu schnell, wenn er einen Kommentar über Facebook poste, aber im Grunde passe er zu Tübingen
    "Das finde ich auch gerade gut, ein bisschen verrückt, das brauchen wir heutzutage." - "Ich hab lieber jemand mit Ecken und Kanten, mit dem man diskutieren kann."
    Boris Palmer steht derweil noch vor der Mensa und versucht, die leckeren Äpfel an den Mann zu kriegen. Dass sich die Menschen nicht für Politiker Interessieren, sei er ja schon gewohnt, sagt er, aber für Äpfel?
    "Ich gebe schon zu, dass es mich freuen würde, wenn der Apfel um diese Jahreszeit etwas mehr Nachfrage finden würde. Dass viele vorbeilaufen, obwohl er nichts kostet, ist für mich ein bisschen wunderlich und familiär sogar schmerzlich."