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Oblomow-Renaissance, jetzt auch in Köln

Einhundertfünfzig Seiten braucht es, bis Ilja Iljitsch Oblomow das erste Mal aus seinem Bett aufsteht. Kein Stoff, der dringend danach ruft, auf die Bühne zu kommen. Der lettische Starregisseur Alvis Hermanis hat es in Köln dennoch versucht.

Von Dorothea Marcus | 12.02.2011
    "Nein, nein, ich geb' Ihnen nicht die Hand. Sie kommen aus der Kälte. Ja, muss man denn aufstehen? Bei so feuchtem Wetter? Draußen sieht's nach Regen aus.Kein Wölkchen ist am Himmel, weil der Schmutz auf Ihren Fenstern so fingerdick ist!"

    Russischer könnte das Zimmer wohl kaum sein, in dem Oblomow sein Leben fristet: bis hin zu Stuckverzierung, Samowar und gusseisernem Ofen ist die Bühne detailverliebt im Stil des 19. Jahrhunderts eingerichtet, als wär's ein Bild von Spitzweg. Oder besser von Ilya Repin, um bei den Russen zu bleiben.

    Schmuddelig ist es bei Oblomow, die Wände grau angelaufen, der Staub fliegt in großen Wolken, in das schmutzige Fenster fällt mühsam das Morgenlicht herein. Direkt neben seinem Herrn schläft Diener Sachar und stolpert mühsam und krächzend seiner Arbeit hinterher. Grotesk ausgestopft sind die Protagonisten unter ihrer Kleidung, denn schlank macht dieses Lotterleben nicht gerade. Oblomow wird von dem Letten Gundars Abolins gespielt, mit hoch verstellter Stimme, blonden Locken und Schläfenbart. Wegen seines Akzents ist er oftmals kaum zu verstehen - und verkörpert Oblomow doch als entrückt-groteske Figur wie herausgefallen aus dem Lebenskarussell.

    Alvis Hermanis hat den 800-Seiten-Roman weitgehend auf seine Dialogpassagen reduziert, und das funktioniert erstaunlich gut. Nur allein der Traum, im Roman immerhin eine Schlüsselstelle von 60 Seiten, in dem Oblomows Kindheit dargestellt wird, ist ärgerlich verkürzt. Er reduziert sich auf den Auftritt eines kleinen Jungen, der monoton, ohne jede Betonung vorliest, wie alle im Gut schlafen und Oblomow neugierig und wach einst die Welt erkunden wollte.

    Doch es geht bei Hermanis eben nicht um eine psychologische Erklärung von Oblomows heutigem Zustand, das könnte nur stören bei seiner pittoresken Bebilderung des bleiern-verstaubten Stillstands in Russland, fünfzig Jahre vor der Oktoberrevolution. Eigentlich könnte alles so weitergehen. Wenn nicht Stolz, der Jugendfreund und hyperaktive Gegenentwurf zu Oblomow, noch einen letzten Versuch wagen würde, diesem Leben eine Wendung zu geben:

    "Erzähl! Mit wem triffst Du dich? Mit wem verkehrst Du? Keine Bücher, ich seh' keine Bücher? Was liest Du? Alles staubig, sag mal, die Seite auf der du stehen geblieben bist, ist verschimmelt! Was machst Du denn den ganzen Tag? Man muss doch diesen Schlaf von sich abschütteln!"

    Und so kommt nach der Pause dann doch noch so etwas wie Leben auf. Jugendfreund Stolz, Prototyp des neuen, ehrgeizigen und arbeitsamen russischen Menschen, bringt Oblomow vor einer Fototapete mit Olga zusammen. Großartig wird sie verkörpert von Dagmar Sachse in roten Korkenzieherlöckchen, weißem Reifrock und üppig-berechnender Kindlichkeit. Doch es ist eben nur eine Fototapete: alles, was außerhalb des Bettes geschieht, ist für Oblomow letztlich nur eine Kulisse.

    Zweimal allerdings steht ein riesenhafter, raschelnder Busch von echtem Flieder für den Einbruch des Existenziellen: einmal, kurz bevor Oblomow Olga einen echten Heiratsantrag macht - der später schmächlich zurückgezogen wird. Und einmal, als Oblomow nach verschiedenen Schlaganfällen vereinsamt zwischen seinen alten Dienern stirbt. Zum Schluss geschieht Hermanis einzige Umdeutung des Romans: Stolz legt sich in Oblomows verwaistes Bett. In uns allen steckt eben doch manchmal die Sehnsucht nach Weltverweigerung. Warum sich immerzu an der Vergeblichkeit des Lebens abstrampeln.

    Es gibt wunderbar absurde Momente an diesem Abend, der einen ganz eigenen Kosmos schafft. Momente, an dem man mit Oblomow in sein Bett kriechen möchte, ihn in sein Herz schließt, weil er unser aller heimliche Sehnsucht nach Stille in all dem Lärm verkörpert. Alvis Hermanis, der in Köln schon großartige, dokumentarische und aktuelle Arbeiten entwickelte, ist mit "Oblomow" zu seinen frühen Wurzeln zurückgekehrt. Seine Inszenierung erinnert an seinen "Revisor" von Gogol, mit dem er vor rund zehn Jahren in Europa bekannt wurde. Und doch kämpft sie sichtlich mit der Akustik der Kölner Schauspielhalle Kalk und dem Stoffmassen des Romans. Wichtige Elemente wie etwa Oblomows Jugend, die spätere Hochzeit und die Geburt seines Sohnes kommen gar nicht vor, was der Geschichte Tiefe entzieht. Und so wird das Publikum einem Kampf auch gegen die eigene Schläfrigkeit überlassen. Es ist die elegische, melancholische, sinnliche Darstellung einer Weltverweigerung. Doch eine einzige Zustandsbeschreibung über nahezu vier Stunden - das ist irgendwie zu wenig.