Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Oberrabbiner von Moskau
"Gefahr, dass Leugnung des Holocausts zunimmt"

Veranstaltungen zum Gedenken an den Holocaust werden nach Ansicht des Oberrabbiners von Moskau, Pinchas Goldschmidt, immer wichtiger. Denn die Erinnerung müsse bald ohne Zeitzeugen bewahrt werden, sagte er im Dlf. Gleichzeitig werde die extreme Rechte in Europa stärker.

Pinchas Goldschmidt im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 23.01.2020
Pinchas Goldschmidt, Oberrabbiner von Moskau
Pinchas Goldschmidt ist Oberrabbiner von Moskau sowie Vorsitzender der Europäischen Rabbinerkonferenz (picture alliance/ Tagesspiegel/ Kai-Uwe Heinrich )
Das fünfte Welt-Holocaust-Forum in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel steht heute ganz im Zeichen der Erinnerung an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor fast 75 Jahren, am 27. Januar 1945. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird als erstes deutsches Staatsoberhaupt in Yad Vashem eine Rede halten. Im Interview schildert der Oberrabbiner von Moskau und Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner, Pinchas Goldschmidt, seine Sicht auf das Gedenken an den Holocaust.
Jörg Münchenberg: Herr Goldschmidt, wie wichtig sind solche Gedenkveranstaltungen? Was können sie leisten?
Pinchas Goldschmidt: Ich glaube, dass diese Gedenkfeiern und Veranstaltungen heute noch viel wichtiger werden als vor 10 oder 20 oder 30 Jahren. Die letzten Menschen, die am Holocaust gelitten haben und in Konzentrationslagern inhaftiert waren, sind gerade daran, unsere Welt zu verlassen, und der Holocaust geht in die Geschichte rein. Und damit wir es nicht vergessen, sind diese Veranstaltungen äußerst wichtig.
"Leute, die noch Nummern auf ihren Armen gehabt haben"
Münchenberg: Sie haben es eben angesprochen: Die Zeitzeugen, die damals noch selbst die Vernichtungslager erleiden mussten, die werden immer weniger. Irgendwann werden sie nicht mehr da sein. Was bedeutet das für die Erinnerungskultur?
Goldschmidt: In unserer Welt, wo die Wahrheit immer umstritten ist, wenn es immer eine alternative Wahrheit gibt, gibt es ja die Gefahr, dass die Leugnung des Holocausts, die Verringerung des Holocausts immer mehr stattfinden wird. Deshalb sind diese Veranstaltungen wie auch in Auschwitz, wie auch in Israel und in anderen Stätten in der Welt äußerst wichtig, um die Erinnerungen zu behalten.
Münchenberg: Jens-Christian Wagner, der Leiter der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, hat gesagt, mit dem Sterben der Zeitzeugen würde auch ein moralischer und politischer Schutzschirm für die Gedenkstätten wegbrechen. Wie sehen Sie das?
Goldschmidt: Ja, das ist wirklich so. Die Zeitzeugen haben uns immer daran erinnert, was geschehen ist. Wenn Leute, die noch Nummern auf ihren Armen gehabt haben, unter uns waren, wussten wir immer, dass der Holocaust ein Teil unserer Geschichte ist. Und das gibt es immer und immer weniger. Dieser Tag hat auch eine persönliche Natur für mich, weil meine Urgroßeltern Jakob und Maria (unverständliches Wort, Anmk. d. Red.) in Auschwitz ermordet wurden.
Eingang zur Gedenkstätte KZ Buchenwald.
Geschichte ohne Zeitzeugen - Neue Wege der Erinnerungskultur
Noch können Überlebende der NS-Zeit von ihren Erlebnissen persönlich berichten. Doch wie erinnern wir uns in Zukunft? Manche Historiker sehen im Schwinden der Zeitzeugen eine Chance für die Geschichtswissenschaft.
"Soziale Medien ein Grund für stärkeren Antisemitismus"
Münchenberg: Bleiben wir noch mal bei der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Da hat Herr Wagner auch berichtet, dass zum Beispiel Schüler immer mehr provokante Fragen stellen würden – jetzt nicht zwingend eine Leugnung des Holocausts, aber doch eine Relativierung. Wie schätzen Sie das ein? Ist die Hemmschwelle gesunken für eine antisemitische Haltung, oder zumindest für die Relativierung des Holocaust?
