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Obdachlosigkeit
"Ich hatte 9 Cent, als ich losgelaufen bin"

An diesem Donnerstag kommt eine Dokumentation über vier Männer ohne festen Wohnsitz in die Kinos. Elvis, Matze, Peter und Sergej sind vier von Zigtausenden. "Draußen" erzählt von ihrem Leben auf der Straße und vom Leben davor.

Von Mechthild Klein | 30.08.2018
    Filmstill aus "Draußen" - zu sehen ist "Elvis" mit Cowboyhut
    Ein Jahr lang haben die Filmemacher für "Draußen" ihre obdachlosen Protagonisten begleitet - unter ihnen: Elvis aus Köln (Real Fiction Filmverleih / Thekla Ehling)
    Lärm ist sein ständiger Begleiter: Elvis lebt in Köln unter einer Brücke an einer viel befahrenen Straße. Aber er lässt sich nicht hängen, hat seine Prinzipien.
    "Hier kommen doch sehr viele Leute mit Autos, oder Fußgänger. Da will ich nicht so ein Gekruschel da rumliegen haben. Das soll schon ordentlich sein, dass die Leute sehen, aha, da lebt einer auf der Straße, hält Ordnung, hält seine Ecke sauber."
    Elvis ist Ordnungsfanatiker, Kleidung und Schlafsack legt er sorgfältig auf Kante. Der 71-Jährige trägt Cowboy-Stiefel, einen schwarzen Hut und viele Ringe an den Fingern. Er ist einer der Protagonisten aus dem Dokumentar-Film "Draußen", der heute in die Kinos kommt.
    Haferflocken für einen Euro
    "Ich hatte 9 Cent, als ich losgelaufen bin. Ansonsten hab ich gelebt von dem, was man so gefunden hat und man findet so einiges, Pfandflaschen hauptsächlich. … und so konnte ich mir meine Haferflocken am Tag leisten für einen Euro. Damit kann man schon mal leben."
    Auch Matze hat keine Wohnung mehr und lebt unter einer Plane abseits im Wald – ganz zurückgezogen. Sein persönlicher Besitz passt in einen Rucksack: selbstgemalte Vogel-Bilder, Messer, Überraschungseier und eine Sonnenbrille.
    "Ich fand den unsagbar berührend, weil hier vier Menschen gezeigt werden und porträtiert werden und nicht vier Obdachlose. Sie werden ihrer Uniformität der Obdachlosigkeit entkleidet und heraus kommen vier Menschen mit ihren Nöten und Sorgen und man ist ganz nah bei ihnen", sagt Birgit Müller, Chefredakteurin der Hamburger Straßenzeitung "Hinz&Kunzt". Vieles, was in dem Film gezeigt wird, kennt Müller seit 25 Jahren aus Ihrer Arbeit mit Obdachlosen in Hamburg - dort verkaufen 500 Wohnungslose ihre Straßenzeitung.
    Der Star tröstet
    Viele Menschen auf der Platte schämen sich für ihr Leben ohne Wohnung, oft verlieren sie das Vertrauen in andere Menschen.
    Birgit Müller: "Da ist zum Beispiel der Elvis, der schon ein Heimkind war, was übrigens bei uns auch ganz oft der Fall ist. Dass Obdachlose schon als Kinder keine Chance hatten und dann im Heim aufgewachsen sind. Da war mir der Elvis am nächsten einfach, weil ich das halt kenne."
    Elvis' Leben hätte ganz anders verlaufen können. Aber sein Vater gab ihn als kleinen Jungen ins Heim. Trotz Startschwierigkeiten fand er als junger Mann eine große Liebe. Er wollte heiraten, doch bei einem Verkehrsunfall starb seine Freundin. Das warf Elvis völlig aus der Bahn. Trost findet er bis heute in der Musik des Rock’n’Roll Sängers.
    Selbst schuld, reiß dich zusammen – diese Haltung schlägt Obdachlosen oft entgegen. Birgit Müller weiß aus ihrer Arbeit, dass viele Wohnungslose von alleine kaum aus ihrer Situation herauskommen, weil es sich oft um traumatisierte Menschen handelt.
