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Obdachlose Frauen in Frankreich
Ein gnadenloser Überlebenskampf

Anne Lorient hat 17 Jahre lang in Paris auf der Straße gelebt: Gewalt, Einsamkeit und Prostitution waren ihr Alltag. Jetzt engagiert sie sich in der Obdachlosenhilfe. "Die Leute wissen nicht, dass es so viele Frauen sind", sagt sie. Vor allem geheime Geburten seien ein Tabu.

Von Margit Hillmann | 03.05.2018
    Die Obdachlose Maryse Dumas in Paris.
    Eine Obdachlose Frau in Paris (imago i Images)
    In den Räumen eines kleinen Pariser Vereins sitzt ein Dutzend ehrenamtliche Frauen und Männer im Halbkreis. Vor ihnen steht eine unscheinbar wirkende kleine Frau, Ende vierzig, Jeans und weiter Pullover. Sie ist gekommen, um die Vereinsmitglieder für die Arbeit mit obdachlosen Frauen zu coachen: Wie sie die Frauen finden, denen man ihre Obdachlosigkeit nur selten ansieht. Welche Hilfen obdachlose Frauen am dringendsten benötigen. Und dass die Frauen lieber in einem Straßenversteck schlafen, als in den staatlichen Nachtasylen, die Männer und Frauen meistens gemischt unterbringen.
    Anne Lorient kennt sich aus. Sie ist nicht nur erfahren in der Obdachlosenhilfe. Sie hat selbst siebzehn lange Jahre in Paris auf der Straße gelebt.
    "Als obdachlose Frau wird man zur sexuellen Beute"
    "Obdachlose sind einem gnadenlosen Überlebenskampf ausgesetzt", sagt Anne Lorient, als sie sich im Café nebenan einen Tee bestellt. Für obdachlose Frauen sei das Leben auf der Straße aber noch sehr viel härter.
    Sie erzählt: "Für eine Frau ist das Leben auf der Straße völlig anders als für einen Mann. Das fängt schon mit Problemen an, die Männer nicht haben: Wenn Frauen ihre Regel haben, keine Tampons oder Binden und sich nicht waschen können. Oder Schwangerschaftsverhütung, Abtreibungen. Vor allem aber wird man als obdachlose Frau zur sexuellen Beute."
    Sexuelle Gewalt drohe den Frauen in erster Linie von Männern, die wie sie auf der Straße leben. Es gilt das Recht des Stärkeren, und die Frauen sind das schwächste Glied in der Kette, sagt Anne Lorient.
    "Man wird von den anderen Obdachlosen vergewaltigt. Sie kommen oft zu dritt oder zu viert. Du hast keine Chance, dich zu verteidigen. Und zeigst du sie hinterher bei der Polizei an, wirst du von ihnen zur Strafe gleich wieder vergewaltigt. Also hält man den Mund. Es ist ein Teufelskreis."
    Ihr Schicksal hat Aufmerksamkeit erregt
    Anne Lorient, die mit gerade 18 Jahren auf der Straße gelandet ist, wurde gleich in der ersten Nacht vergewaltigt. Das war nur der Anfang, sagt sie. In siebzehn Jahren wurde sie über siebzig Mal vergewaltigt. Ihr Ton ist nüchtern – fast gelassen, wenn sie von dem langen Albtraum erzählt, den sie auf der Straße erlebt hat: Gewalt, Einsamkeit, die Angst, verrückt zu werden, aus Mülltonnen essen, Straßenprostitution und brutale Zuhälter, die ihr das Geld gleich wieder abnehmen und dazu ständig Krankheiten. Frauen, die auf der Straße leben, sind permanent im Alarmzustand. Eine Angst, die sie immer schwächer macht und isoliert, sagt die Ex-Obdachlose. Da wieder herauszukommen, sei unglaublich schwer.
    "Ich habe gar nicht mehr versucht, von der Straße zu kommen, nur mich dort zu schützen, mich besser zu fühlen – trotz der Gewalt, der Kälte und so weiter", erzählt Anne Lorient. "Es waren zwei Welten für mich, die nichts miteinander zu tun haben: die Welt der normalen Leute und meine – die Welt der Ausgeschlossenen. Ich habe geglaubt, dass das Leben auf der Straße mein Schicksal ist."
    Seit 14 Jahren hat sie wieder ein Dach über dem Kopf, wohnt mit ihren beiden Söhnen in einer kleinen Pariser Sozialwohnung. Ihr altes Leben, die Menschen auf der Straße, konnte und wollte Anne Lorient nie vergessen. Schon nach kurzer Zeit hat sie begonnen, ehrenamtlich in der Obdachlosenhilfe zu arbeiten. Vor zwei Jahren hat sie gemeinsam mit einer Journalistin ein Buch über ihre Jahre als Obdachlose geschrieben. Es hat in Frankreich Aufmerksamkeit erregt. Damals haben viele Medien zum ersten Mal über Elend und Gewalt der Frauenobdachlosigkeit berichtet.