Goldschmidt: Wir wissen ja, dass heute in Deutschland wie in anderen verschiedenen europäischen Ländern die extreme Rechte wieder stärker wird. Und innerhalb von diesen Bewegungen gibt es die, die sagen, der Holocaust gehört zur Geschichte, wir haben genug und uns damit abgefunden, wir müssen einen Strich darunter machen und wieder neu anfangen, innerhalb der AfD und anderer Parteien auch.
Zweitens glaube ich, dass die sozialen Medien heute einen großen Grund für diesen stärkeren Antisemitismus und Relativismus gegenüber dem Holocaust verursacht haben. Die Informationen, die heute die Menschen durch diese sozialen Medien erhalten, sind überhaupt nicht redaktiert. Man kann von irgendeiner Neonazi-Webseite einen Artikel lesen und in der nächsten Sekunde einen Artikel von der "New York Times". Und die Leute, die behaupten, nichts von Politik zu wissen, glauben, dass die Informationen von beiden verschiedenen Quellen genau den gleichen Wert haben. Das ist ein Problem, denn wir glauben, dass die sozialen Medien nicht genug machen, um den Hass, Rassismus und Antisemitismus sowie auch Islamophobie und andere Arten von Hass zu halten. Zum Beispiel hat Facebook heute mehr als, glaube ich, zwei Milliarden Benutzer und es gibt innerhalb der Organisation, glaube ich, weniger als 2.000 Leute, die sich mit diesem Problem befassen.
"Jedes Kind in Europa soll einmal im Leben ein KZ besuchen"
Münchenberg: Nun sagen Untersuchungen auch, dass gerade viele jüngere Menschen vom Holocaust gar nichts mehr wissen. Es gibt in Deutschland zum Beispiel eine Debatte über verpflichtende Fahrten in Gedenkstätten. Ist das aus Ihrer Sicht auch ein wichtiger, ein richtiger Ansatz, oder wäre das ein richtiger Ansatz?
Goldschmidt: Ich glaube, dass jedes Kind in Europa Minimum einmal im Leben ein Konzentrationslager oder Vernichtungslager besuchen soll. Jeder Europäer soll wissen, dass Wissenschaft und Kultur nicht immer eine Bremse sein kann gegen den Hass und gegen den Rassismus.
Münchenberg: Herr Goldschmidt, Sie sind ja auch Präsident der Europäischen Oberrabbiner. Wenn Sie das mal aus der europäischen Perspektive beurteilen: Gibt es da Ihrer Ansicht nach oder Ihrer Kenntnis nach große Unterschiede, was das Absinken der Hemmschwellen oder auch eine direkte antisemitische Grundhaltung angeht?
Goldschmidt: Zwischen wem?
Münchenberg: Insgesamt, wenn Sie auf Europa und in den einzelnen Ländern gucken.
Goldschmidt: In verschiedenen Ländern versucht man, den Holocaust zu revidieren. Ich rede speziell von osteuropäischen Ländern, wo es nicht wie in den westeuropäischen Ländern zur Rechenschaft kam und man historische Kommissionen gebildet hat, um sich mit der Geschichte dieses Landes während des Holocausts zu befassen, wie zum Beispiel in der Schweiz, in Frankreich, in Holland. In verschiedenen Ländern versucht man, einfach die Vergangenheit zu verändern, zu vertuschen, und man schlägt sogar neue Gesetze vor, die sich mit der Geschichte befassen. Zum Beispiel in Litauen gibt es jetzt einen neuen Gesetzesvorschlag, dass offiziell Litauen nicht am Holocaust teilgenommen hat. Ich glaube, dass man in Litauen meint, dass so ein Gesetz nötig ist, das ist der größte Beweis dafür, dass Litauen nun wirklich mitmachte und auch die litauische Regierung wie auch die litauische Polizei und die Bürger am Holocaust mitgemacht haben und die Mehrzahl von den 220.000 jüdischen Bürgern in Litauen ermordet haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.