    Sie sagt: "Bei einem Kriegsflüchtling ist da ja völlig klar, was der durchgemacht hat. Bei einem Obdachlosen ist es nicht unbedingt klar, dass der traumatisiert ist, das ist es noch nicht so anerkannt, weil es sich um Alltagstraumatisierung oft handelt. In dem Sinne von: in der Familie sind schlimme Dinge passiert – sonst würde man ja nicht ins Heim kommen."
    Versöhnung mit der Familie
    Müller bedauert, dass es für Obdachlose keine Therapiemöglichkeiten gebe. Viele wollten sich aber auch nicht helfen lassen. Manche verlassen ihre Familie und ihre Kinder, ohne sich zu verabschieden. Auch Peter erzählt im Film davon. Er war einst Punk, lebte früher von Kleinkriminalität, hatte mehrmals geheiratet. Vor kurzem nahm er sogar Kontakt zu einem seiner drei Kinder auf, beließ es aber dabei. Heute ist er alt, schämt sich für sein Leben auf der Straße, für Versäumtes, Misserfolge. Nur selten schafft es ein Obdachloser wieder dauerhaft Kontakt zur Familie aufzunehmen.
    "Es ist immer ganz toll, wenn Kinder und Eltern es wieder schaffen wieder zueinander zu finden", sagt Birgit Müller. "Das ist wirklich was Wunderbares, das haben wir auch gerade erlebt. Wir haben hier gerade einen Verkäufer gehabt, einen Hinz&Künzler, der zwei Jahre auf der Straße gelebt hat. Der einfach abgehauen war von seiner Familie."
    Birgit Müller, Chefredakteurin des Magazins "Hinz & Kunzt" am 24.01.2018 in Hamburg
    Birgit Müller ist Chefredakteurin des Straßenmagazins "Hinz & Kunzt" (dpa / Daniel Reinhardt)
    Seine Familie und seine Kinder hätten ihn lange nach ihm gesucht, berichtet Müller. "Haben ihn auf der Straße gefunden, hier in Hamburg. Und die Frau – unfassbar toll – hat ihm vorgeschlagen, dass sie sich regelmäßig treffen und wieder Kontakt aufbauen und inzwischen lebt er wieder mit seiner Familie zusammen. Und die vier machen eine Familientherapie und bekommen Hilfe und nehmen diese Hilfe an."
    Eine zweite Chance zu bekommen, davon träumen viele Menschen, die auf der Straße leben. Doch derzeit ist die Stimmung gereizt, viele stören sich an Obdachlosen, die in den Fußgängerzonen und U-Bahnhöfen liegen, betteln und sich mit Drogen betäuben. In Berlin hat in diesem Sommer die Straßenzeitung "Straßenfeger" Insolvenz angemeldet. Dabei gibt es viel zu berichten. Die Zahl der Obdachlosen steigt, unter ihnen sind viele, die als Arbeitsmigranten aus Osteuropa gekommen sind, aber keine oder nur eine sehr kurzfristige Beschäftigung fanden. In Berlin leben Schätzungen zufolge bis zu 10.000 Menschen auf der Straße. Manchmal ganze Familien.
    Geben und nicht geben
    In Hamburg sind es rund 2000 Menschen auf der Straße – auch hier kommen viele aus dem Osten der Europäischen Union, aus Bulgarien und Rumänien. Viele wollten in der Hansestadt arbeiten, sagt Müller, seien aber gescheitert. Solange sich niemand verantwortlich fühle, müsse man die Menschen vor einer Verelendung bewahren. Denn je länger jemand auf der Straße lebe, umso schwerer sei der Weg zurück, sagt Müller.
    Und was macht man als einzelner im Café oder in der S-Bahn, wenn Menschen permanent um einen Euro bitten? "Ich glaube, da muss man ganz nach Gefühl gehen, ich mach das auch so. …. Ich habe auch einen Menschen, der bettelt, den ich besonders gerne mag. Für den ich mir besonders oft was aufhebe, also Kleingeld oder so. ….Und ich wünsch mir, dass man dann sagt: Okay ich bin nicht für jeden verantwortlich, aber dem einen kann ich doch was geben und bei den anderen sage ich freundlich: nein danke."