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Odenwaldschule
Mehr Missbrauchsfälle als angenommen

An der Odenwaldschule hat es über Jahrzehnte möglicherweise viel mehr Missbrauchsopfer und -täter gegeben als bislang angenommen. Zwei vom Land mitfinanzierte Studien beziffern das Dunkelfeld auf 500 bis 900 Opfer. Erstmals entschuldigt sich das Hessen bei den Betroffenen.

Von Ludger Fittkau | 26.02.2019
Weiter massiv in der Kritik: Die Odenwaldschule (OSO) in Ober-Hambach bei Heppenheim.
Die Odenwaldschule im südhessischen Ober-Hambach (picture alliance / dpa / pdh-online.de)
Das Ausmaß des Missbrauchsskandals an der Odenwaldschule macht Kai Klose ziemlich sprachlos. Der erst vor wenigen Wochen ernannte grüne Sozialminister des Landes Hessen ist selbst ausgebildeter Lehrer. Bei einer seiner ersten Pressekonferenzen im neuen Regierungsamt stellte er nun zwei neue Studien zur Odenwaldschule vor, die maßgeblich vom Land Hessen mitfinanziert wurden. Auch deswegen, weil staatliche Jugendämter, für die Klose jetzt zuständig ist, immer wieder Kinder in der Schule untergebracht hatten.
Damit hat auch der Staat von den 1960er- bis weit in die 1990er-Jahre hinein immer wieder Kinder den Sexualstraftätern an der Odenwaldschule zugeführt. Kai Klose:
"Es ist natürlich erschütternd, dass ein vielhundertfacher sexueller Missbrauch an einer schulischen Einrichtung stattfinden konnte über so viele Jahre und Jahrzehnte quasi unter den Augen der staatlichen Obhut. Deswegen haben wir entschieden, dass wir die Opfer um Verzeihung bitten wollen für das, was ihnen widerfahren ist und woran der Staat auch Mitschuld trägt."
Dunkelfeld der Opfer "zwischen 500 und 900"
Es sei nach Jahrzehnten das erste Mal, das ein hochrangiger Politiker Hessens sich für die Taten in der auch vom Staat mitfinanzierten Schule entschuldigt. Das sagt am Telefon in Ulm Sabine Pohle. Sie ist Vorsitzende des Vereins "Glasbrechen", in dem sich Betroffene sexualisierter Gewalt an der Odenwaldschule organisiert haben:
"Es ist natürlich eine Anerkennung der Vorfälle, die ja bisher häufig bestritten wurden - in der Intensität nicht anerkannt wurden."
Staatliche Jugendämter und Schulbehörden haben viele Jahre lang ihre Aufsichtspflicht verletzt, so ein Ergebnis der aktuellen Studien. Im Falle eines heute noch lebenden Haupttäters hätte sogar eine Staatsanwaltschaft bei der Vertuschung der Verbrechen in der Odenwaldschule mitgewirkt, so einer der unabhängigen Gutachter, die im Auftrag des Landes Hessen tätig waren. Auch sei die Zahl der Opfer viel höher als bisher bekannt, so Hessens Sozialminister Kai Klose:
"Die unabhängigen Gutachter jetzt sind der Auffassung, dass das Dunkelfeld auch noch wesentlich höher sein muss, und rechnen mit einer Zahl zwischen 500 und 900. Und auch mit mehr Täterinnen und Tätern als bisher bekannt."
"Die sind zornig - zu Recht"
Die Zahl der Täter liegt laut der aktuellen Gutachten bei etwa zwei Dutzend. Darunter waren auch einige Frauen.
Der Journalist Tilman Jens war einst Schüler der Odenwaldschule. Er wurde zwar nicht selbst Opfer des massenhaften sexuellen Missbrauchs, der an der Schule jahrzehntelang stattfand. Doch nach 2010, als man nach vielen vergeblichen Anläufen vorher erstmals den Skandal systematischer aufzuarbeiten versuchte, engagierte sich Tilman Jens für die Aufarbeitung. Auch weil er damals in Versammlungen spürte, wie groß die Sehnsucht der Opfer war, nach Jahrzehnten der Vertuschung endlich Gehör zu finden:
"Opfer, die auf einmal sagen: Jetzt endlich hört ihr uns zu. 1999 wurde es schon mal bekannt, dann wurde wieder der Deckel des Schweigens drüber gestülpt. Die sind zornig – zu Recht. Die wollen Gehör, die wollen ernst genommen werden. Und die Schule hat das letztlich nicht leisten können."
Deshalb wurde die Odenwaldschule nach über 100 Jahren ihres Bestehens letztlich vor dreieinhalb Jahren endgültig geschlossen. Erste Hinweise auf die Missbrauchstaten wurden bereits Ende der 1960er-Jahre "schulöffentlich", so die Gutachter heute. Damals hätten zwar bis zu 20 Opfer die Schule verlassen. Viele Eltern hätten jedoch die Schilderungen ihrer Kinder nicht ernst genommen, so der hessische Sozialminister Kai Klose:
"Wir haben es ja damit zu tun, dass immer wieder auch Schülerinnen und Schüler sich getraut haben, diese Dinge öffentlich zu machen, dass ihnen aber kein Gehör geschenkt wurde. Das finde ich eigentlich besonders tragisch."
Nur drei Länder an Entschädigungsfonds beteiligt
Hessen ist auch aus Sicht der Missbrauchsopfer im Vergleich der Bundesländer bereits relativ weit bei der Aufarbeitung der Missbrauchsskandale im Land – wie den systematischen sexuellen Misshandlungen an der südhessischen Odenwaldschule. Hessen grüner Sozialminister Kai Klose kritisiert wie der Opferverein "Glasbrechen", dass neben Hessen bisher nur zwei weitere Bundesländer sich am gemeinsamen Entschädigungsfonds beteiligen, der beim Missbrauchsbeauftragten des Bundes eingerichtet wurde:
"Ich finde das sehr bedauerlich, das bisher 13 weitere Bundesländer an der Stelle bisher keinen Schritt machen".
Der Verein "Glasbrechen" erhofft sich aber vor allem vom Land Hessen Unterstützung für eigene, ehrenamtliche Arbeit. Auch für die Idee, auf dem nun privatisierten Gelände der Odenwaldschule ein kleines Museum einzurichten, in dem auch die Geschichte des Skandals aufgearbeitet wird. "Glasbrechen" –Vorsitzende Sabine Pohle:
"Es ist ja sicherlich noch nicht alles in der Odenwaldschule belegt. Und da lässt sich sicher noch ein Weg finden. Sofern eben auch das Land Hessen bereit ist, sich da in irgendeiner Form daran zu beteiligen".