    Sie sagt: "Die Leute wissen, dass jede Menge Männer auf der Straße leben. Aber sie wissen nicht, dass es auch so viele Frauen sind und was sie durchmachen. Es überrascht und berührt sie. Gleichzeitig macht es ihnen Angst, sie wollen es nicht wirklich wissen. Das ist der Spiegeleffekt. Sie sagen sich: Wenn heute so viele Frauen und sogar Mütter mit ihren Kindern das Dach über den Kopf verlieren, dann kann es auch mir passieren."
    "Nicht hingehen, wäre für mich unterlassene Hilfeleistung"
    Noch immer ein großes Tabu, beklagt Anne Lorient, seien die klandestinen Geburten. Aus Angst davor, dass die Behörden ihnen das Kind wegnehmen, weigerten sich obdachlose Frauen immer wieder im Krankenhaus zu entbinden.
    "Sie kriegen die Kinder in einem Versteck auf der Straße, einer Tiefgarage oder in irgendeinem leer stehenden Gebäude – wo es gerade geht", so Lorient. "Weil sich unter den Obdachlosen herumgesprochen hat, dass ich vertrauenswürdig bin und schon bei Geburten geholfen habe, kontaktieren sie mich oft. Also gehe ich hin mit meiner Tasche, bringe ihnen auch gleich Windeln und Babykleidung. Nicht hingehen, wäre für mich unterlassene Hilfeleistung. Es ist besser, ich bin da."
    Einer der Vereine, mit denen Anne Lorient zusammenarbeitet, hat ihr eine Ausbildung für die Geburtshilfe finanziert. Aber wenn sie vor Ort feststelle, dass Komplikationen drohen, die Geburt zu gefährlich wird - sorge sie dafür, dass die Frauen ins Krankenhaus kommen. Ist es dafür schon zu spät, tue sie, was sie könne, sagt sie. Dann wird sie plötzlich still, schluckt.
    Wenn sie als Nothebamme hilft, bewegt sich die ehemalige Obdachlose hart am Rande der Legalität. Trotzdem scheut sie nicht davor zurück, öffentlich darüber zu sprechen und die fehlende Hilfe für schwangere Obdachlose zu kritisieren. Erst neulich wieder, auf einem Symposium, an dem auch Frankreichs Staatssekretärin für die Gleichstellung von Frauen und Männern und die Pariser Bürgermeisterin teilgenommen haben.
    "Ich beginne tatsächlich, zu glauben"
    "Ich weiß, was ich tue, warum ich das mache. Sollte ich deswegen Ärger mit der Justiz bekommen, werden sich die Vereine, mit denen ich arbeite, für mich mobilisieren."
    Ihre "barbarischen Jahre" - wie die 48-Jährige ihre Zeit als Obdachlose nennt – haben tiefe Wunden hinterlassen, aber keine Spur von Bitterkeit. Sie glaubt an Solidarität, an die Menschen. "Und", sagt sie, "neuerdings sogar ein bisschen an Gott".
    "Ich muss darüber lachen, aber ich beginne tatsächlich, zu glauben. Letzte Woche bin ich sogar zu einer Gebetswache gegangen. Ich kenne die katholischen Gebete und Rituale nicht, habe einfach auf meine eigene Art gebetet. Ich weiß nicht, ob ich wirklich glauben kann. Keine Ahnung. Aber wenn der Glaube Hoffnung gibt – Hoffnung ist immer gut."
    Glaube und Spiritualität motivierten viele ehrenamtliche Helfer. Leider gebe es auch konfessionelle Hilfsvereine, die von den Obdachlosen verlangten, dass sie beten, bevor sie ihnen zu Essen geben. Die sie wie sündige Kinder behandelten, versuchten, ihnen ihre Religion aufzudrücken. Anne Lorient sind sie ein Graus. Sie hat als Obdachlose ihre Hilfe abgelehnt und arbeitet auch heute nicht mit missionarischen Vereinen zusammen. Sie hofft auf eine erwachsene Gesellschaft, die Obdachlose – ob Frauen oder Männer - nicht länger als ein unvermeidliches oder lästiges Randphänomen wahrnimmt, sondern als Menschen mit Recht auf Würde.
    "Ich will, dass sich der Blick der Gesellschaft auf Obdachlose verändert. Dass die Leute begreifen: Obdachlose können es auch schaffen, sich wieder zu integrieren. Was mir früher immer gefehlt hat, war, dass mir jemand sagt: Es ist keine Schande. Was dir passiert ist, kann jedem passieren. Es ist wichtig, ihnen das zu sagen."